NEUE POLITISCHE LANDSCHAFT IM KONGRESS
In Kolumbien schreibt die Linke Geschichte, die Rechte verliert damit die absolute Mehrheit – Eine Fortsetzung der Analyse aus LN 573
Es war ein Erdrutschsieg. Zum ersten Mal in der kolumbianischen Geschichte ist die Linke die meistgewählte Kraft im Kongress. Allein das Linksbündnis Pacto Histórico gewann 48 der 295 Sitze und damit 16 Prozent der Stimmen (letzter Stand 1. April, Anm. der Red.). Der Zusammenschluss wird somit in den nächsten vier Jahren eine ernstzunehmende Rolle spielen.
Als Präsidentschaftskandidatin des linken Bündnisses landete die Umweltaktivistin Francia Márquez (LN 534) mit über 700.000 Stimmen auf dem zweiten Platz. Márquez wird nun als erste Afrokolumbianerin für die Vizepräsidentschaft neben dem meistgewählten Gustavo Petro kandidieren.
Der Erfolg des Bündnisses Pacto Histórico ist zwar eng mit Francia Márquez, doch vor allem mit Gustavo Petro verbunden. Der ehemalige Bürgermeister von Bogotá hatte bereits bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 einen Meilenstein erreicht, indem er als erster linker Kandidat in der zweiten Runde gegen den jetzigen Präsidenten Iván Duque antrat. Als Oppositionsführer galt er seitdem als wichtiger Verbündeter jener Teile der kolumbianischen Gesellschaft, die die massiven Proteste von 2019 und 2021 angeführt haben. Nun hat sich Petro der Vereinigung der kolumbianischen Linken verschrieben. Diese neue Linke steht für eine seit langem bestehende Unzufriedenheit mit dem Uribismo und prangert die schlechte Umsetzung des Friedensabkommens an. Petro plant, das Friedensabkommen mit der FARC (Revolutionäre Streitkräfte Kolumbiens) tatsächlich umzusetzen und die Gespräche mit der ELN-Guerilla (Nationale Befreiungsarmee) wieder aufzunehmen.
Das linke Bündnis strebt außerdem die Abkehr vom extraktivistischen Wirtschaftsmodell an. Stattdessen soll das zukünftige Wirtschaftsmodell auf einer nachhaltigen industriellen und landwirtschaftlichen Produktion beruhen: „Die erste Entscheidung, die ich als Präsident treffen werde, ist die Einstellung der Auftragsvergabe für die Ölgewinnung in Kolumbien. Es ist eine klare Botschaft: Wir bewegen uns auf eine produktive Wirtschaft zu, nicht auf eine extraktivistische“, so Präsidentschaftskandidat Petro im Interview mit El Tiempo. Die Entprivatisierung des Bildungs-, Renten- und Gesundheitssystems sind zentrale Punkte des Wahlprogramms, um die ökonomische Ungleichheit im Land zu bekämpfen.
Die Hoffnung der Mitte, das Bündnis Centro Esperanza, erhielt neun Prozent der Sitze im Kongress. Es handelt sich dabei um ein Bündnis von kleinen sozialdemokratischen Bewegungen. Dessen Zugpferd ist die Mitte-links-orientierte Alianza Verde, die Partei der derzeitigen Bürger- meisterin von Bogotá, Claudia López. Die Liste für den Kongress führte Humberto de La Calle, Chefunterhändler des FARC-Friedensabkommens. De La Calle genießt unter Akademiker*innen und der progressiven Elite zwar große Sympathien. Die meisten Stimmen für seine Koalition erhielt jedoch ein junger YouTuber namens Jota Pe Hernández, der mit seiner hohen Stimmenzahl sogar die eigene Partei überraschte.
