Brasilien | Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002

Neues Outfit der PT vor den Wahlen

Die Chancen für den Präsidentschaftskandidaten Lula, stehen nach wie vor gut

Trotz großem Widerstand der Finanzmärkte, wenigen parteipolitischen Verbündeten im Land und dem internen Identitätskampf: Die PT und ihr Spitzenkandidat Lula nähern sich dem Sieg im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahlen am 6. Oktober. Doch noch ist nichts entschieden.

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Weiterhin führt der Kandidat der Partido dos Trabalhadores (PT, Arbeiterpartei) Luiz Inacio Lula da Silva, souverän alle Umfragen an. Dass er den ersten Wahlgang übersteht und mit guten Aussichten in die zweite Runde zieht, steht außer Zweifel – genau so wie die Tatsache, dass er als Kandidat einer linken Partei mit sozialistischer Vergangenheit immer noch bei vielen Wahlberechtigten Widerstand hervorruft. Die Strategie der PT ist nun gänzlich darauf ausgerichtet, diesen Widerstand zu minimieren. Es ist schon erstaunlich, was politisches Marketing vermag: Lula erscheint in den Fernsehdebatten wie ein englischer Lord, immer zurückhaltend, ruhig, Vertrauen ausstrahlend, jede radikale Rhetorik vermeidend. Die Anstrengungen, Lula und die PT auf Regierungsfähigkeit zu trimmen, laufen auf vollen Touren und zeigen sichtbare Effekte.

Ist Lula schon Präsident?

Politisches Marketing spielt eine Schlüsselrolle in der Strategie der PT. Der Wahlkampfmanager Lulas, Duda Mendonça, gilt in Brasilien als der beste seines Faches und war durch seine Kampagne für den extrem rechten Politiker und ehemaligen Bürgermeister von São Paulo, Maluf, berühmt geworden. Duda Mendonça hat Lula ein neues Outfit (seriös, aber nicht gezwungen) und ein neues Auftreten verschafft. Tatsächlich posiert Lula schon wie ein Präsident, der kaum in die Niederungen des Wahlkampfes hinabsteigt. Diese Strategie hat sich bisher bewährt, Lula bleibt sicher bei 35 Prozent der Stimmen, wird aber bisher auch geschont, weil die anderen Kandidaten untereinander verbissen um den zweiten Platz kämpfen.
Aber natürlich macht das Marketing allein keinen Präsidenten. Die PT hat eine umfangreiche und komplexe Strategie entwickelt, um eine Präsidentschaft Lulas möglich zu machen.

