Nummer 339/340 - Sept./Okt. 2002 | Uruguay

Nicht mal mehr Kaffee fürs Parlament

Der Tango-Effekt hat Uruguay erreicht

Uruguay durchlebt zurzeit die schwerste Finanzkrise in der Geschichte des Landes. Allen positiven Prognosen zum Trotz droht nun auch diesem vermeintlich „guten Schüler“ des Weltwährungsfonds (IWF) die Zahlungsunfähigkeit. Doch die Bevölkerung bleibt bisher relativ ruhig.

Oliver Commer

Die Regierung Uruguays ordnete Ende Juli aus Verzweiflung über die dramatisch ansteigende Kapitalflucht und die unausweichlich scheinende Zahlungsunfähigkeit des Staates die Schließung aller Banken an. Dieser bisher einmalige Vorgang verdeutlicht, dass die wirtschaftliche Situation unüberschaubar geworden ist, und die seit vier Jahren andauernde Rezession einen neuen Tiefpunkt erreicht hat. Die Banken blieben nur einige Tage zu, doch die Angst vor dem „default“, dem Konkurs des Staates, beherrscht seitdem gänzlich die Politik und die Diskussion in den Medien. Die Auswirkungen der Krise prägen sämtliche Bereiche des Alltagslebens.
Vier inländische Banken bleiben auch weiterhin geschlossen. Sie sind akut von der Liquidation und dem Verkauf bedroht. In ihrer Not versuchen die KundInnen, die allerdings nur einen beschränkten Zugriff auf ihre Ersparnisse haben, selber mit jeweils 30 Prozent ihrer Guthaben zu EigentümerInnen zu werden, um so den Konkurs und die Kündigung von 2500 Bankangestellten zu verhindern.
Der Ende Juli neu eingesetzte Finanzminister Atchugarry kündigte an, dass zumindest für den Monat September die Auszahlung der Löhne im öffentlichen Dienst und der Pensionen gesichert sei. Das aber verdeutlicht nur die Hilflosigkeit der Regierung. In dem Land, in dem anteilsmäßig die meisten RentnerInnen Lateinamerikas leben, herrscht völlige Ungewissheit über die staatlichen Auszahlungen für Oktober und danach. Wegen des massiven Rückgangs von Steuereinnahmen, können fristgerechte Zahlungen umso weniger garantiert werden. Das spiegelt die soziale Realität des Landes und das schwindende Vertrauen in den Staat wider.

Eine Operation? Warten Sie bis nächstes Jahr!

Durch die Vermittlung der US-Regierung wurde ein Kredit des IWF von 1,5 Milliarden US-Dollar, der eigentlich ausgesetzt werden sollte, doch bewilligt und sofort überwiesen. Doch das Geld wird jetzt ausschließlich zur Deckung der laufenden Konten bzw. Sparkonten der inländischen und größtenteils noch geschlossenen Banken verwendet. Ob das zur Stabilisierung der Finanzlage und zur Vertrauensbildung in der Bevölkerung beiträgt, ist ungewiss.
In den öffentlichen Kliniken des Landes fehlen die Mittel bereits jetzt, so dass alle chirurgischen Eingriffe, mit Ausnahme von Notfällen, auf das nächste Jahr verschoben worden sind. Seit Wochen steht das gesamte akademische Leben Montevideos praktisch still. Sämtliche Universitäten werden wegen der Streichung staatlicher Zuschüsse von den Studierenden und ProfessorInnen bestreikt. Auch in den Ministerien und den Gerichten macht sich der Geldmangel deutlich bemerkbar: Es gibt kein Arbeitsmaterial, also kann kaum gearbeitet werden. Fast trivial mutet es dagegen an, dass die Gratislieferungen von Kaffee und Mineralwasser an das Parlament gestoppt wurden.

