NOCH KEIN ENDE IN SICHT
Während Ortega sich Zeit zu kaufen scheint, ist die Opposition immer noch nicht in der Lage, sich politisch und ideologisch zu definieren
Fast drei Monate sind seit dem Anfang der massiven Proteste gegen Daniel Ortega und seine Frau und Vizepräsidentin, Rosario Murillo, vergangen. Drei Monate, die vielen Nicaraguaner*innen wie Jahre vorkommen dürften. Nahezu täglich überstürzen sich die Ereignisse, viele von ihnen sind blutig. Mittlerweile hat die Gewalt die barrios orientales, Managuas Arbeiterviertel, erreicht. Paramilitärs fahren dort mit Pick-Ups durch die Straßen, sie tragen Kriegswaffen, sie durchsuchen die Menschen und schüchtern sie ein. Es wird von Schießereien berichtet, die Opferzahl steigt fast täglich. Im kollektiven Gedächtnis der Nicaraguaner*innen wird der Mord an einer ganzen Familie bleiben, die in ihrem Haus verbrannte. Ebenso der Fall eines Kleinkindes, das auf der Straße von einer Kugel getroffen wurde und ums Leben kam.
Nicaragua im Spiegel der LN Titelseiten der Lateinamerika Nachrichten der letzten 40 Jahre 1978-2018
Täglich überstürzen sich die Ereignisse, viele sind blutig.
Mit der anhaltenden Gewalt und der wachsenden Zahl der Opfer steigt auch der Druck auf den OAS-Generalsekretär Luis Almagro, eine klare Stellungnahme gegen die Repression abzugeben. Almagro hat sich zuletzt für vorgezogene Wahlen ausgesprochen, eine Variante, der wiederum von der Bürger*innenallianz für Gerechtigkeit und Demokratie (Alianza Cívica por la Justicia y la Democracia) mit Skepsis begegnet wird. Die zahlreichen Wahlbetrugsvorwürfe und die Befangenheit des Obersten Wahlrats sind dabei ihr Hauptargument. Dazu gehört auch die absolute Delegitimation, die Ortega sich nach fast drei Monaten des Blutvergießens erworben hat.
Die Nicaraguaner*innen befinden sich in einer gefühlten Sackgasse.
Man mag sich wundern, warum Almagro im Fall Ortega relativ gemäßigt agiert. In Bezug auf Venezuela hat er sich hingegen von Anfang an ganz klar für ein Ende der Maduro-Regierung eingesetzt. Die Antwort liegt wohl in der (eigentlich bekannten) Tatsache, dass man diplomatische Verbündete zwar vergleichen, aber doch nicht gleichsetzen darf. Letztendlich haben die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Nicaragua, die zu den Protesten führten, mit denjenigen in Venezuela eher wenig zu tun. Als zwei Beispiele für diese Unterschiede stechen die Rolle des Erdöls in Politik und Wirtschaft und die Beziehung zwischen Regierung und Unternehmer*innenschicht hervor. In diesem Sinne scheint Ortega für Almagro eindeutig erträglicher als Maduro zu sein.
„Eine politische Antwort wird benötigt, im Grunde eine politische Antwort vonseiten der Macht (…) Der Volkswille muss sich durchsetzen, das muss durch Wahlen geschehen, mit der Auszählung der Stimmen“, erklärte Luis Almagro am 22. Juni. In diesem Zusammenhang führte ein beachtenswertes Ereignis zu ähnlichen Schlussfolgerungen. Bei der OAS-Generalversammlung im Juni 2018 wurde über eine Resolution abgestimmt, die einen zukünftigen Ausschluss Venezuelas aus der kontinentalen Organisation einleitete und zugleich den letzten präsidialen Wahlprozess im bolivarischen Land als illegitim bezeichnete. Die Resolution wurde mit neunzehn Stimmen angenommen, nur vier Länder (darunter Venezuela und Bolivien) stimmten dagegen. Unter den Enthaltungen war auch Nicaragua, das sonst immer an der Seite Maduros gestimmt hatte. Diese diplomatische Haltung der Ortega-Regierung scheint eine Annäherung an Almagro zu sein, sie begünstigt die „sanfte Opposition“ des OAS-Generalsekretärs.
In den 1970er und 1980er Jahren erlebte das Land eine Welle der Solidarität
Vor allem einzelnen Mitgliedern der Studierendenallianz ist die Antwort auf diese Frage offensichtlich noch nicht ganz klar. Denn bestimmte Treffen mit Politiker*innen aus dem rechtskonservativen Lager aus den USA oder El Salvador beispielsweise begünstigen nur jene Vorwürfe, die eine externe Konspiration der Rechten unterstellen. Fast drei Monate nach dem Beginn der Krise ist das breite Bündnis der Opposition immer noch nicht in der Lage, sich politisch und ideologisch zu definieren. Feministinnen, linke Studierende, Bäuerinnen und Bauern ebenso wie Unternehmer*innen sind unter anderen in dem Bündnis vertreten, mit zum Teil widersprüchlichen Weltanschauungen, Motiven und Interessen. Schienen am Anfang eher die progressiven Flügel dieser Allianz zu dominieren, treten jetzt zunehmend die konservativen und USA-nahen Mitglieder um die wirtschaftliche Elite des Arbeitgeberverbandes COSEP (bis vor kurzem Ortegas wichtigster Partner) in den Vordergrund. Womöglich werden verzweifelt wichtige Verbündete im Ausland gesucht, damit das Thema Nicaragua in den internationalen Fokus rückt – das wäre die optimistische Variante.
