Nicht nur eine Band, sondern auch ein Freundeskreis
Die kolumbianische Punkrockgruppe Desarme setzt seit den 90ern auf Kollektivität statt Vereinzelung
Was motiviert euch, Musik zu machen?
Daniel: Als die Band Desarme 1993 entstanden ist, waren wir alle Jugendliche und wollten der damaligen Politik, die nur Armut, Ungerechtigkeit und Misere hervorbrachte, etwas entgegensetzen. Als Form wählten wir den Punkrock, vielleicht weil man dazu kein Musikstudium braucht. Nach und nach kamen neue Bandmitglieder dazu und die musikalische Qualität wurde immer besser, die Kritik an der Politik blieb.
Wie spiegelt die Geschichte eurer Band die verschiedenen Phasen der politischen Situation in Kolumbien wider?
Daniel: Vor kurzem haben wir uns unsere Alben und Musiktexte angeschaut. Eines der Lieder heißt „Te odiamos!“ (Wir hassen dich!). Es war dem Präsidenten Pastrana gewidmet, der zu dieser Zeit an der Macht war. Fünf Präsidentschaften vergingen und wir kritisierten eine nach der anderen. Wir wollten auf der Bühne stehen, Gruppen kennenlernen und Teil der Bewegung sein, die Kritik an den Zuständen äußert. Es ist nicht unser Lebensprojekt, sondern eher eine Ausrede, um an Orte zu kommen und mit aller Kraft der Mikrofone und Verstärker zu sagen, womit wir nicht einverstanden sind und was sich ändern soll.
Diego: Wir machen seit langer Zeit wegen genau dieser Nonkonformität Musik. Denn wir denken, wie es in einem Lied von Desarme heißt, dass eine bessere Welt möglich ist und es eine Welt für alle gibt, die unsere Rechte, die Gemeinschaften und die Unterschiede respektiert und sich um ein freies Denken dreht.
Wie sieht euer Kompositionsprozess aus und wie wählt ihr Themen für eure Lieder aus?
Daniel: Die meisten Texte drehen sich um Sozialkritik und sind in einer sehr einfachen Weise formuliert, um zu sagen, was man fühlt, begleitet von lauter, mitreißender Musik. Das Motto der Gruppe und des Punks generell ist, Ideen und Gedanken mit Musik zu verbinden, die Aufmerksamkeit erregen. Du interviewst uns an einem wichtigen Ort. Er heißt Poemapa und wurde von unserem Freund Erik Arellana gegründet. Unser Lied „Yo digo vida“ (Ich sage Leben) basiert auf einem seiner Gedichte.
Es ist also ein kollektiver Prozess?
Daniel: Ja, das ist es, was uns von anderen unterscheidet und uns zusammengehalten hat. Desarme ist weder eine Person noch eine Musikgruppe, sondern ein Freundeskreis, in dem jeder und jede willkommen ist. Fast 30 Musiker haben sich in den letzten 30 Jahren beteiligt, andere haben uns mit Videos und grafischen Erzeugnissen geholfen.
Diego: Und jetzt sind wir schon so alt, dass wir wie eine Familie sind. Aber ich möchte gern, dass Erik etwas über „Yo digo vida“ sagt.
Erik, wie war es für dich, als dein Gedicht zu einem Lied wurde?
Erik: Das war sehr schön, gerade weil es eine Anspielung inmitten des Krieges war, zu dem sie uns gezwungen haben. Auf das Leben zu setzen, ein Leben wie es Desarme zeigt. Denn trotz der bewaffneten Akteure werden wir nicht aufhören zu sagen, was wir denken. Als die CD herauskam, musste ich nach Deutschland ins Exil gehen, so war es auch ein Weg, mit Kolumbien verbunden zu bleiben. Das Lied wurde bekannt, die Veröffentlichung des Albums ist jetzt schon zehn Jahre her. Die Leute haben sich das Lied zu eigen gemacht. Das ist das soziale Gefüge, das Desarme webt. Zurückkehren zu können, obwohl ich im Exil war, und wieder mit diesem Engagement verbunden zu sein, geht weit über Musik hinaus und das ist toll.
