Entwicklungspolitik | Nummer 396 - Juni 2007

Neue Geber, neue Chancen?

China und Venezuela mischen die Entwicklungspolitik auf

Über lange Zeit waren die Rollen klar verteilt in der Entwicklungshilfe: Die Industriestaaten gaben, die Länder Südens erhielten Hilfe – gegen mehr oder weniger strenge Auflagen. Seit aufstrebende Schwellenländer in die Entwicklungspolitik eingestiegen sind, ist dieses starre Muster aufgebrochen. Jetzt konkurrieren die Geberländer um präferenziellen Zugang zu Ressourcen – und die Entwicklungsländer um die Investitionen der Geber. In Lateinamerika ist Venezuela zum großen Geber avanciert – und versucht mit der Hilfe auch seine politischen Ziele voranzutreiben.

Juliane Schumacher

Venezuela leistet Entwicklungshilfe in den USA, hätte die Schlagzeile lauten können: Im Winter 2005/2006 startete der venezolanische Präsident Hugo Chávez ein Hilfsprogramm für arme US-AmerikanerInnen. Was bei den EmpfängerInnen für Freude sorgte, verärgerte das Weiße Haus. Die US-Regierung hatte sich geweigert, die Heizkostenzuschüsse für arme Haushalte wegen der hohen Heizkosten zu erhöhen; US-Konzerne lehnten Preissenkungen ab. Chávez sprang ein, bot armen US-Haushalten um 40 Prozent verbilligtes Heizöl an – und provozierte einmal mehr seinen „Lieblingsfeind“, US-Präsidenten Bush.
So weit, dass ein Land des ehemals globalen Südens „Entwicklungshilfe“ in einem Industrieland leistet, ist es noch nicht. Doch das starre Muster, das dem Diskurs von Entwicklung und Entwicklungshilfe lange Zeit zugrunde lag, ist aufgebrochen. Die Episode von Chávez‘ Hilfsprogramm zeigt: Längst stehen sich nicht mehr wohlhabende Industrieländer und mittellose Dritte-Welt-Staaten gegenüber, längst fließt Hilfe nicht mehr nur vom Norden in den Süden. Die globalisierte Welt zerfällt in ein Mosaik von armen und reichen Blöcken, Staaten, Regionen, in Netzwerke von Konkurrenz und Kooperation. Nicht nur in den USA, auch in den ehemals europäischen Zentren des Wohlstandes bilden sich zunehmend Schichten heraus, auf die die Bezeichnung „arm“ zutrifft – während Staaten wie China, Indien oder Brasilien zu Wirtschaftsmächten aufsteigen, die die ehemals vorherrschenden westlichen Staaten weder ignorieren noch umgehen können.

Entwicklungshilfe für die Geber

Dies wirkt sich auch auf die Entwicklungspolitik aus. Lange Zeit hatten die westlichen Industrienationen freie Hand: Für die technische und finanzielle Hilfe, die sie den ärmeren Staaten des globalen Südens zukommen ließen, konnten sie weitreichende Forderungen stellen. Dabei ging es häufig um wirtschaftliche Rahmenbedingungen. Vor allem Weltbank und Internationaler Währungsfonds (IWF) machten seit den 1980er Jahren Strukturanpassungsmaßnahmen zur Bedingung für Kredite. Entsprechend ihrer neoliberalen Doktrin bestanden diese vor allem aus Liberalisierungs- und Privatisierungsmaßnahmen. Seit den 1990ern forderten die traditionellen Geberländer zunehmend Anstrengungen im Bereich der good governance („guter Regierungsführung“) für Entwicklungshilfe: Verringerung der Korruption, Einhaltung der Menschenrechte, Meinungs- und Wahlfreiheit. Beides brachte den Geberländern von verschiedener Seite Kritik ein: Die geforderten Reformen dienten vor allem der eigenen Wirtschaft und erleichterten den Industriestaaten den Zugang zu den Märkten des Südens; sie zwängen anderen Staaten ihre Vorstellungen von Demokratie und freier Marktwirtschaft auf oder machten es manchen diktatorisch regierten Staaten unmöglich, überhaupt noch Hilfe zu bekommen – worunter vor allem die Ärmsten in diesen Ländern zu leiden hätten.
Jetzt ist alles anders, oder zumindest scheint es auf den ersten Blick so: Viele Staaten in Afrika, Asien oder Lateinamerika haben an Wahlfreiheit gewonnen, seit neue Staaten die Entwicklungspolitik für sich entdeckt haben. Für viele afrikanische Staaten ist China inzwischen wichtigster Handelspartner, Investor – und wichtigstes Geberland für Entwicklungshilfe. Für seine Investitionen fordert China nichts als den Zugang zu Rohstoffen, es interessiert sich – wenig verwunderlich – weder für die Lage der Menschenrechte noch für wirtschaftliche Reformen. Um seinen hohen Energiebedarf zu decken, hat China ein weitgefächertes Netz von Rohstofflieferanten geknüpft und dabei gerade die Länder in Asien oder Afrika einbezogen, die der Westen lange Zeit links liegen ließ. Was der SPIEGEL (13/2006) einen „brachialen Expansionskurs“ schimpft, ist gerade für viele afrikanische Staaten eine Alternative zum neoliberalen Programm von Weltbank und IWF. In Angola beispielsweise hat „der chinesische Weg“ die Armut deutlich effektiver bekämpft als die Entwicklungskredite des IWF. Chinas Ignoranz gegenüber Verletzungen der Menschenrechte machen seine Hilfe dennoch zu einer zweischneidigen Sache, wenn es, wie in Burma oder dem Sudan, bedingungslos mit Militärregimen kooperiert.
Anders die Situation in Lateinamerika: Dort avanciert Venezuela zum zentralen Akteur in Sachen Entwicklungspolitik. Im Unterschied zu China geht es dem venezolanischen Präsidenten Hugo Chávez nicht (nur) um Wirtschaftspolitik: Er treibt vor allem sein politisches Projekt ALBA voran, eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit der Länder Lateinamerikas, die explizit gegen die US-amerikanische Vorherrschaft in der Region gerichtet ist.

