Kolumbien | Nummer 480 - Juni 2014

Nestlé unbeeindruckt

Erstmals ermittelt die Sonderstaatsanwaltschaft für Menschenrechte in einem Mordfall an einem Nestlé-Gewerkschafter

In Kolumbien gab es in den letzten zehn Jahren fast 800 Ermordungen und 60 Verschleppungen von Gewerkschafter_innen. Oft werden die Taten von Paramilitärs begangen, jedoch meist im Kontext von Arbeitskonflikten. Mit 14 Morden an Nestlé-Gewerkschafter_innen in den letzten Jahren kommt dem weltweit größten Nahrungsmittelkonzern eine zentrale Rolle bei der Frage nach der Verantwortung von Unternehmen bei Menschenrechtsverletzungen zu. Das European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) hat deshalb bereits 2012 Strafanzeige in der Schweiz gegen Nestlé gestellt. 2014 entschied die kolumbianische Generalstaatsanwaltschaft erstmals, dass die Sonderstaatsanwaltschaft für Menschenrechte im Mordfall des Nestlé-Gewerkschafters Oscar López Triviño ermittelt. LN sprachen mit Annelen Micus vom European Center for Constitutional and Human Rights über die Hintergründe der Strafanzeige und die jüngste Entwicklung in Kolumbien.

Interview: Caroline Kassin

Frau Micus, im März 2012 haben Sie im Fall des 2005 ermordeten Gewerkschafters Luciano Romero in der Schweiz Strafanzeige gegen Nestlé gestellt. Die direkten Täter_innen wurden in Kolumbien ja bereits verurteilt. Was wird dem Unternehmen in der Anzeige vorgeworfen? Gibt es Hinweise dafür, dass Nestlé als Auftraggeber für die Paramilitärs agiert hat?
Es gibt keine Beweise dafür, dass Nestlé den Auftrag für die Ermordung gegeben hat. Allerdings ist die Ermordung von Nestlé-Gewerkschaftern durch Paramilitärs infolge von Arbeitskonflikten und Entlassungen etwas, was immer wieder vorkommt. Die Anzeige basiert auf der Argumenta­tion, dass die Manager von Nestlé in der Schweiz von dem Sicherheitsrisiko für die Gewerkschafter in ihren Tochterunternehmen in Kolumbien wussten, da sie regelmäßig sowohl durch die Gewerkschaft als auch durch NGOs informiert wurden. Trotzdem haben sie nichts unternommen, um die Gewerkschafter zu schützen – im Gegenteil. Der Straftatbestand, den wir Nestlé und seinen Managern in der Anzeige vorwerfen, ist fahrlässige Tötung durch Unterlassen. Der kolumbianische Richter, der die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gegen Nestlé angeordnet hat, hat festgehalten, dass Luciano Romero noch im selben Jahr bei dem ständigen Völkertribunal in Bern gegen Nestlé hätte aussagen sollen. Es wurde mittlerweile auch gerichtlich festgestellt, dass Nestlés Milchlieferanten in der Region Paramilitärs sind. Nestlé hat ihnen gegenüber behauptet, die Gewerkschaften seien schuld an den niedrigen Milchpreisen – obwohl die Gewerkschaften immer wieder angemerkt hatten, dass solche Äuße­rungen gefährlich sein können. Anstatt etwas zu ändern, kamen weitere Verleumdungen von der Nestlé-Geschäftsführung, zum Beispiel, dass Luciano Romero ein Guerillero und verantwortlich für ein Bombenattentat in der Fabrik sei. Solche Äußerungen im Kontext des bewaffneten Konfliktes in Kolumbien kommen im Grunde dem gleich, jemanden auf eine Todesliste zu setzen.

Im November 2013 wurde ein weiterer Nestlé-Gewerkschafter, Oscar López Triviño ermordet. Die Parallelen zwischen den Fällen Romero und López Triviño sind groß. Hat sich in den fast 9 Jahren zwischen den beiden Morden nichts geändert?
Es ist wirklich erschreckend, dass sich in dieser Zeit offensichtlich nichts getan hat. Und das, obwohl Nestlé in den letzten Jahren immer betont hat, dass ihnen die Menschenrechte wichtig seien und sie ihre Mitarbeiter schützen würden. Die Ermordung von Oscar López Triviño zeigt aber, dass effektiv nichts passiert ist. Unser Vorwurf an Nestlé war von Beginn an, dass sie kein ausreichendes Risikomanagement entwickelt haben. Man wusste um die schlechte Menschenrechts-situation im Land, trotzdem wurden die Mitarbeiter zum Beispiel nicht geschult, welche Art von Äußerungen gefährlich für die Gewerkschafter sein können. Das lässt sich unter anderem daran gut erkennen, dass auch der Ermordung von López Triviño Stigmatisierungen vorangegangen sind – und das nicht durch den Manager der Fabrik in Bugalagrande, sondern sogar durch den Präsidenten von Nestlé Colombia, Manuel Andrés Kornprobst. Der hatte wenige Wochen vor dem Mord in einer offiziellen Mitteilung die angeblich gewaltsamen Aktionen der Gewerkschaft verurteilt und behauptet, dass sie dem guten Ruf Nestlés schaden würden. Solche Äußerungen klingen in den Ohren der Paramilitärs nach einer Aufforderung, etwas dagegen zu unternehmen. Etwa derselbe Wortlaut fand sich auch in den Morddrohungen wieder, die einige von López Triviños Gewerkschaftskollegen am Tag vor der Ermordung erhalten hatten.