Abstürzende Währung, fallende Reallöhne

Der angeschlagenen Industrie droht durch eine Insolvenz des Staates der größte Schaden. Er ist der Hauptabnehmer von nationalen Produkten. Wenn er nicht mehr zahlt, hat das nicht abschätzbare Folgen für das ganze Land. Die Agrar- und die Bauindustrie sind bereits in großer Bedrängnis, weil die Kredite ausbleiben, zum Beispiel für Saatgut. Staatliche Investitionen sind ausgesetzt. „Der Staat, unser Hauptkunde, hat aufgehört, die laufenden Zahlungen für Bauarbeiten zu leisten. Deshalb sind die Baumaßnahmen fast zum Erliegen gekommen, und wir mussten viele Bauarbeiter entlassen. Außerdem können auch wir unsere Schulden bei den Zulieferern nicht mehr begleichen“, erläutert Ramiro Domingez, Büroangestellter eines großen Bauunternehmens in Montevideo.
Bereits im Juni wurde der festgelegte Wechselkurs zum Dollar aufgegeben, was zu einer drastischen Abwertung des Peso Uruguayo führte. Die Reallöhne haben in zwei Jahren 60 Prozent ihres Wertes verloren. Die Preise für Lebensmittel und Benzin dagegen sind stark angestiegen. Allein der Preis für Fleisch — der klassische Exportartikel Uruguays — ist im Land in knapp drei Monaten um 70 Prozent gestiegen.

Arbeitslos oder auswandern?

Die Arbeitslosigkeit steigt. Derzeit sind etwa 16,7 Prozent der Bevölkerung arbeitslos, bei einer Gesamtbevölkerung von fast 3,2 Millionen. Auch die Zahl derer, die dem Land langfristig den Rücken kehren, wächst. Allein in diesem Jahr verließen 45.000 Personen Uruguay in Richtung USA oder Europa, weil es im eigenen Land keine berufliche Perspektive mehr für sie gibt.
Nächtliche Schlangen vor den italienischen und spanischen
Auslandsvertretungen sind mittlerweile zum gewohnten Bild in Montevideo geworden. Auch José Pimentel, Mechaniker in einer Werkstatt, wird seiner Heimat Ende des Jahres den Rücken kehren, um in Florida einen Neuanfang zu versuchen. Neben den deutlich besseren Verdienstmöglichkeiten treiben ihn aber auch die generelle Unsicherheit über seine Zukunft zu diesem Schritt: „Vor zwei Jahren waren wir noch insgesamt zehn Mechaniker in der Werkstatt, jetzt sind wir nur noch vier. Immer häufiger erleben wir Tage, wo es absolut gar nichts zu tun gibt. Der Wert der Rente meines Vaters in US-Dollar ist nur noch ein Drittel von dem, was er noch vor zwei Monaten war. Was für Perspektiven gibt es da noch in diesem Land?“
Die meisten Zurückbleibenden verfügen nicht über die Mittel, um zu emigrieren. So beispielsweise Miguel Arocena, der als Pförtner umgerechnet 90 US-Dollar im Monat verdient und versucht, sich an die neue Situation anzupassen: „Gefühlsmäßig erdrückt mich die Krise, da meine Lebensqualität auf einen Schlag gesunken ist. Nach dem Anstieg der Lebensmittelpreise kann ich nur noch die notwendigsten Kosten, wie Miete, Wasser und Strom bezahlen. Das Telefon musste ich abschalten lassen.“ Schlimmer ist die Situation für Jorge Díaz, der seit zwei Jahren arbeitslos ist und sich seitdem als guarda coche durchschlägt, wie die unzähligen selbst ernannten Autowächter in den Straßen Montevideos bezeichnet werden. Sie alle hoffen auf das Kleingeld der AutofahrerInnen. „Ich habe fünf Kinder, und die wenigen Peso, die ich in den 16 Stunden am Tag auf der Straße verdiene, reichen jetzt nur noch aus, um Brot und Milch zu kaufen. Fällt etwas mehr ab, dann können wir uns noch Reis, Eier und Yerba für den Mate leisten. Aber die Leute geben einfach nichts mehr.”

Ungläubige Stille

Die Bevölkerung begegnet der Krise insgesamt mit auffallender Zurückhaltung. Trotz sporadischer Streiks der BusfahrerInnen und Bankangestellten sowie einzelner Großveranstaltungen linker Parteien, gibt es bei weitem nicht dieselben sozialen Unruhen wie im Nachbarland Argentinien. Die Plünderungen in den ersten Augusttagen in Montevideo, waren bisher einmalig. Für Fernanda Ríos, Angestellte einer Universität, lässt sich die Ruhe und das Fehlen von Ausschreitungen nur erklären, „weil dies eine einmalige Situation in Uruguay ist. Die Leute können einfach nicht glauben, dass es noch schlimmer wird.” Die nächsten Wochen werden zeigen, ob es der Regierung gelingt, das Finanzsystem wiederherzustellen oder ob sich die Situation noch weiter zuspitzen wird.


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