Argentinien | Nummer 349/350 - Juli/August 2003

Néstor ohne Dicke

Zu Beginn seiner Amtszeit bleibt der argentinische Präsident seinen Wahlversprechen treu

Néstor ohne Dicke
Zu Beginn seiner Amtszeit bleibt der
argentinische Präsident seinen Wahlversprechen treu.

In den ersten vier Wochen seiner Präsidentschaft gefällt sich Néstor Kirchner als Aufräumer. Bislang gibt er sich Mühe, den Erwartungen seiner Landsleute auf eine politische Erneuerung gerecht zu werden: Entschieden geht er gegen die Hochburgen der Korruption im Gesundheitswesen und in der Justiz vor, während sein Wirtschaftsminister harte Verhandlungen mit den internationalen Unternehmen führt, die von den Privatisierungen der neunziger Jahre profitierten.

Michael Goebel

Das Wort “gordo” (Dicker), verwenden die Argentinier in allen möglichen Zusammenhängen und dementsprechend häufig kommt es im Alltag zum Einsatz. Zurzeit liest man es besonders häufig in den Zeitungen und gemeint sind immer dieselben: die Schwergewichte, die Drahtzieher in der Politik, der Wirtschaft oder Justiz, unter Gewerkschaftern oder beim Militär. Obwohl die argentinische Verfassung den Präsidenten mit einer in Europa undenkbaren Machtfülle ausstattet, komme an ihnen keiner vorbei, so heißt es. Und weil es sich bei den Dicken um eine unveränderbare politische Rahmenbedingung handle, müsse auch die neue Regierung des peronistischen Präsidenten Néstor Kirchner früher oder später auf deren Forderungen eingehen.

Hält die Regierung ihre Wahlversprechen ein?

Oder etwa nicht? In den ersten Wochen seiner Amtszeit gibt sich Kirchner jedenfalls öffentlich entschlossen, die alte Weisheit zu widerlegen und eine Politik ohne die Dicken umzusetzen. Auf Fragen nach den Sorgen spanischer Investoren in Argentinien, antwortete der Wirtschaftsminister Roberto Lavagna zum Beispiel: “Wenn irgendein Lobbyist jetzt nervös wird, dann ist das das Problem des Lobbyisten.” Schließlich wolle die Regierung ihr Wahlversprechen halten und “Probleme lösen statt sich mit Bankern zu treffen”, gab er spanischen Journalisten zu Protokoll. Tatsächlich gibt es Anzeichen, dass Kirchner und seine Minister nicht nur die Rhetorik des Wahlkampfs fortsetzen.