Das Ergebnis der Mitte-Koalition ist auch für die künftige Regierungsbildung relevant. Denn sollte der linke Kandidat Petro die Präsidentschaftswahl am 29. Mai gewinnen, kann sein Bündnis Pacto Histórico trotz des Erfolgs bei den Wahlen keine absolute Mehrheit im Kongress bilden und daher nicht allein regieren. Es gilt also als sehr wahrscheinlich, dass Petros Pacto Histórico zusammen mit Centro Esperanza und anderen Minderheiten ein Mitte-links-Bündnis bilden müsste. Dazu gehört auch die Ex-FARC-Partei Comunes, die, ungeachtet ihrer Wahlergebnisse, bis 2026 zehn Sitze im Kongress erhält. Zusammen würde dieses Bündnis jedoch höchstens ein Drittel des Kongresses ausmachen – nicht ausreichend also, um eine absolute Mehrheit zu erreichen.
Fajardo als Präsidentschaftskandidat der Mitte gilt als wenig erfolgversprechend
Die aktuelle Regierungskoalition musste jedoch bei der Kongresswahl schwere Einbußen hinnehmen. Das Fehlen einer politischen Identität, die katastrophale Arbeit der Regierung Iván Duques und die zunehmende Abneigung gegen ihre Klientelpolitik haben die rechten Parteien Unidad Nacional, Cambio Radical und Centro Democrático stark geschwächt. Tot, wie manch einer vorausgesagt hatte, ist der rechtsextreme Uribismo trotz der erlittenen Verluste aber nicht.
Die Rechte erleidet Verluste, doch ein Königsmacher ist geboren
Der größte Verlierer indes ist die rechte Partei Centro Democrático, die vom umstrittenen Ex-Präsidenten Álvaro Uribe Vélez (2002-2010) gegründet wurde und auch den derzeitigen Präsidenten stellt. Gewann die Partei 2018 noch 19 Prozent der Sitze im Kongress, sind es heute nur noch 9,5 Prozent.
Hauptverantwortlich für diese Verluste ist Uribe selbst: Der ehemalige Präsident ist aufgrund seiner Verstrickungen mit der Justiz in Verruf geraten, weshalb er 2020 aus dem Senat ausscheiden musste und momentan kein politisches Amt innehat. Doch auch das negative Image der Regierung Duques hat für große Verluste gesorgt (siehe LN 573).
Uribes Partei befürwortet eine militärische Lösung von bewaffneten Konflikten, sieht die nationale Sicherheit als Pflicht aller Bürger*innen an, ermutigt zur Selbstverteidigung und unterstützt umfassenden Landbesitz. Sie betrachtet die linke Opposition als terroristische Gefahr und war Hauptgegner des Friedensabkommens. Die meisten ihrer Wähler*innen sind Menschen, die unter der Gewalt der Guerilla gelitten haben.
Denkfabriken wie PARES hatten im Vorfeld der Wahlen das Ende des Uribismo vorhergesagt. Ganz so scheint es sich jedoch nicht bewahrheitet zu haben: Trotz der Verluste wurde etwa die der Partei angehörige Senatorin María Fernanda Cabal die meistgewählte Frau im Kongress. Cabal ist in mancher Hinsicht extremer als Uribe selbst: Sie strebt den Verkauf von Schusswaffen an die Zivilbevölkerung nach US-amerikanischem Vorbild an und plädiert offen für den Einsatz tödlicher Gewalt gegen Demonstrierende.
Die einzige Partei aus der Regierungskoalition, die ihren Anteil leicht steigern konnte, war die konservative Partido Conservardor, die sich von 12,5 auf 14 Prozent verbesserte. Ihre stärkste Figur ist die derzeitige Außenministerin Marta Lucía Ramírez. Die konservative Partei verteidigt die traditionelle heterosexuelle Familie, die katholische Religion, Sozialkonservatismus und Neoliberalismus. Trotz des Erfolgs der Konservativen fielen die derzeitigen Regierungsparteien von etwa 66 auf 44 Prozent. Damit verlieren sie die Mehrheit, die sie benötigen, um in beiden Häusern des Kongresses zu regieren (siehe Grafiken).