Öl gegen Solidarität

Die „Bolivarianische Alternative für Amerika“ soll genau das Gegenteil der gesamtamerikanischen Freihandelszone ALCA sein, mit deren Aufbau die USA in Lateinamerika scheiterten. ALBA statt ALCA – der Wechsel symbolisiert auch den Machtverlust der USA in Lateinamerika. Zwar sind die USA für viele Länder Lateinamerikas weiterhin wichtigster Handelspartner, doch haben sie ihren einstigen „Hinterhof“ in den letzten Jahren vernachlässigt, finanziell wie politisch. Einzig Kolumbien erhält über den Plan Colombia nach wie vor hohe finanzielle Zuschüsse. Der größte Teil des Geldes, mit dem sich die USA den Süden des Kontinents gefügig machten, geht heute in den Irak. So boten sich für Chávez perfekte Bedingungen: Während er in Venezuela den Aufbau des „Sozialismus des 21.Jahrhunderts“ in seinem Sinne vorantreibt, sichern ihm die sprudelnden Öleinnahmen außenpolitisch freie Hand. Linksgerichtete Regierungen wie in Argentinien, Bolivien und Ecuador unterstützt er großzügig und sichert sich im Gegenzug ihre Solidarität in seinem Konfrontationskurs gegenüber den USA.
Zwar hat Venezuelas Großzügigkeit auch wirtschaftliche Gründe: Zum einen geht zurzeit noch ein Großteil seiner Exporte in die USA, und Chávez möchte dem Land neue Absatzmärkte erschließen. Zum anderen erhöhen die vermehrten Öleinnahmen den Druck auf die venezolanische Währung. Um diese nicht aufwerten zu müssen und damit Exporte zu verteuern, sind die Finanzhilfen an befreundete Staaten ein willkommenes Mittel, um Kapital zu exportieren. Seit 2005 hat Venezuela für über drei Milliarden US-Dollar argentinische Staatsanleihen erworben. Auch Argentinien hat davon profitiert. Die argentinische Regierung konnte mit dem venezolanischen Geld auf einen Schlag ihre Schulden beim IWF zurückzahlen – was den Internationalen Währungsfonds politisch wie finanziell in eine Krise stürzte.