Allianzen – oder rein ins politische Bordell

Nach den Erfahrungen der letzten Wahlen war den StrategInnen in der PT von Anfang an klar, dass Lula nur gewinnen kann, wenn er von einem Bündnis gestützt wird, das bis ins bürgerliche Lager hinein reicht. Die Bündnispolitik ist traditionell einer der umstrittens-ten Punkte in der Partei. Die Parteilinke hat Bündnisfragen immer wieder als politische Grundsatzfragen behandelt und schwere Streits entfacht. Denn auch wenn die politische Logik die Notwendigkeiten von Wahlallianzen leicht verständlich macht, so ist doch die Auswahl eines geeigneten Bündnispartners angesichts der politischen Konstellationen in Brasilien keineswegs einfach. Der PT ist es nicht gelungen, eine „Einheitsfront“ aller oppositionellen Parteien zu Stande zu bringen, weil Ciro Gomes und Garotinho auf eine eigene Kandidatur insistierten. Damit war der Markt für Bündnispartner fast leergefegt, die PT drohte alleine ins Rennen zu gehen und Lula drohte, in diesem Fall nicht zu kandidieren. Übrig blieb schließlich die PL, eine Partei, die insbesondere als Sammelbecken evangelischer Kirchen bekannt war: Anerkennen muss man, dass sie in allen Jahren in Opposition zur Regierung stand. Die Parteilinke war natürlich erzürnt, vor allem weil die PL in vielen Bundesstaaten mit historischen Feinden der PT verbunden ist.
Die Führung der PT hatte mit dem Bündnis aber ein wichtiges Ziel erreicht: ein deutliches Zeichen für die Öffnung der PT ins bürgerliche Lager zu setzen. Der Vize Lulas, José Alencar, wird von der PL gestellt. Lula selbst sieht die Bedeutung dieser Konstellation so: „Der Senator José Alencar … ist ein integrer Mensch, ein erfolgreicher Unternehmer, der wie ich von unten kommt, ein Verteidiger der nationalen Industrie und der Veränderungen, die wir in Brasilien machen werden. Zum ersten Mal in der Geschichte Brasiliens führt eine Partei und ein Kandidat der Arbeiter eine Liste an, und hat als Vize einen wichtigen Unternehmer.“
Neben dieser offiziellen Allianz hat Lula von einer Reihe wichtiger PolitikerInnen informelle Unterstützung erlangt. Dies sind insbesondere DissidentInnen der PMDB, einer Partei, die den Regierungskandidaten Serra unterstützt. Leider finden sich darunter äußerst umstrittene Figuren der brasilianischen Politik, wie der Ex-Governeur von São Paulo, Orestes Quercia, ein historischer Gegner der PT, dessen Name zu einem Synonym („Quercismo“) für korrupte Regierungspolitik wurde. Besonders symbolisch und problematisch ist aber die Unterstützung Lulas durch den Ex-Präsidenten José Sarney, der 1990 völlig diskreditiert sein Amt verließ.
Viele KommentatorInnen haben diese Unterstützungen als einen Verlust der ‘Unschuld’ der PT gesehen. Die PT hatte sich immer als die ethische Alternative zur allgemeinen Verkommenheit und Korruption der brasilianischen Politik verstanden und ist als solche gewählt und geachtet worden. Nun ist sie auf dem Weg, eine Partei wie jede andere zu werden, die nach politischen Kalkülen mit jedem ins Bett steigt.
Die Rechtfertigung der PT-Führung ist nüchtern: Wer uns unterstützen will, ist willkommen. Unterstützungen wie die von Sarney beruhen nicht auf Kungeleien, es ist eine einseitige Unterstützungserklärung für unseren Kandidaten, ohne dass wir dafür irgendwelche Abstriche von unserem Programm machen.
Der Hintergrund ist auch klar: die PT wird keine Mehrheit im Parlament erringen, eine Regierung Lula wird also von Bündnissen abhängen. Man kann zwar von idealen Bündnissen träumen, in Wirklichkeit wird man aber von den realen, im Kongress vertretenen politischen Kräften abhängig sein. Und die PT ist willens, mit diesen Kräften die Regierungsfähigkeit zu erlangen – das ist das klare Signal, auch um zu zeigen, dass Lula nicht auf populistische Abenteuer aus ist.

Nur den Markt nicht erschrecken

Die größte Gefahr für Lula droht vielleicht nicht von seinen Konkurrenten sondern von der augenblicklichen wirtschaftlichen Situation. Die schwere Finanzkrise, die Brasilien erschüttert, wurde von schlecht informierten oder böswilligen KommentatoreInnen mit dem Anstieg Lulas in den Wahlumfragen in Verbindung gebracht. Jeder Nachfolger des derzeitigen Präsidenten Cardoso wird Schwierigkeiten mit der enormen internen wie externen Verschuldung haben. Tatsächlich kann selbst eine nur herbeigeredete Vertrauenskrise schwer wiegende Probleme für die zukünftige Regierung aufwerfen.
In dieser Situation haben Lula und die PT alles versucht, um zu signalisieren, dass sie alle existierenden Verträge respektieren und keine finanzpolitischen Abenteuer unternehmen werden. Präsident Cardoso traf sich mit allen Präsidentschaftskandidaten, um ihnen eine, wenn auch indirekte, Unterstützung des letzten Abkommens mit dem IWF abzuringen – mit Erfolg.
Die „vertrauensbildenden Maßnahmen“ scheinen inzwischen bis zur Wallstreet vorzudringen. In einer Analyse der aktuellen Situation stellt Merryl Lynch fest: „Die drei wichtigsten Kandidaten (Lula, Ciro und Serra) haben glaubwürdig dargestellt, dass sie von der Wichtigkeit der Preisstabilität, einer ausgeglichenen Haushaltspolitik und der Achtung der Verträge überzeugt sind.“ Und mit Recht sehen die AutorInnen voraus, dass der künftige Präsident das Land in einem „Stressszenario“ übernehmen wird. In diesem Schwitzkasten der Finanzmärkte wird wohl niemand allzu viel Unheil anrichten können: Wer auch immer der nächste Präsident wird, „er wird gezwungen sein, seine Wünsche nach Änderungen an die politischen und ökonomischen Gegebenheiten anzupassen“ – wie eine andere Analyse aus den USA konstatiert.
Tatsächlich hat das Werben um das Vertrauen der Märkte dem Diskurs Lulas fast jegliche oppositionelle Schärfe genommen. Viele BeobachterInnen haben eine Angleichung der drei Kandidaten festgestellt. Lula und Ciro Gomes mäßigen ihre Oppositionshaltung, während Serra sie verstärkt, um seine Unabhängigkeit von der aktuellen Regierung zumindest vorzugeben. All das hat zu manch sarkastischen Kommentaren geführt. „ Lula versucht alles, um der Anti-Lula dieser Wahlen zu werden“, stellte ein Kritiker der Folha de São Paulo fest.