Die Abstimmung über die Präsidentschaftskandaditur der Rechten gewann Federico Gutiérrez, ehemaliger Bürgermeister von Medellín. Das rechte Lager, das ihn unterstützt, räumt ihm als Einzigem Chancen ein, Petro zu schlagen. Doch Gutiérrez‘ größte Schwäche ist die Unterstützung, die er durch den Uribismo erhielt. Viele sehen in ihm daher einen Nachfolger Iván Duques.
Die letzte große Partei im rechten Lager ist die liberale Partido Liberal. Ihr Anführer, Cesar Gaviria, war zwischen 1990 und 1994 Präsident. Er war derjenige, der den Neoliberalismus in Kolumbien einführte. Heute ist seine Partei mit 15 Prozent der Sitze neben dem Pacto Histórico eine der stärksten Kräfte im Kongress. Derzeit arbeitet die Partido Liberal unabhängig von Regierung und Opposition. Manchmal stimmt sie für Regierungsvorschläge, manchmal dagegen. Bislang war sie nicht von allzu großer Bedeutung, war die Regierungsmehrheit doch auch ohne sie gesichert.
Mit der neugewählten politischen Landschaft ändert sich nun alles. Die linke Mitte verfügt über 33 Prozent der Sitze im Kongress, die Rechte über 44 Prozent. Die liberale Partei könnte daher den Ausschlag in die eine oder andere Richtung geben und entweder eine knappe Mehrheit für ein mögliches Mitte-links-Bündnis oder eine sehr komfortable Mehrheit für die Rechten erzielen. Über die Ausrichtung der Partei wird in den kommenden Monaten intern debattiert, da sich die Führungspersönlichkeiten noch nicht einig sind. Sicher ist: Wer auch immer die Präsidentschaftswahl gewinnt, wird sich auf große Kompromisse einstellen müssen. Denn in einer solch privilegierten Situation wird die Partido Liberal sicherlich das Ziel verfolgen, mehrere Namen im Kabinett des nächsten Präsidenten zu bestimmen.
Im Repräsentantenhaus werden auch die kleineren Parteien für die Bildung von Mehrheiten entscheidend sein. Die meisten von ihnen sind die 16 Vertreter*innen aus Organisationen der Opfer des bewaffneten Konflikts, die dieses Jahr zum ersten Mal Sitze im Kongress bekommen haben, wie es das Friedensabkommen vorsieht.
Derweil blieben die Wahlen von Vorwürfen des Wahlbetrugs überschattet. Bereits zuvor hatten mehrere Politiker*innen der Mitte-Koalition Centro Esperanza den Direktor des kolumbianischen Wahlamts Alexander Vega dafür kritisiert, dass er keine Prüfungen der Wahlsoftware zuließ. Als Reaktion auf die Kritik entgegnete Vega, diejenigen, die dem System nicht trauten, sollten sich gar nicht erst zur Wahl stellen (siehe LN 569/570). Eine Aussage, die zu noch mehr Misstrauen und Zweifel an der Transparenz der Wahlen führte.
Das Gespenst des Wahlbetrugs bleibt
Aus Protest kündigte Petro anschließend an, dass er nicht länger an weiteren Präsidentschaftsdebatten teilnehmen werde, da die Transparenz nicht gewährleistet sei. Der Aufschrei war so groß, dass das Wahlamt seine Entscheidung am nächsten Tag zurückzog. Dennoch fordern Teile der Linken, der Mitte und der Rechten aufgrund des Fehlers bei der ersten Auszählung und des steigenden Misstrauens den Rücktritt von Vega. Je näher die Präsidentschaftswahlen rücken, desto mehr wächst also jener Argwohn gegenüber dem Leiter des Wahlamts.
Der Vorwurf eines möglichen Wahlbetrugs spannt die kommenden Präsidentschaftswahlen zusätzlich an, denn er kommt zu einem bereits äußerst polarisierenden Duell noch hinzu: zwischen Federico Gutiérrez als Vertreter einer geschwächten Rechten und Gustavo Petro als Anführer einer Linken, die so stark ist wie nie zuvor.