Kolumbien | Nummer 321 - März 2001

“Neuer Horizont“ für die Stadt der Flüchtlinge

Eine kolumbianische Region muss eine Zukunft zwischen Krieg, Drogen und Drogenkrieg wählen

Die Stadt Florencia im Süden Kolumbiens ist Hoffnung für viele Flüchtlinge. Dieses Jahr werden dort einige nationale und internationale Nichtregierungsorganisationen aktiv, um die prekäre Situation der Flüchtlinge zu verbessern. Dennoch verspricht dieser Einsatz keine langfristige Lösung, da der eigentliche Alptraum erst noch beginnt, wenn vom Militär der so genannte Antidrogenfeldzug inszeniert wird.

Tommy Ramm

Die Sekretärinnen von William Sánchez sitzen gelangweilt hinter ihren Schreibtischen. Es ist kurz vor zwölf, bei der Hitze arbeitet man gewöhnlich auf Sparflamme. Zumal, wenn nur im Büro des Chefs die Klimaanlage surrt. Und viel zu tun gibt es offensichtlich auch nicht. Die Stühle im Gang sind unbesetzt.
Es handelt sich um die personería, die Institution, die in Kolumbien die Rechte der Bevölkerung vertritt. Und Rechtsverletzungen gibt es in diesem Land zuhauf, nur hat man schon lange aufgehört, ihnen ernsthaft nachzugehen. Dass es sein Büro trotzdem gibt, scheint nicht Sanchez´ Schuld zu sein, auch wenn es so aussieht, als wolle er sich mit seinem permanenten Grinsen dafür entschuldigen.
Während der Mann mit dem Goldkettchen und Flohmarktutensilien auf dem Schreibtisch zu sprechen beginnt, zeigt er auf die bewohnten Hügel hinter seinem Fenster. „Nun, täglich kommen hier fünf Familien an, die vom Land geflüchtet sind. Ach was, acht!“, korrigiert er sich. „Sehen sie dort, die ganzen Viertel sind in den letzten 15 Jahren entstanden. Die ganze Stadt besteht aus Flüchtlingen.“
Er beginnt sich warm zu reden. Schließlich sitzt noch ein Vertreter der Katastrophenhilfe der deutschen Diakonie im Raum, die Flüchtlingsprojekte plant. „Ganze Stadtteile sind illegal. Wir haben hier prozentual die meisten Flüchtlinge in Kolumbien. Das liegt am Koka und der Gewalt.“

Grünes Koka statt braune Bohnen

Die Stadt heißt Florencia. Sie liegt irgendwo zwischen bergiger Zivilisation der Andenregion und der grünen Ewigkeit der flachen Llanos, wo keiner richtig weiß, wer das Sagen hat. Das macht diese nur 150.000-Einwohner zählende Stadt zu einem strategisch wichtigen Punkt. Für alle, die in der Tragik des Landes eine Rolle spielen. Von der Guerilla bis zum Militär, vom einfachen Kokabauern bis zum großen Drogendealer.
Dabei war und ist der Drogenanbau der Herzschrittmacher, der den Rhythmus dieser Stadt diktiert. Italienische Designerläden im verkommenen Zentrum zeigen, dass, entgegen dem ersten Eindruck, Geld in der Stadt vorhanden sein muss. Offenbar so viel, um Menschen aus hunderten von Kilometern Entfernung hierher zu verschlagen.
So sollen 1999 nach dem schweren Erdbeben im Kaffeegebiet um Armenia viele Betroffene nach Florencia gekommen sein, obwohl größere Städte und erschlossenere Zonen näher lagen. Dass sie keine braunen Bohnen anbauen wollen, liegt am Ruf der Gegend. Vielmehr will man an dem Kokaanbau mitwirken, der mehr Geld abwirft als jegliche anderen Agrarprodukte.
Daher nutzen die meisten die Stadt als Sprungbrett, um ihr Glück herauszufordern. Man kommt und geht. Obwohl die Stadt erst 90 Jahre alt ist, wirkt sie abgenutzt. Viele von diesen Goldsuchern kommen jedoch nicht weit und stranden wieder in Florencia. Denn wer es mit dem Koka versucht, muss sich mit den örtlichen Machthabern arrangieren. Diese sind im Gebiet des Caquetá und weiter südlich gewöhnlich die Revolutionären Streitkräfte Kolumbiens (FARC) und mittlerweile auch in zunehmenden Maße die Paramilitärs. Viele der Bauern wollen nicht mit einer Seite kooperieren. Wer dies doch tut, wird von der anderen bedroht und sucht den Weg in die relative Sicherheit der Stadt.