Gute Absichten – traditionelle Leitbilder

Die PT hat viel Arbeit und Mühe darauf verwandt, programmatische Richtlinien für eine künftige Regierung zu erarbeiten. Herausgekommen ist eine (teilweise
beachtliche) Sammlung guter Absichten und recht traditioneller Leitbilder, die vor allem die Wiederaufnahme einer wachstumsorientierten Wirtschaftspolitik verteidigen. Antonio Palocci, Bürgermeister von Riberão Preto und Koordinator des Regierungsprogramms, fasst die Quintessenz des Projektes der PT folgendermaßen zusammen: „Es ist möglich, ein Projekt des Wirtschaftswachstums zu verwirklichen, bei dem die soziale Frage das strukturierende Element ist und nicht irgendetwas neben dem Prozess. Das heißt, als Wachstumsbasis den internen Markt des Massenkonsums zu sehen, was die Integration von Millionen Brasilianern bedeutet, die heute ausgeschlossen sind.“ Auf diesen Markt des Massenkonsums müssen öffentliche und private Investitionen ausgerichtet werden. „Das ist die zentrale Basis unseres Projektes.“ Palocci unterstreicht weiter, dass das Projekt der PT nicht mit Rezepten der Vergangenheit zu realisieren ist. „Die PT weiß, dass die globalisierte Welt eine Realität und nicht eine Option ist. Aber um in einer globalisierten Welt zu bestehen, muss Brasilien die Exporte fördern und eine wettbewerbsfähige Politik der Importsubstitution aufbauen.“ Besondere Priorität soll dabei die Förderung des Agrarsektors haben.
Solche Aussagen heben die PT tatsächlich kaum noch von anderen Parteien ab. Am ehesten ist noch in der Betonung der aktiven Rolle des Staates und der Hervorhebung der „nationalen Frage“ ein eigenes Profil erkennbar. Die PT will „das Nationale“ als eine Achse ihres Entwicklungsmodells sehen. Äußerst aufschlussreich ist die Antwort, die Palocci auf die Frage gibt, wie die PT sich heute als sozialis-tische Partei definiert: „Die Übersetzung eines sozialistischen Projektes zeigt sich heute in der Notwendigkeit, Integrationspolitik zu betreiben und die schwächsten Elemente der Gesellschaft zu schützen. Das nur auf makroökonische Ziele fixierte Anpassungsprogramm schwächt die Kleinproduzenten, die kleinen Unternehmer, die Arbeiter, die Landlosen, diejenigen die wenig Land haben. Alle diese Sektoren sind schutzlos. Die große Antwort, die eine sozialistische Partei geben kann, ist der Aufbau einer Politik der Integration, die die Entwicklung der Nation als Basis hat: die nationale Frage, die demokratische und die soziale Frage. Diese drei Achsen sind es, die einer linken Partei den Inhalt geben, um das Land in Richtung einer gerechteren Gesellschaft zu regieren. Das ist die Tradition der sozialistischen Bindung der PT.“
Die programmatische Ausrichtung ist auch in der politischen Propaganda wiederzuerkennen, etwa wenn Lula sich beklagt, dass der Auftrag für eine Bohrplattform von Petrobras nach Singapur vergeben worden ist.