Denn Nicaragua ist der internationalen Solidarität nicht fremd. Besonders in den 1970er und 1980er Jahren erlebte das Land vor allem aus Deutschland eine Welle an Solidaritätsbekundungen, allen voran aus dem linken Spektrum, das noch heute eine enge Beziehung zu Nicaragua unterhält. Nichtsdestotrotz lässt sich die Konstellation des aktuellen Machtkampfs nicht so eindeutig zwischen rechts und links verorten wie früher. Genau deswegen sollte die Studierendenallianz internationale Unterstützung nicht unkritisch auswählen. Vor allem aber sollte vermieden werden, sich mit jenen Akteur*innen zu verbünden, die in Nicaragua eine Gelegenheit sehen, alte und vereinfachte Machtkämpfe zwischen links und rechts und somit die Dämonisierung sozialistisch orientierter Regierungen zu reproduzieren.Vielmehr geht es derzeit darum, die drängenden Probleme auf humanitärer Ebene zu lösen, erst dann sollte man in eine tiefergreifende politische Debatte eintreten. Für die neu entstandenen Bewegungen, allen voran der Studierendenbewegung, gilt es ungeachtet dessen weiterhin politische Inhalte zu erarbeiten. Parallel muss sie auf das Ende der polizeilichen Repression und auf die Aufklärung der Morde während der Proteste sowie der zahlreichen Menschenrechtsverletzungen im Rahmen willkürlicher Verhaftungen dringen.
Das Ende von Präsident Daniel Ortega ist immer noch möglich.
Für Nicaragua gilt ebenso, was Carlos Beristain von der in Nicaragua aktiven Interdisziplinären Gruppe unabhängiger Experten (GIEI) einmal über die Arbeitsweise der Organisation mit Opfer-Angehörigen im Rahmen der Untersuchung der Entführung und Ermordung der 43 Student*innen in Ayotzinapa, Mexiko, geäußert hat: „Was die Angehörigen brauchen ist Wahrheit. Was sie uns sagten, als wir am ersten Tag in die Schule kamen, bei dem ersten Treffen, war: ‚Sagt immer die Wahrheit zu uns, das ist das wichtigste für uns.‘ Was sie brauchen ist direkte Kommunikation, nicht angelogen zu werden; nicht, dass ihnen eine Sache erzählt wird und dann erweist sich eine andere; dass sie früher informiert werden über jedes für die Untersuchung relevante oder bezüglich des Verbleibes ihrer Kinder wichtige Element, dass ihnen alles erklärt wird, bevor die Information an die Medien kommt, und das ist eine Schlüsselangelegenheit, um eine Untersuchung durchführen zu können. Man kann eine Untersuchung nicht machen, ohne die Opfer zu berücksichtigen, und diese beiden Faktoren müssen Hand in Hand gehen.“
Hierbei könnten Organisationen wie die CIDH, GIEI und der Sonderfolgemechanismus für Nicaragua (MESENI) eine wichtige Rolle spielen. In den Nachbarländern wurden bereits Sondermechanismen für die Bekämpfung von Straflosigkeit, insbesondere in den Bereichen Korruptionsbekämpfung und Bekämpfung krimineller Strukturen gegründet. Die Ergebnisse solcher Mechanismen sind begrenzt, aber nicht zu vernachlässigen. Sie hängen sehr vom politischen Willen der jeweiligen Regierung, aber auch vom zivilgesellschaftlichen Druck in den jeweiligen Ländern ab. In Nicaragua hat dieser Druck nun möglicherweise seinen Höhepunkt erreicht. Die Aufklärung und Dokumentierung von Menschenrechtsverletzungen ist auch bei fehlenden Strafverfahren eine Legitimation der Opfer, was einen der wertvollsten Beiträge solcher Mechanismen darstellt. Letztlich geht es um den Kampf um die Wahrheit, der bei defizitärer Pressefreiheit und einem nicht funktionierenden Justizsystem für die Repressionsopfer sehr schwierig ist. Es geht um die Wahrheit, es geht aber auch darum, dass die Opfer Vertrauen in irgendeine Instanz zurückgewinnen können. Um die Spirale der Straflosigkeit und Gewalt zu durchbrechen, ist letzteres entscheidend. Genauso wichtig ist eine glaubwürdige Dokumentierung der Ereignisse, um weitere internationale Zustimmung zu gewinnen.
Ortegas Ende ist immer noch möglich. Der Autoritarismus, die Korruption und die staatliche Repression der letzten Monate haben ihn für viele Nicaraguaner*innen beinah regierungsunfähig gemacht. Ob nach ihm eine demokratischere, gerechtere und sozialere Regierung an die Macht kommen wird, ist immer noch offen. Bis dahin sollte man jedoch mit internationaler Solidarität vorsichtig umgehen: internationale Solidarität ja, aber nicht um jeden Preis!