Low-intensity-war auf zweitem Blick

Einige nationale und internationale Organisationen versuchen nun, in dem die Stadt umgebenden Hüttengürtel etwas aufzubauen, was die Menschen zum Bleiben bewegt. Das Internationale Rote Kreuz (IRK) und Ärzte ohne Grenzen sind präsent und arbeiten medizinisch wie logistisch in Florencia. Allerdings lautlos und unauffällig, da man den „unsichtbaren Mächten“ nicht auf die Füße treten will.
„Was hier herrscht, ist ein low-intensity-war. Auf den ersten Blick scheint alles friedlich, aber mit der Zeit merkt man, dass hier Krieg herrscht,“ beschreibt Jan Schütt vom IRK die permanente Spannung in der Stadt, die sich hin und wieder entlädt.
Im Dezember etwa explodierten in Häusern zwei Bomben, die dem Konflikt zwischen Guerilla und Paramilitärs zugeschrieben wurden. Pro Woche wurden im Schnitt sechs Menschen erschossen, aufgrund der gleichen Rivalität. Zwei Lokal-Journalisten wurde ihr Beruf zum Verhängnis, weil sie zu viel über die Situation in der Stadt berichtet hatten. Ende Januar soll es jedoch ungewöhnlich still geworden sein. Nach Ansicht vieler deshalb, weil die Paramilitärs nun die Stadt komplett kontrollieren. Wer weiß, wie lange.
Das IRK-Büro in Florencia besitzt momentan eine Schlüsselstellung. Gut hundert Kilometer östlich beginnt die entmilitarisierte Zone, in der die FARC seit zwei Jahren mit der Regierung verhandeln. Geplant ist nun eine umfangreiche Geiselfreilassung und ein Gefangenenaustausch, an deren Verhandlungen Schütt und das IRK maßgeblich beteiligt waren. „Das Geschenk wird nun wohl mein Nachfolger entgegennehmen“, sagt er etwas wehmütig.
Nach 14 Monaten wird Schütt seine Arbeit als Koordinator des IRK an seinen französischen Nachfolger abgeben müssen. Das verlangen die IRK-Regeln. Doch wirklich nachtrauern tut er seinem Job in Florencia nicht. Schließlich muss man permanent auf Tuchfühlung sein mit den Konfliktparteien. Und dass diese nicht immer die Regeln beachten, beweisen zwei Vorfälle vom Herbst letzten Jahres. Im Chocó, im Nordwesten Kolumbiens, überfielen Paramilitärs einen Krankentransport des IRK, der eine verletzte 17-jährige Guerillera ins Hospital bringen sollte. Sie wurde vor den Augen der Rotkreuz-Mitarbeiter erschossen. Kurze Zeit danach rächten sich die FARC im südlichen Putumayo und taten das Gleiche mit einem Paramilitär.
Seitdem die „Paras“ vor einigen Monaten begannen, großflächige Gebiete im Süden zu besetzen und die Guerilla zurückzudrängen, finden die internationalen Institutionen hin und wieder Leichen an Straßenrändern. Dabei handelt es sich meist um angebliche Guerillasympathisanten, mit denen die Paras von Ort zu Ort selektiv aufräumen, sofern sie nicht schon vorher geflüchtet sind.
Das plötzliche und massive Auftauchen dieser Ultrarechten hat verschiedene Gründe: Einerseits wollen sie die Kontrolle erlangen, um die 15.000 Hektar Kokafelder im Caquetá für ihren Drogenhandel zu nutzen. Andererseits haben sie sich zum Ziel gesetzt, die Guerilla zu vertreiben. Dass sie das Hand in Hand mit der Armee tun, bezweifelt schon lange niemand mehr.