Welche musikalischen Einflüsse habt ihr?
Daniel: Wir sind Lateinamerikaner. Wir sind aus einem Teil der Welt, in dem sich viele Musikgenres vermischen und wir schon als Kinder Cumbia, Vallenato, Ranchera bis zum Rock in spanischer und englischer Sprache oder auch Balladen hören. Aber was uns schließlich zusammenbrachte, ist der Hardrock. Den meisten von uns gefällt der Punkrock, vor allem Punk auf Spanisch. Spanische Bands wie Polla, Escorbuto, Vómito waren sehr wichtig für die Bewegung im Baskenland und hatten Einfluss in Bogotá, ebenso der Metal.
Wie beschreibt ihr eure politische Haltung?
Diego: Wir glauben daran, dass man etwas verändern kann – im Leben und an der politischen und sozialen Situation. Wir verstehen uns als Freigeister, weil wir mit der politischen Linie der Regierungen nicht übereinstimmen. Ob sie nun links, rechts oder aus der Mitte sind: Es bleiben Regierungen, die über die Menschen herrschen wollen. Sie unterwerfen und trennen uns voneinander.
Erik: Im Kollektiv erkennen wir die Potentiale und die Unterschiede zwischen allen, es gibt etwas Gemeinsames und genau das gibt uns die Stärke, denn 30 Jahre zu bestehen schafft nicht jede Band in Kolumbien.
Welches Angebot macht ihr?
Daniel: Wir haben den Radikalismus und den Pragmatismus der Worte und Einstellungen hinter uns gelassen. Unsere Standpunkte sind die Freiheit und die Anerkennung des anderen. Aber unter dem Vorwand der Demokratie wird uns auch ein patriarchales, kapitalistisches, machistisches System aufgedrückt, welches den Wettbewerb zwischen uns Gruppen in der Musik sucht. Für uns ist jedoch klar, dass Solidarität immer Teil von Freiheit ist.
Wie viele Alben habt ihr bis jetzt veröffentlicht und welche Touren gemacht? Welche Unterschiede gibt es zwischen dem Publikum in Lateinamerika und Europa?
Diego: Unserem Publikum gefällt, was wir zu sagen haben. Die Nonkonformität gibt es nicht nur hier in Kolumbien, die gibt es weltweit. Diese Unzufriedenheit mit der Politik und diesen Regierungen, die die Türen und Fenster für die Menschen nicht öffnen. Natürlich hat das Publikum in Europa eine Perspektive der sogenannten ersten Welt. Auch sie führen Kämpfe, aber unsere Kämpfe sind andere. Ich glaube, die Bedürfnisse der Bevölkerung in Europa sind sehr verschieden von denen in den Ländern hier in Lateinamerika oder auch in Afrika. Die Leute können ein großes Bewusstsein haben, dass sich Sachen ändern sollen, aber wenn die Bedürfnisse verschieden sind, dann sind auch die Kämpfe andere.
Daniel: Desarme hat an mehr als 14 Sammelalben von autonomen Labels und Gruppen teilgenommen, denn Solidarität ist uns wichtig. 2021 haben wir mit dem Lied „Cantos de Resistencia“ (Gesänge des Widerstandes) bei einem antifaschistischen Kollektiv aus Deutschland mitgemacht. Außerdem haben wir vier eigene Alben, drei haben wir selbst bei Diego und Antonio zu Hause aufgenommen und das vierte hat das unabhängige Label El Lokal aus Barcelona produziert.