Wie äußert sich Nestlé zu den Morden?
Als wir 2012 die Strafanzeige eingereicht haben, hat Nestlé öffentlich dazu Stellung genommen und dasselbe gesagt, was sie immer sagen, nämlich dass an den Vorwürfen nichts dran sei und dass sie sich auch nie beweisen ließen. Allerdings war dieses Thema auch noch nie inhaltlich vor Gericht. Bisher ging es in dem Verfahren leider nur um technisch-formelle Fragen der Zuständigkeit und Verjährung und nicht um inhaltlich-materielle Fragen. Dem hat sich Nestlé bisher nicht gestellt, was wir sehr schade finden. Nach der Ermordung von López Triviño hat Nestlé wieder öffentlich Stellung genommen und noch einmal gesagt, ihnen sei die Gewerkschaftsarbeit wichtig und die Ermordung würde sie tief traurig machen – mehr aber auch nicht.

Immer wieder werden Unternehmen wie Nestlé mit Menschenrechtsverbrechen in Verbindung gebracht. Welche Bedeutung muss ihnen in dieser Richtung beigemessen werden?
Insgesamt ist es so, dass sich transnationale Unternehmen zunehmend in Konfliktregionen und sogenannten Zonen begrenzter Staatlichkeit ansiedeln und dort auch besonders viel Gewicht haben. Dementsprechend ist auch ihr Einfluss auf die Menschenrechtslage groß. Wenn die Staaten sich den Unternehmen gegenüber nicht durchsetzen können oder wollen, können die negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte besonders verheerend sein. Deswegen sollten auch Unternehmen gewisse Pflichten haben, nicht nur Staaten. Viele der Verpflichtungen, die in den Vereinten Nationen diskutiert werden, sind nicht rechtlich durchsetzbar. Wir sind der Meinung, dass solche menschenrechtliche Verpflichtungen von Unternehmen auch strafrechtlich durchsetzbar sein müssen, damit sie eingehalten werden.

Warum ist es so schwierig, Unternehmen Verantwortung nachzuweisen und sie auch juristisch zu belangen?
Unternehmen haben eine sehr viel komplexere Struktur, insofern ist es viel einfacher, einer Einzelperson die Strafbarkeit nachzuweisen. Sobald die komplexe Struktur eines Unternehmens die Einzelperson schützt und nicht mehr ganz klar ist, wer welche Entscheidung getroffen hat, wird es schwierig. Deswegen finden wir, dass es auch möglich sein sollte, Unternehmen als solche strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen, was in vielen Ländern aber noch nicht der Fall ist. Das Interessante in der Schweiz, und auch Grund dafür, dass wir dort Strafanzeige eingereicht haben, ist eine Vorschrift im Strafgesetzbuch, wonach – wenn nicht ermittelt werden kann, welche Einzelperson strafrechtlich für ein Verbrechen verantwortlich ist – das Unternehmen selbst dafür haften muss. Das ist eine interessante Neuerung, die aber bisher nicht für Fälle von Menschrechtsverletzungen herangezogen worden ist. Wir finden, das sollte möglich sein, und wenn dem aktuell nicht so ist, muss daran noch rechtspolitisch gearbeitet werden.

Infokasten

Oscar López Triviño
Der Nestlé-Mitarbeiter und Gewerkschafter Oscar López Triviño wurde am 9. November 2013 ermordet. Er war seit 25 Jahren Angestellter bei Nestlé und aktives Mitglied der Lebensmittelgewerkschaft Sinaltrainal. Hintergrund der Ermordung war ein Arbeitskonflikt, bei dem vier Sinaltrainal-Gewerkschafter_innen einen Hungerstreik vor der Nestlé-Fabrik in Bugalagrande begannen. Statt an einer Lösung des Konflikts zu arbeiten, erhöhte der Konzern den Druck auf die Gewerkschaft und warf ihr Rufschädigung vor. Wenige Tage vor der Ermordung erhielten López Triviño und andere Gewerkschafter_innen SMS mit dem Inhalt: „Guerilleros Hurensöhne, die ihr Nestlé belästigt. Es gibt kein Pardon. Wir zerstückeln euch. Tod allen Kommunisten von Sinaltrainal.“ Unterzeichnet war die Nachricht von „Los Urabeños“, einer neoparamilitärischen Gruppe.
Anders als im Fall von Luciano Romero, bei dem die Verurteilung der unmittelbaren Täter dem großen Druck der Gewerkschaft, aber auch einer Reiher glücklicher Zufälle geschuldet war, war die Hoffnung auf eine rasche Aufklärung im Fall Triviño nicht besonders hoch. Unter anderem hat ein Antrag von Sinaltrainal nun jedoch bewirkt, dass das Ermittlungsverfahren im Mordfall Triviño der Sonderstaatsanwaltschaft für Menschenrechte zugewiesen worden ist. Diese Entwicklung ist bei einer Straflosigkeitsquote von über 90% in solchen Fällen durchaus bemerkenswert und wurde von Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen begrüßt. Die Entscheidung der Generalstaatsanwaltschaft lässt hoffen, dass solche Menschenrechtsverbrechen von der kolumbianischen Justiz zukünftig eher als solche anerkannt werden und die Ermittlungen der Verantwortlichen nicht, wie im Fall Romero und vielen anderen, nach einiger Zeit versanden.

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