Chile | Nummer 284 - Februar 1998

Nadelstiche gegen Pinochet

Parteigefechte nach den Parlamentswahlen

Anfang Januar, kurz nach den Parlamentswahlen im Dezember, haben fünf Abgeordnete der Democracia Cristiana (DC) überraschend eine Verfassungsklage gegen den militärischen Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte und ehemaligen Diktator Augusto Pinochet eingereicht. Angeprangert wurden aber nicht seine früheren Verletzungen der Menschenrechte, sondern die Verletzung der Ehre des Vaterlandes. Mit dieser Klage haben sie vor allem innerhalb der Regierung gehörig für Unruhe gesorgt. Doch die Aussichten auf Erfolg stehen schlecht.

Sandra Grüninger, LN

Am 11. März läuft Pinochets
Amtszeit als militärischer Oberbefehlshaber aus. Der General hat sich bereits ein Luxus- Apartment im Nobel-Badeort Viña del Mar gekauft, um danach als Senator auf Lebenszeit im benachbarten Valparaiso an den Sitzungen des Senats teilnehmen zu können. Dieses einflußreiche Pensionärsamt wurde durch die Verfassungsänderungen von 1989, die zwischen der chilenischen Militärregierung und dem Parteienbündnis der Concertación ausgehandelt wurden, ermöglicht. Es ging den Militärs in erster Linie darum, die politische Präsenz von General Pinochet für die kommenden Jahre zu sichern, während die Concertación einen möglichst friedlichen Übergang zur Demokratie suchte. So wurden Vereinbarungen getroffen, die es dem ehemaligen Chef der Militärregierung erlauben, heute, zehn Jahre nach der Volksabstimmung, in der sich die Mehrheit der Chilenen gegen eine Fortführung der Pinochet-Regierung ausgesprochen hat, auf Lebenszeit einen Sitz in der Volksvertretung, dem Kongreß, zu übernehmen.
Es gab Proteste aus Teilen der Bevölkerung gegen diese in der Verfassung verankerte Vereinbarung, doch wirksam dagegen angehen läßt sich nur mit einer Verfassungsklage. So kann einem Chilenen für fünf Jahre das Recht auf Ausübung öffentlicher Ämter aberkannt werden, wenn er durch sein Verhalten Ehre und Ansehen der Nation geschädigt hat. Und genau dies haben die fünf Abgeordneten der Democracia Christiana (DC) Pinochet vorgeworfen. Selbst die Streitkräfte, deren oberste Generäle sich zu einer Krisensitzung getroffen haben, schreckte der Wirbel auf.
Als unangebracht und ungerechtfertigt werden Zeitpunkt und Art des Vorstoßes vom Generalsekretär des Präsidenten, Brunner, bezeichnet. Auch innerhalb der Concertación sind die Meinungen gespalten. Die PPD (Partido por la democracia) ist bereit, die Klage im Kongreß mitzutragen, und die Sozialisten (PS) sagten Unterstützung zu, unter der Voraussetzung, daß alle Fraktionen innerhalb der Concertación am gleichen Strang ziehen. Es hängt also von den Parteikollegen der fünf DC-Abgeordneten ab, wie es mit der Anklage weitergeht. Doch die christdemokratische Partei fühlt sich überrollt und kritisiert vor allem, daß der Vorstoß nicht vorher abgesprochen wurde. Sie erwägt nun sogar Disziplinarmaßnahmen gegen ihre aufmüpfigen Parteigänger. Es gibt Gruppierungen innerhalb der Christdemokraten, die sich schwer tun, lauthals gegen Pinochet vorzugehen, existieren doch Erwägungen, die Concertación in Zukunft nach rechts zu erweitern. Ob Pinochet seit dem 11. März 1990 in seiner Eigenschaft als oberster Militärchef die Ehre und das Ansehen der Nation schwerwiegend in Mitleidenschaft gezogen hat, darüber werden die Abgeordneten in verschiedenen Instanzen zu beraten haben. Es ist jedoch zu erwarten, daß die Klage spätestens im Senat ausgebremst wird, der dank der von amtswegen ernannten Senatoren fest in der Hand der konservativen Pinochet-Parteigänger ist. Was die DC-Politiker mit dieser Klage jedoch erreichen können, ist, daß Pinochets Eintritt in den Senat nicht so leise und reibungslos wie geplant über die Bühne geht. Denn wenn mindestens zehn Abgeordnete die Klage im Parlament präsentieren, darf Pinochet das Land nicht mehr verlasssen. Wird die Klage von einer einfachen Mehrheit der Abgeordneten anerkannt, wird Pinochet automatisch aller öffentlichen Ämter enthoben. Innerhalb von dreißig Tagen entscheidet dann der Senat, ob der Klage entsprochen wird oder nicht. Und so könnte Pinochet einen Monat lang ohne jegliches öffentliches Amt bleiben. Damit beantwortet sich auch die Frage: Warum gerade jetzt? Und warum auf diese Art und Weise? Pinochet ist seit acht Jahren im Amt, und seine letzten Kommentare unterscheiden sich nicht großartig von vorangegangenen.
Dennoch besteht nun die letzte Gelegenheit, ihm ein Bein zu stellen und ihn dadurch wohl nicht zu Fall, aber doch zum Stolpern zu bringen. Er verfüge über Informationen über zwei seiner neuen Kollegen im Senat – Sergio Bitar (PPD) und José Antonio Viera Gallo (PS) – und wenn diese sich gegen ihn äußern, würde er diese Dokumente nutzen, drohte Pinochet am 27. Dezember. Genau das wird ihm jetzt als Verletzung der Ehre des Landes ausgelegt. Für sinnvoller und effektiver hielten jedoch viele Juristen, eine Klage zu erheben, weil Pinochet nicht vom Volk zum Präsidenten gewählt wurde und so auch in der Volksvertretung nichts zu suchen habe. Eine Gegenreaktion auf die Klage ließ auch nicht lange auf sich warten: Bruno Siebert, Senator der Renovación Nacional (RN) und ehemaliger General, erklärte, daß die Abgeordneten mit dieser Anklage schwerwiegend mit der Ehre und der Sicherheit der Nation spielten, und dafür müßten auch sie wiederum angeklagt werden. Denn klar ist, daß es – sofern der Klage gegen Pinochet stattgegeben wird – schwierig sein wird, einen Ersatz für Pinochet als militärischen Oberbefehlshaber für zwei Monate zu finden, bis der bereits ernannte Oberbefehlshaber sein Amt im März antreten wird. Und so spaltet Pinochet einmal mehr das Volk der Chilenen, das die Concertación so mühsam zu einen versucht. Während die Rechte (innerhalb derer bei den Wahlen im Dezember die Pinochetisten die deutliche Mehrheit davongetragen haben) selbstverständlich froh ist, im Senat neben den konservativen, von amtswegen ernannten Senatoren auch noch Rückendeckung durch Pinochet höchstpersönlich zu bekommen, kündigen die Kommunisten an, ihre politische Partizipation außerhalb des Parlaments auf der Straße zu verstärken und Pinochet auf keinen Fall als Senator auf Lebenszeit zu akzeptieren. Ein Moment der Verhärtung der extremen Positionen, der zu einer noch stärkeren Polarisierung der Gesellschaft führen dürfte. Und damit ist auch eine Zunahme der Gewalt zu befürchten. Auch wenn ein erneuter Putsch heute kein Thema mehr ist, schließt der konservative Politiker Jarpa, ehemaliger Innenminister unter Pinochet, gewaltsame Zusammenstöße zwischen Militärs und einem Teil der Bevölkerung nicht aus.