Erik: Die Musik kann eine eigene Energie produzieren. Ich denke an Rock al Parque 2012. Da gab es einen magischen Moment, als viele Personen zu den Liedern von Desarme tanzten, es war eine starke Energie zu spüren, etwa bei dem Lied „El baile contra la motosierra“ (Der Tanz gegen die Motorsäge), ein politischer Tanz gegen die Gewalt. Die Motorsäge ist ein Werkzeug, das dazu verwendet wurde, Menschen zu zerteilen. Genau dagegen tanzen wir. Auch beim letzten Konzert an der Universidad Pedagógica (staatliche Pädagogische Hochschule) oder beim Protest gegen Stierkämpfe wurde durch die Musik eine kollektive Energie für soziale Veränderung geschaffen.
Ihr seid Musiker, aber ihr habt auch andere Jobs, weil es euch wichtig ist, eine Verbindung zum Alltag zu haben…
Daniel: Es ist nicht unser Ziel, von der Musik zu leben, denn die Bedingungen sind nicht einfach und der Wettbewerb ist groß. Wir wollen nicht mit unseren eigenen Freunden in Wettbewerb treten. Mario arbeitet mit dem Kulturministerium, Raul mit dem Kultursekretariat, Diego arbeitet für die Integration von Obdachlosen, El Gato (Andres) und seine Partnerin sind Tierärzte. Ich arbeite auch für die soziale Integration mit Indigenen und gefährdeten Bevölkerungsgruppen.
Welche Pläne habt ihr als Band für die Zukunft?
Daniel: Letztes Jahr haben wir unser 30-jähriges Bestehen gefeiert. Deshalb waren wir in Kolumbien in verschiedenen Städten auf Tour und auf einem Festival in Mexiko. Der Plan ist, die nächsten drei Jahre noch verschiedene Touren zu machen, aber das Wichtigste ist, ein Buch herauszugeben. Es soll nicht die Geschichte der Band erzählen, sondern davon, was um dieses Abenteuer herum passiert ist – zusammen mit einer CD, die diese 30 Jahre zusammenfasst. Und wenn alles gut geht, werden wir im März 2025 nach Europa fliegen.
Welchen kollektiven Traum habt ihr für Kolumbien?
Erik: Unser Lied „Die Transformation der Gesellschaft“ nimmt auf die Geschichte Bezug und spricht vom Volksaufstand 1948 (Bogotazo nach Ermordung von Jorge Elicier Gaitan, Anm.d.Red). Auch andere Lieder aus unterschiedlichen Epochen handeln von der gleichen sozialen Transformation, aber aus der Perspektive des Alltags. Freunde und Freundinnen, die mit uns zusammen gekämpft haben, mussten durch das System den Kampf aufgeben. Wir verstehen, dass die Überlebensbedingungen sie dazu gezwungen haben, den aktiven Kampf aufzugeben, aber sie sind immer noch präsent. Sie sind hier mit uns. Es sind diese Veränderungen im Alltag. Wir fangen mit unseren Bekannten an, ausgehend von der Solidarität. Das ist die Art von Gesellschaftsmodell, das wir wollen: Eines, das die Unterschiede und die verschiedenen menschlichen Potentiale anerkennt, über das ökonomische Modell hinaus.
Diego: Ich würde mich freuen, wenn dieser Scheiß-Imperialismus aufhören würde. Wir sind autonome Gesellschaften und brauchen weder Megaprojekte noch multinationale Unternehmen oder die Invasion der Regierungen der USA oder Europa. Wir können auch ohne sie leben. Weil wir Gesellschaften sind, die mit dem, was sie haben, ohne Probleme leben können. Wir brauchen keine Plünderung der natürlichen Ressourcen. Wir haben das Wasser, das wir brauchen und unser tägliches Brot. Ich wäre froh, wenn sie uns in Ruhe lassen würden.
DESARME ROCK SOCIAL
ist eine Punkrockband aus Bogotá, die 2023 ihr 30-jähriges Bestehen feierte. Die Besetzung änderte sich während dieser Zeit häufig, aktuell besteht die Gruppe aus Daniel Mora (Sänger), Diego León (Gitarre), Andrés Murcia (Gitarre), Raul Casas Valencia (Bassgitarre) und Mario Suarez (Schlagzeug).