Im wirtschaftspolitischen Programm der Regierung lässt sich dabei zunehmend ein Muster erkennen: Die Privatisierungen der neunziger Jahre sollen zwar nicht rückgängig gemacht werden, aber die Zeiten grenzenloser Zugeständnisse und Willfährigkeit gegenüber den Investoren sind vorbei. Ein Beispiel: Lavagna und Planungsminister Julio de Vido entschieden, dass die Konzessionen für den Betrieb ehemals staatlicher Autobahnen neu ausgeschrieben werden, wenn die derzeit laufenden Verträge im Oktober auslaufen. Mit den Worten “Vertrag läuft aus, wir schreiben ihn neu aus”, wies De Vido die Forderung der gegenwärtigen Betreiberfirmen zurück, die Regierung solle mit der üblichen Praxis der automatischen Verlängerung der Konzessionen um vierzig Monate fortfahren.
Für Lavagna demonstriert diese Entscheidung, wie die Regierung in Zukunft zu verfahren gedenkt. Zum einen beteuerte er, dass sich die berüchtigten Korruptionsskandale der neunziger Jahre bei den kommenden Ausschreibungen nicht wiederholen werden. Zum anderen lehnte er die Forderungen nach einer Erhöhung der staatlichen Subventionen und der Mautgebühren ab, zumal die Konzessionäre 65 Prozent ihrer vertraglichen Verpflichtungen nicht erfüllt hätten. 1991 hatte der damalige Wirtschaftsminister Domingo Cavallo den Firmen ein Subventionsschema zugestanden, das den Staat allein im Jahr 2001 über eine Milliarde US-Dollar gekostet hat.
Die Forderung der Unternehmen, die Preise für Dienste wie öffentlicher Transport oder Telefon anheben zu dürfen, hat sich auch der Internationale Währungsfonds (IWF) zu Eigen gemacht. Dessen Vorsitzender Köhler forderte bei seinem Besuch in Buenos Aires Ende Juni die Regierung auf dem “Modell Lula” zu folgen, worunter Köhler “ein gutes Verhältnis zur Außenwelt: ausländische Investoren, Kapitalflüsse” versteht. Die Vizepräsidentin des IWF, Anne Krüger, monierte in den letzten Wochen immer wieder die fehlende Bereitschaft Argentiniens für “strukturelle Reformen”. Dennoch zeigte sich Köhler bei seinem Besuch konziliant und kompromissbereit.
Obwohl das vorläufige Abkommen mit dem IWF im August ausläuft und bis Jahresende die Zahlung von mehr als zehn Milliarden US-Dollar für den Schuldendienst fällig wird, bestehen Lavagna und Kirchner bislang darauf, erst die Ergebnisse der Provinzwahlen und vor allem die makroökonomische Entwicklung in den kommenden Monaten abzuwarten, bevor man eine neue Übereinkunft erzielen könne. Weil die in den letzten Monaten sehr viel besser als erwartet ausfiel, eröffnet sich nun schneller als gedacht ein neues dreijähriges Abkommen mit dem IWF, dessen Einzelheiten aber bislang noch unklar sind. Die zentralen Interessen des IWF, so ließ Köhler durchblicken, sind schnelle Verhandlungen mit den privaten Gläubigern, Kompensationszahlungen für die Banken und eine Steuerreform, die den Fortbestand des derzeitigen Überschusses im Staatshaushalt sichern soll.