Auf Partnersuche
Eine Polarisierung kommt der Concertación nicht entgegen, denn nach den Parlamentswahlen im Dezember wird die Einheit der Regierungskoalition schon fast magisch als Heilmittel für ein Parteienbündnis beschworen, das fünf Prozentpunkte verloren hat und das sich bei nunmehr 50,54 Prozent der Stimmen auch mit einem Bevölkerungsanteil von fast 40 Prozent NichtwählerInnen auseinandersetzen muß. Vorsichtig werden die Fühler ausgestreckt, um neue Wählergruppen zu erschließen. Sowohl nach rechts, als auch nach links. Es sind vor allem die jüngeren Gruppierungen innerhalb der DC, sowie Teile der PPD und der Sozialisten, die eine härtere Gangart gegen Pinochet fordern.
Es ist die Logik der Concertación, die Konflikte immer auf die Zukunft zu verschieben, kritisiert Guido Girardi (PPD), der bei den Parlamentswahlen mit 65,7 Prozent das beste Wahlergebnis aller KandidatInnenen erzielte. Und obwohl der Christdemokrat Zaldivar jegliches Ansinnen zurückweist, das Parteienbündnis zu überprüfen oder sich dem liberalen Sektor der Renovación Nacional anzunähern, sieht Gutenberg Martinez, ebenfalls Vertreter der DC, durchaus eine Möglichkeit, sich zur liberalen Rechten hin zu öffnen. Die Concertación läuft einmal mehr Gefahr, sich beim Thema Pinochet zu verrennen, zu verstricken und zu zerstreiten und dabei in einer Zukunft ohne Pinochet plötzlich ohne neue Projekte dazustehen. Dabei war die Forderung aller Regierungspolitiker nach den Stimmeinbußen bei den Parlamentswahlen, daß das Regierungsprogramm insgesamt dringend aufpoliert und neu definiert werden müsse. Hin zu einer Politik, die neben der Aufarbeitung der Vergangenheit die Zukunft nicht aus den Augen verliert und sich mehr um die Interessen und um die Verbesserung der Situation der sozial Schwachen kümmert: den Senioren, den Beschäftigten im öffentlichen Dienst und den arbeitslosen Jugendlichen, deren Anteil wächst.
Die regierende Concertación sieht sich nun im Senat einer Mehrheit konservativer Senatoren gegenüber. Vom Volk gewählte Vertreter, die die harte Linie Pinochets verfolgen. Es sind die Hardliner innerhalb der konservativen Oppostion, die bei den Wahlen im Dezember, bei der sie auf 36,35 Prozent Stimmanteil kamen, als Sieger hervorgegangen sind. Es ist die UDI (Union Democrática Independiente), die Partei der Pinochetisten, die die Zahl ihrer Sitze im Senat von drei auf neun erhöhen konnte, während die Renovación Nacional (RN) vier Sitze verloren hat und nur noch mit sieben Senatoren vertreten ist. Alle Pläne zu möglichen Reformen, die die Demokratisierung in Chile vertiefen könnten, muß die Concertación angesichts dieses Kräfteverhältnisses erst einmal auf Eis legen. So sind beispielsweise bei den Themen Scheidung, Schwangerschaftsabbruch, Ungleichheit der Einkommen, Ausbildung und Gesundheit keine großen Verbesserungen zu erwarten. Auch eine mögliche Abschaffung der von amtswegen ernannten Senatoren und eine Modifizierung des binominalen Wahlsystemes ist damit vom Tisch.