Kreative Tauschgeschäfte

Wieviel Venezuela tatsächlich in Entwicklungshilfe investiert, lässt sich nicht sagen – anders als in den Staaten der OECD gibt es weder einen festen Etat für die Hilfe noch ein eigenes Ministerium. Die Hilfe läuft zumeist über den staatlichen Ölkonzern PDVSA. Neben Finanzhilfen bietet Venezuela verschiedene, durchaus kreative Formen der Hilfe an. So zahlt es im Rahmen des Aufbaus von ALBA in Kompensationsfonds ein, mit denen bestehende Ungleichgewichte zwischen den Mitgliedsstaaten ausgeglichen werden sollen. Es versorgt Länder Zentralamerikas und der Karibik im Rahmen des Petrocaribe-Abkommens mit verbilligtem Öl, was den Anstieg des Ölpreises für diese abmildert und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt verringert. Mit Kuba verbindet Venezuela nicht nur die symbolische Freundschaft zwischen Fidel Castro und dem Aufsteiger Chávez, sondern auch ein besonderer Tausch: Kuba erhält Öl – und schickt im Gegenzug Ärzte in die Armenviertel Venezuelas. Ähnlich funktioniert die Zusammenarbeit mit Bolivien, das gegen Öl Nahrungsmittel liefert, die an Bedürftige in Venezuela verkauft werden.
Gerade an solchen Projekten werden die Besonderheiten der venezolanischen Hilfe deutlich: Venezuela hat auch die Armut im eigenen Land noch nicht vollkommen besiegt und verknüpft so Aufbau in anderen Ländern mit Armutsbekämpfung im Inneren. Zugleich ist die Hilfe – auch aufgrund dieser Tatsache – stärker auf gegenseitige Kooperation angelegt als auf paternalistische Bevormundung, wie das bei der westlichen Entwicklungszusammenarbeit der Fall war. Den Staaten Lateinamerikas haben sich so zumindest Wahlmöglichkeiten ergeben: Sie können sich zwischen verschiedenen Optionen der Kooperation – und damit auch der Richtung der Entwicklung – entscheiden. Und das erhöht wiederum den Druck auf die Geberländer, ihre Formen der Hilfe zu überprüfen: Sie müssen nun nachweisen, wie erfolgreich ihre Hilfsprogramme tatsächlich sind. Die Zeiten sind vorbei, als die westlichen Geberländer den Ländern des Südens neoliberale Reformen aufdrücken konnten, ohne deren katastrophalen Folgen rechtfertigen zu müssen.
Dennoch bewegt sich Entwicklungshilfe weiterhin auf einem schmalen Grat: zwischen neuen Abhängigkeiten und der Eröffnung politischer Spielräume, zwischen freiwilliger Gefolgschaft und erkaufter Loyalität. Was auf der einen Seite Wahlmöglichkeiten bedeutet, bedeutet auf der anderen Seite auch Konkurrenz: Konkurrenz nicht nur zwischen den Geberländern, die durch die Hilfe auch Zugang zu begehrten Rohstoffen oder strategische Allianzen sichern. Sie bedeutet auch Konkurrenz um die Geber, um Investitionen und Handelserleichterungen. Der Wettbewerb der Standorte setzt sich – verschärft – in der Entwicklungshilfe fort. Wo, wie im Fall Venezuelas, politische Strategien eine größere Rolle spielen, mag diese Tatsache vorübergehend abgemildert werden. Auch hier gilt: Hilfe wird weiterhin nicht ohne Hintergedanken gegeben. Auch wenn manche der jetzt in Lateinamerika erprobten Ansätze die Hoffnung wecken, auf Dauer tatsächlich zu mehr Gleichheit zwischen den Partnern zu führen, statt, wie Entwicklungshilfe es bisher oft getan hat, die Ungleichheiten nur zu zementieren.

KASTEN:
Monetäre Emanzipation
Brasilien unterstützt Venezuela beim Aufbau einer „Bank des Südens“
Schon wieder so eine verrückte Idee von Chávez, mag man in den Bankdirektionen des Nordens geseufzt haben, als der venezolanische Präsident letztes Jahr ankündigte, eine „Bank des Südens“ aufbauen zu wollen – ein regionales Gegengewicht zu Internationalem Währungsfonds (IWF), Weltbank und Interamerikanischer Entwicklungsbank. Die bestehenden internationalen Finanzinstitutionen werden von den Staaten Lateinamerikas seit vielen Jahren als zu stark von den USA dominiert kritisiert. Um Kredite zu bekommen, mussten sie neoliberale Reformen durchführen, die manche von ihnen – wie Argentinien – erst recht in die Krise trieben. Damit soll es jetzt vorbei sein – und das meint nicht nur Chávez, der am 30. April gar den Austritt Venezuelas aus IWF und Weltbank verkündete. Bereits im Februar 2007 unterzeichnete er mit dem argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner offziell ein Abkommen zur Gründung der Bank, inzwischen haben sich Ecuador, Paraguay und Bolivien angeschlossen. Als kürzlich auch Brasilien zusagte, sich zu beteiligen, horchte man auf einem Mal auch im Ausland auf. Die regionalen Schwergewichte Brasilien und Venezuela sind sich zwar nicht immer einig – arbeiten sie zusammen, könnte es die „Bank des Südens“ aber tatsächlich bald geben. Beide Staaten haben derzeit hohe finanzielle Einnahmen und suchen nach Möglichkeiten, ihr Geld anlegen zu können. Wann die „Bank des Südens“ ihre Arbeit aufnehmen kann und Infrastrukturprojekte sowie kleine und mittlere Betriebe finanziert, ist noch offen; in den kommenden drei Monaten sollen zunächst grundlegende Fragen geklärt werden. Eines lässt sich in jedem Fall sagen: Der IWF verliert in der Region weiter an Einfluss.
Juliane Schumacher

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