Angst und Hoffnung

Natürlich können weder Bündnispolitik noch programmatische Aussagen die Linken in der Partei und KritikerInnen außerhalb der Partei begeistern. Es ist relativ einfach, Spott über die Bemühungen von Lula und die Regierungsfähigkeit der PT auszuschütten. Aber viel unbequemer ist die Frage, wie unter heutigen Bedingungen ein linkes Regierungsprojekt in Brasilien aussehen kann. Offensichtlich steht keine revolutionäre Umwälzung und kein radikaler Bruch mit dem Kapitalismus auf der Tagesordnung. Die entscheidende Frage ist, ob es einen Spielraum für soziale und demokratische Reformen gibt, so dass sich eine Regierungsübernahme lohnen kann.
Ausgehend von dieser Frage gibt es tatsächlich weiterhin gute Gründe, auf Lula zu setzen. Und nur so ist auch verständlich, warum eine so anachronistisch erscheinende Figur wie ein bärtiger Gewerkschaftsführer heute die besten Aussichten hat, Präsident Brasiliens zu werden. Folgende Argumente beleben jedoch die Hoffnungen auf ein Reformprojekt:
Brasilien ist ein extrem ungerechtes Land. Die Einkommensverteilung ist eine der ungerechtesten der Welt und unterscheidet sich von der vieler anderer Staaten. Hier gibt es Handlungsspielraum.
In Brasilien hat es nie eine umfassende Landreform gegeben. Trotz aller aktuellen Kritik der Landlosenbewegung MST an dem jetztigen Kurs der PT – die Aussichten auf eine weitgehende Landreform sind berechtigt und realistisch. Sie berühren heute nicht mehr den Kern des kapitalistischen Systems.
Das politische System Brasiliens ist extrem korrupt. Auch wenn eine wachsende Partei nicht nur Heilige in ihren Reihen hat – die PT steht immer noch für eine ethische Erneuerung. Diese Hoffnung beruht nicht auf Deklamationen, sondern auf den Erfahrungen der zahlreichen PT-Verwaltungen im Land.
Die Gewalt ist nach der Arbeitslosigkeit die größte Sorge der BrasiIianerInnen. Die Reste der Popularität der derzeitigen PT-Gouverneurin von Rio schwinden gerade im Krieg zwischen und mit den Drogenbanden dahin. Die PT hat jedoch ein ausgezeichnetes Programm zur inneren Sicherheit vorgelegt, das zusammen mit den anerkanntesten MenschenrechtlerInnen Brasiliens ausgearbeitet wurde. Die Stimmen für die PT sind auch die Stimmen derjenigen, die in einer extrem schwierigen Lage nicht auf barbarische Lösungen setzen.
Die PT hat eine klar kritische Position zur Installation einer amerikanischen Freihandelszone (ALCA). Es ist unter den heutigen Bedingungen schwierig und keineswegs banal, in Lateinamerika eine Alternative zur völligen Unterordnung unter die USA zu entwickeln. Die PT hat hier eindeutig Position bezogen, sie steht zumindest für den Versuch, eine von den USA möglichst unabhängige Politik zu verfolgen. Hier wird die Betonung der „nationalen Frage“ auch verständlicher.
Diese möglichen Eckpfeiler einer Regierung Lula machen ihn weiterhin als Symbol von Änderungen populär. Die große Befürchtung bleibt allerdings, dass das finanzpolitische Erbe der künftigen Regierung so dramatisch sein wird, dass für Reformprojekte kaum Raum existiert. Um die Bedienung der Schulden zu sichern, sieht das Abkommen mit dem IWF einen Haushaltsüberschuss von 3,88 Prozent vor. Dies ist die dramatische und taurige Last, die eine Regierung hinterlässt, die immer solide Finanzpolitik auf ihre Fahnen geschrieben und alle Rezepte des IWF brav verfolgt hat.

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