Die neuen Rechten
Bei der rechten Opposition handelt es sich nun um eine intern erstarkte und selbstbwußte Gruppierung, die um ihre Bedeutung als Verhandlungspartner weiß und innerhalb derer die WählerInnen klar der UDI die Führungsposition zugewiesen haben. Das bedeutet eine deutliche Niederlage für die RN, diejenige Fraktion der Rechten, die sich selber als modern, liberal und progressiv charakterisiert hat. Sie hat im Dialog mit der Concertación kleinere Verfassungsreformen ermöglicht und wurde innerhalb des rechten Blockes an den linken Rand gedrängt, nämlich in Richtung DC, die nach dem Stimmenverlust von vier Prozent ebenfalls auf der Suche nach neuen Strategien und neuen WählerInnen ist. Die neue politische Situation läßt für zweckgebundene Pakts zu bestimmten Themen oder beispielsweise für die Präsidentschaftswahlen alle Möglichkeiten offen. Das vergangene Jahr war von Machtkämpfen innerhalb der Concertación und Ermüdungserscheinungen nach acht Jahren Regierungzeit geprägt. Bei den Parlamentswahlen im Dezember hat die Concertación verloren und hinsichtlich der Präsidentschaftswahlen werden die Sozialisten langsam ungeduldig.

Kür der Kandidaten
Jetzt, bei den dritten demokratischen Wahlen zum Präsidenten im Jahr 1999 sind sie der Meinung, daß sie an der Reihe sind. Ihr Bewerber steht schon seit längerem fest: Ricardo Lagos von der Sozialistischen Partei, derzeitiger Bauminister. Er ist die einzige Führungsperson der Concertación, die innerhalb ihres Blockes nicht in Frage gestellt wird. Doch die DC scheint nicht bereit, die Idee eines eigenen Kandidaten aufzugeben. Insgeheim erhofften sich sowohl die DC als auch der linke Block mit PPD/PS im Dezember eine klare Entscheidung der WählerInnen, aus der hervorgehen würde, welcher der beiden Blöcke innerhalb des Parteienbündnisses das Sagen hat, um damit nicht zuletzt im Präsidentschaftspoker einen Trumpf in der Hand zu haben. Doch die deutlichen Verluste der Concertación gehen fast ausschließlich auf das Konto der Christdemokraten. PPD und PS haben zusammen ihren prozentualen Anteil von etwa 23 Prozent gehalten, während die DC vier Prozent verloren hat und nun ebenfalls bei 23 Prozent liegt. Lagos ist ein Sozialist, dem es bisher gelungen ist, mit seinen Äußerungen eine moderate, nahezu unverbindliche Position zu bewahren. Mit der Folge, daß die Kommunisten, denen es bei den Parlamentswahlen gelungen ist, ihren Anteil von vier auf über sieben Prozent zu erhöhen und deren Generalsekretärin Gladys Marn in ihrem Wahlkreis mit 15 Prozent nur knapp hinter dem sozialistischen Kandidaten zurücklag, wohl einen eigenen, echten linken Kandidaten aufstellen und sich nicht hinter Lagos stellen werden. Für die konservativen Teile der Christdemokraten wiederum ist es undenkbar, für einen Sozialisten als Präsidenten zu stimmen, so daß die Möglichkeit besteht, daß diese im Zweifelsfall eher für einen Kandidaten der rechten Opposition stimmen würden. Will die DC einen eigenen Kandidaten präsentieren und mit ihm gewinnen, müßte sie ein neues Bündnis suchen, beispielsweise mit den Liberalen der Renovación Nacional. Deren vielversprechender Senatskandidat Andrés Allamand, der auch als möglicher Präsidentschaftskandidat gehandelt wurde, hat bei den Wahlen zum Senat eine deutliche Niederlage erlitten, während Carlos Bombal von der UDI mit zehn Prozent mehr Stimmen in den Senat einzog.
Ein Grund, warum sich die DC bei dem Thema Präsidentschaftskandidatur bisher noch sehr bedeckt hält, ist, daß sich noch niemand innerhalb der Partei als möglicher Kandidat profilieren konnte. Einige renommierte Politiker wurden zwar in den Senat gewählt, mußten aber Stimmeneinbußen hinnehmen, da im gleichen Wahlkreis starke PPD- oder PS-Leute gegen sie antraten. Am meisten werden momentan der Bürgermeister von Santiago-Centro, Jaime Ravinet, und die Justizministerin Soledad Alvear als mögliche KandidatInnen gehandelt. Zwei Namen, die sich vor allem dadurch auszeichnen, daß sie bisher eher pragmatisch als parteipolitisch in Erscheinung getreten sind und so möglicherweise auch einige der NichtwählerInnen begeistern könnten.