Schweigepflicht für NGO

Joan Carles López ist seit letztem Oktober offizieller Administrator von Ärzte ohne Grenzen in Florencia. Der Katalane arbeitete vorher in Bosnien und Tschetschenien und ist nun für die Koordination der zehn Angestellten zuständig, die im Caquetá operieren.
Bevor er über die Arbeit zu sprechen beginnt, versucht er, seinen Vorgesetzten in Bogotá wegen einer Erlaubnis zu erreichen. Vor einigen Monaten wurde allen Mitgliedern eine Schweigepflicht auferlegt. Ein französischer Mitarbeiter hatte sich im Umgang mit dem Konflikt zu blauäugig verhalten, eckte bei der ERG-Guerilla an und war für sechs Monate lang entführt worden.
Über den Krieg hier mag er nicht reden, aber hin und wieder braust es in ihm auf. Über den scheinbar ausweglosen Konflikt, die vertriebenen Bauern, die nach Florencia kommen, die Toten, die die Stadt und das Land hinterlassen. „Wer weiß schon, wie viele Flüchtlinge in die Stadt kommen. Es gibt genug, die sich nicht bei den Behörden melden. Aus Angst, dass diejenigen sie ausfindig machen, die sie auf dem Land bedroht haben,.“
Ärzte ohne Grenzen sind zwar nicht so stark vertreten wie das IRK, aber sie gehen mit ihrer Arbeit am weitesten. Ein Team ist gerade an der Südgrenze der Provinz mit Mauleseln unterwegs, um drei Tage entlegene Dörfer zu erreichen. Denn von medizinischer Versorgung ist dort weit und breit keine Spur. Morgen wird López sie in dem Ort Solito abholen. Was ihn auf der dreistündigen Fahrt erwartet, weiß er nicht. Er hat nur gehört, dass vor zwei Tagen die Paramilitärs in das Dorf gekommen sind und sich Scharmützel mit der Guerilla geliefert haben.
Zuvor jedoch schaut er noch einmal in Nueva Colombia (Neues Kolumbien) vorbei, wo gerade ein ambulantes Team von Ärzten ohne Grenzen löchrige Kinderzähne behandelt und Gesundheitskontrollen durchführt. Der Stadtteil ist der größte Florencias und gleichzeitig einer der unerschlossensten, was die Infrastruktur betrifft. 1.200 Familien leben in an Hänge gekrallten Holzhütten. In einigen Sektoren gibt es kein Wasser, Strom wird von den Oberleitungen illegal abgezapft.
Alfonso hat 67 Jahre auf dem Buckel und glaubt eigentlich nicht, dass sich hier irgendetwas ändern wird. Jedenfalls nicht, solange er lebt. Über den Namen seines Viertel kann er nur spöttisch lachen. Vor zwölf Jahren kam er mit seiner 17 Jahre jüngeren Frau nach Florencia, die kurz danach noch ein Kind bekam. „Ich habe in Rosales gewohnt und gearbeitet. Dann kam die Guerilla in den Ort. Ich wollte damit nichts zu tun haben, sie wissen ja, was hier passieren kann,“ erklärt er sich in seiner von Ritzen durchzogenen Hütte. So strandete er hier und muss nun auch noch Miete zahlen für knappe 20 Quadratmeter.

Gifteinsätze ohne Einschränkung

Dass man in Florencia offensichtlich gegen Windmühlen ankämpfen wird, verspricht die Zukunft. Daran ändert auch das gestiegene Engagement der NROs nichts. Denn man leistet hier bereits vor der angekündigten Katastrophe humanitäre Hilfe, nicht danach. Während sich europäische Länder verstärkt sozial engagieren, planen kolumbianische und US-amerikanische Militärs in der nahe gelegenen Basis Narania den Krieg. Mitte Januar sind die letzten der 33 Huey-Hubschrauber aus den USA auf den Basen angekommen, die den Antiguerillakrieg und die Besprühungen der Kokafelder intensivieren sollen. Dabei sprengen letztere bereits jetzt jeden Rahmen. Laut den offiziellen Verlautbarungen finden die Giftflüge selektiv statt. Bauern und Indígenas berichten allerdings Gegenteiliges: Demnach werden die Gebiete großflächig mit Pestiziden besprüht. Viele tausend Hektar werden so pro Jahr vergiftet. Zwischen Mais- oder Kokafeld macht man keinen Unterschied. Die indigenen Cofanes bekamen dies im Dezember zu spüren. Die Flüsse und Felder, die zu einer offiziell unterstützten Kooperative gehörten, wurden auf lange Zeit verseucht, obwohl sie mit Koka nichts zu tun hatten.
Einziger Ausweg für die Bewohner ist die Flucht. Viele Bauern sind bereits aus diesem Grund in Florencia, sie werden allerdings nicht als desplazados anerkannt. Giftbesprühungen gelten nicht als Fluchtgrund.

„Neuer Horizont“ verspricht Massenflucht

Zudem ist das Training neuer Spezialeinheiten beinahe abgeschlossen, so dass sich solche verheerenden Operationen in den nächsten Wochen auch auf dem Boden verstärken werden.
Untrügliches Anzeichen dafür ist die Präsenz der US-Amerikaner. Laut dem hoch dekorierten General Arias Vivas, der gerne gegenüber der Presse plaudert, sollen sich allein in seiner Basis nahe Florencia 450 US-Piloten und Ausbilder befinden. Die gleiche Anzahl befindet sich nochmals in Tres Esquinas. Offiziell arbeiten aber weiterhin nur 300 „Berater“ im Land.
Deren Masterplan für den Süden, vorwiegend für die Provinzen Putumayo und eben Caquetá, heißt zynischerweise „Neuer Horizont“. Er ist das Prunkstück der militärischen Komponente im Plan Kolumbien, den die USA mit 1,3 Milliarden US-Dollar finanzieren. Wie dieser für die Bevölkerung aussieht, malte kürzlich die Menschenrechtsorganisation CODHES aus. Man rechnet im Putumayo mit bis zu 190.000 Flüchtlingen, mehr als die Hälfte der dortigen Bevölkerung. Entweder ziehen sie über die Grenze nach Ecuador, oder Richtung Norden. Und die erste größere Stadt, auf die sie dann treffen werden, ist Florencia.

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