Kirchners Kampf gegen die Korruption?

Kirchner geht indes gegen Mitglieder des Obersten Gerichtshofes und gegen leitende Angestellte des öffentlichen Gesundheitsfonds für Pensionäre PAMI (Plan de Asistencia Médica Integral) vor. Beide Institutionen stehen seit langem wegen zahlreicher Korruptionsskandale im Rampenlicht, für die vor allem die Anhänger des Ex-Präsidenten Carlos Menem verantwortlich gemacht werden. Beide verfügen über astronomisch hohe Budgets, von denen niemand genau weiß, wie sie zu Stande kommen.
In einer seiner ersten Amtshandlungen ernannte Kirchner Juan González Gaviola zum Präsidenten von PAMI. Ähnlich wie im Falle der Autobahnkonzessionen sollen die Verträge mit Privatunternehmen, die öffentliche Dienste übernommen hatten, neu verhandelt werden. Besonderes Aufsehen erregte ein im vergangenen Jahr abgeschlossener Vertrag mit der Hörgerätefirma Amplitone, demzufolge PAMI einen Festbetrag an die Firma überwies, unabhängig von der Zahl der gelieferten Hörgeräte. Die meisten der im Laufe eines Jahres bestellten Geräte wurden nie geliefert, während sich die an PAMI gestellten Rechnungen mittlerweile auf über vier Millionen Pesos summieren.
Am Widerstand zweier leitender PAMI-Angestellter scheiterte zunächst Gaviolas Vorhaben, die Verträge neu zu verhandeln. Schließlich lies sich Kirchner vom Kongress ein Gesetz absegnen, das ihm ein persönliches Eingreifen erlaubte. Delikat war die Angelegenheit, weil es sich um die beiden Vertreter des Gewerkschaftsdachverbandes Confederación General del Trabajo (CGT) im PAMI handelte, so dass sich der Ton zwischen Regierung und CGT kurzzeitig verschärfte. Doch am 18. Juni lenkte CGT-Generalsekretär Rodolfo Daer ein und entließ die beiden Angestellten. Gegen einen von ihnen ist nun ein Ermittlungsverfahren wegen Veruntreuung öffentlicher Gelder eingeleitet worden.
Am 27. Juni trat der Präsident des Obersten Gerichtshofes, Julio Nazareno, von seinem Amt zurück. Nazareno ist ein alter Freund und Kollege Menems aus den Zeiten, als sie in ihrer Heimatprovinz La Rioja eine gemeinsame Anwaltskanzlei betrieben. Ernannt wurde er im Zuge von Menems Reform, die die Mitgliederzahl des Obersten Gerichtshofes auf neun aufstockte, fünf von ihnen sind Gefolgsleute des Ex-Präsidenten, was Menem die so genannte “automatische Mehrheit” sicherte. Zwar verfuhr Kirchner als Gouverneur in der Provinz Santa Cruz nach demselben Muster, auf nationaler Ebene erließ er nun aber ein Dekret, das die Macht des Präsidenten bei der Ernennung der Mitglieder des Obersten Gerichtshofes einschränkt.
Kern der Angelegenheit ist auch hier das korruptionsverdächtige Verhältnis zwischen dem Staat als Auftraggeber bei der Vergabe öffentlicher Dienste und den Auftragnehmern. Ob nun im Juli wie geplant Nazareno im Kongress ein so genannter “politischer Prozess” gemacht werden soll, der sich auf 15 Anklagepunkte stützt, die meisten im Zusammenhang mit Gerichtsurteilen zu Gunsten privater Firmen mit fadenscheinigen Begründungen, ist offen. Im Falle einer Privatfirma, die Dienste der ehemals staatlichen Telefongesellschaft Entel übernommen hatte, verurteilte der Oberste Gerichtshof den Staat zur Zahlung von 400 Millionen Pesos. Die Rechtsgrundlage des Entscheids ist fragwürdig. Die Vermutung liegt nahe, dass Schmiergelder geflossen sind.
Nazareno war zudem die treibende Kraft hinter einem Urteil, das die Umwandlung der US-Dollarguthaben der Provinz San Luis bei der Banco de la Nación in Pesos für rechtswidrig erklärt hatte. Die Regierung fürchtet nun weitere ähnliche Urteile, die den Staat Milliarden kosten könnten. Unklar ist, ob Kirchners Vorgehen gegen den Obersten Gerichtshof auch zusammenhängt mit einem laufenden Verfahren wegen der Gesetze des “Schlusspunkt” und des so genannten “Befehlsnotstands”, die den Verbrechern der letzten Militärdiktatur Straffreiheit zusicherten. Nachdem ein Gericht die Gesetze in erster Instanz für verfassungswidrig erklärt hat, steht nun ein Urteil des Obersten Gerichtshofes aus. In seiner jetzigen Zusammensetzung, so heißt es, würden Nazareno und seine Anhänger den Entscheid widerrufen.

Wieviel wiegt Duhalde?

Statt der Dicken weiß Kirchner bislang den Großteil der Bevölkerung auf seiner Seite. Umfragen zufolge sollen es 80 Prozent sein. In Flores, einem Viertel der unteren Mittelklasse in der Hauptstadt, verkündet ein Graffito triumphierend: “Néstor schmeißt die Mafia raus.” Auch die Medien begleiteten Kirchners Politik in den letzten Wochen wohl wollend, kritisierten ihn aber dafür, dass er “zu viele Fronten auf einmal” eröffnet habe. Tatsächlich fehlt Kirchner eine eigene politische Basis außerhalb seiner Provinz Santa Cruz und seine Präsidentschaft ist dem Machtapparat seines Vorgängers Eduardo Duhalde geschuldet. Der hat nach der Amtsübergabe zwar erst einmal Urlaub genommen, doch viele vermuten, dass Kirchner demnächst für Duhaldes Unterstützung im Wahlkampf zurückzahlen muss.

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