Unabhängige Senatoren
Im Zuge der Neubesetzung des Senats ist einmal mehr die Diskussion um die von amtswegen ernannten Senatoren aufgeflammt. 38 Senatoren werden von den ChilenInnen gewählt, 9 weitere von verschiedenen staatlichen Gremien ernannt. Auch wenn die Einführung dieser Verfassungsregelung 1980 damit begründet wurde, dem Senat eine unpolitischere Note zu geben, ist in der Praxis doch klargeworden, daß alle ernannten Senatsmitglieder klare parteipolitische Tendenzen haben oder sogar Parteimitglieder sind. Ob der Legislative so tatsächlich Kontinuität und Stabilität sowie ein multidisziplinärer Charakter gegeben wird, wird deshalb von vielen angezweifelt.
Zwei dieser Senatoren sind ehemalige Mitglieder des Obersten Gerichtshofes, der 81jährige Marcos Aburto, der 1974 von Pinochet in den Gerichtshof ernannt wurde, und der 82jährige Enrique Zurita. Außerdem Enrique Siva Cimma (79), Ex-Controlar General de la Republica unter Aylwin. Der Consejo de Seguridad Nacional ernannte vier Senatoren aus dem Bereich der Streitkräfte und der Polizei: Julio Canessa, Jorge Martinez, Ramón Vega und Fernando Cordero. Vom Präsidenten wurden außerdem Edgardo Boeninger, ein Minister unter Aylwin, und Augusto Parra, ehemaliger Rektor der Universität Concepción, ernannt. Damit wurden acht Senatoren abgelöst, die 1989 von Pinochet ernannt worden waren.
Bereits dreimal hat die Concertación versucht, das Verfahren der Ernennung von Senatoren durch eine Verfassungsänderung abzuschaffen. Die Vorstöße sind jedoch jedesmal an der Opposition im Senat gescheitert.

Sandra Grüninger

Vom Nadelstich zur Ohrfeige

Diese Anklage gegen Pinochet war augenscheinlich nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern sie brachte genau diesen Stein zum Rollen. Auf den Versuch, den Ex-Diktator wegen Verletzung der Ehre des Vaterlandes vor Gericht zu bringen, folgt nun die Klage wegen Völkermordes, Entführung und illegalen Verscharrens von Leichen. Es ist die erste Klage gegen Pinochet, der von einem chilenischen Gericht stattgegeben wurde. Die Kommunistische Partei unternahm diesen Schritt, um fast neun Jahre nach dem Ende der Diktatur die Verbrechen zu sühnen und den Militärchef zur Verantwortung zu ziehen. Die fünf Anwälte der Partei wollen nun erwirken, daß Pinochet in U-Haft gesteckt wird. Die Klage ist nicht abwegig – Pinochets Immunität könnte vom Richter aufgehoben werden.
Noch sind kaum Reaktionen auf diese Anklage bekannt. Sicher aber ist, daß nach Jahren des Ausharrens und Stillschweigens für einen „reibungslosen“ Ablauf der Demokratisierung Chile wieder aufgerüttelt wird und die politischen Wellen hochschlagen werden.
LN

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