Identität | Nummer 315/316 - Sept./Okt. 2000

nos-otros – wir anderen

LN

Die mexikanische Identität ist geklärt. Wir wissen, wer wir sind, woher wir kommen, was wir getan haben“ – so der mexikanische Schriftsteller Carlos Fuentes in einem Interview mit den Lateinamerika Nachrichten, das in der vorliegenden Ausgabe zu finden ist. Carlos Fuentes gehört zu denen, die noch vor fünfzehn, zwanzig Jahren intensiv danach gesucht haben, was denn das Besondere Lateinamerikas ist, worin es sich unterscheidet vom großen Nachbarn USA und von Europa.
Dabei standen immer auch Identitätsfragen der einzelnen Staaten und Nationen zur Debatte, von denen sich manche vehementer voneinander abgrenzen, als es Normalsterblichen begreiflich ist – man denke etwa an den Konflikt zwischen Ecuador und Peru, der erst kürzlich nach einem Kleinkrieg beigelegt worden ist, oder an die Animositäten zwischen den einzelnen Staaten Zentralamerikas. Schließlich spielt Identität in den Ländern selbst eine große Rolle, etwa wenn es um das Selbstverständnis als quasi-europäische (Argentinien), mestizische (Mexiko) oder afrokaribische Nation (Haiti) geht und auf diesem Wege Machtpositionen abgesteckt und Nicht-Identische ausgegrenzt werden.

Diese Fragen sollen geklärt sein ? Carlos Fuentes geht noch einen Schritt weiter und meint: „Die derzeitige Herausforderung besteht in der Diversität. Das Problem ist, worin wir uns unterscheiden, und wie wir die Diversität respektieren – die religiöse, die der Rasse, die politische, die ideologische.“ In der Tat: In einigen Ländern sind in den vergangenen Jahren die Rechtslagen für Indígenas, Schwarze, Frauen, Homosexuelle verbessert worden, hier und dort haben sich die Partizipationsmöglichkeiten erweitert. Aber ist das Problem der Identität damit geklärt? Wird nicht nach wie vor mit Abgrenzungsargumenten Politik betrieben, haben es nicht nach wie vor viele gesellschaftliche Gruppen nötig, sich durch ein einigendes Selbstbewusstsein von der Dominanz der Mächtigen zu befreien? Und stellt nicht die permanente kulturelle Konfrontation – durch das Fernsehen, die Musik oder den Sprachkontakt – immer neu die Frage: Wer bin ich, wer sind wir?
Im Schwerpunkt dieser LN-Ausgabe beschäftigen wir uns mit dem derzeitigen Stand der Identitäten. In einigen Artikeln wird die Identitätsbildung von „unten“, den Marginalisierten aus beschrieben: Während in Brasilien die „schwarze“ Bevölkerung unter der Behauptung leidet, es gebe keinen Rassismus, sondern statt dessen eine „Rassendemokratie“, kämpfen indigene Gruppen in Mexiko, Guatemala und Chile – jeweils unter ganz eigenen Umständen – um ihre Anerkennung als gleichberechtigte und eigenständige Teile der Gesellschaft;.
In anderen Texten geht es darum, wie die Identität eines Landes von „oben“, von seiten der Mächtigen aus bestimmt wird. So ist Paraguay ein durch und durch vom Militär geprägtes Land, in dem es fast unmöglich ist, die zivilen Terrains von militärisch beherrschten zu trennen. In El Salvador ist nach zwölf Jahren Bürgerkrieg die Wiedervereinigung der Gesellschaft ein zentrales Anliegen der Regierung. In Bolivien dient ein bereits über hundert Jahre alter Streit um den Zugang zum Pazifik als Argumentationsboden für die Legitimität von Politikern. Wer den Pazifikhafen nicht will, ist kein guter Bolivianer.

Schließlich beschreiben einige Artikel „auf Augenhöhe“, wie es um die Selbst- und Fremdbeschreibung steht: In Surinam, einem Land zwischen allen Weltregionen, stellt sich die Frage „Wer sind wir eigentlich, wer ist Surinamer?“ auf etwas kompliziertere Weise als in Argentinien, wo genau das wohl schon immer klar war. In Filmen und Fernsehserien werden Denkmuster und Lebensweisen gezeigt, die enorme Auswirkungen auf die der ZuschauerInnen haben können. Und was LateinamerikanerInnen denken, die gar nicht mehr in ihren Heimatländern leben, sondern in Deutschland, haben wir in einem Gespräch mit drei von ihnen zu klären versucht. Abgerundet wird der Schwerpunkt mit einem historischen Überblick über zweihundert Jahre Identitätspolitik.

In „nosotros”, auf Spanisch “wir”, steckt immer auch ein Akt der Abgrenzung. “Wir” sind eben nicht “ihr”, sondern “nos otros” – wir anderen.

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