“Null-Option” geht gegen Null
Boliviens eigenständige Drogenpolitik gerät international unter Druck
Einmal mehr nahm Bolivien an einer internationalen Verhandlungsrunde teil, um seine Pläne zur nationalen Entwicklungspolitik vorzustellen, Interesse an den 1994 eingeleiteten Reformplänen zu wekken und dementsprechende Unterstützung durch internationale Finanzierungsorganisationen zu bewerkstelligen. In diesem Fall handelte es sich um die jährlich zusammenkommende Beratungsgruppe der Weltbank, die vom 2. bis 4. November 1994 in Paris tagte.
Boliviens Präsident Gonzalo Sanchez de Lozada, inzwischen bekannt dafür, die Vorhaben seiner Regierung vor dem strengen Auge der internationalen Gemeinschaft diplomatisch, routiniert und selbstbewußt zu präsentieren, hatte seine wichtigsten Minister nach Paris geschickt. Das unumgängliche Thema der Drogenkontrollpolitik stand auch in Paris auf der Tagesordnung. Die Minister waren gut vorbereitet, um auf die “wachsende Sorge” der internationalen Gemeinschaft über die steigende Kokainproduktion zu reagieren. Bolivien legte ein Strategiepapier vor, das all` das erfüllte, was die Vertreter der von Drogenproblemen gequälten Gesellschaften – die gleichzeitig Geldgeberländer sind – an Moral und Initiative erwarteten: das Aufzeigen von bisherigen Erfolgen, gepaart mit dem Eingeständnis relativer Schuld angesichts unzureichender Ergebnisse in der Verringerung der Koka- und Kokainproduktion sowie die Willensbekundung zur künftigen Besserung.
Was angesichts der Komplexität des Themas aus den präsentierten Punkten als klarste Absichtserklärung hervorzustechen schien, wurde zum griffigen, mediengeeigneten Slogan: die “Opción Cero”, die “Null-Option”.
Panik in der bolivianischen Öffentlichkeit
Der Slogan ging durch die Weltpresse und schlug in Bolivien selbst wie eine Bombe ein. Die bolivianischen Medien, Gewerkschaften, die Kirche und vor allem die betroffenen Kokabauern standen Kopf. In diesem Moment wußte niemand, in welchem Zusammenhang diese “Null-Option” wirklich stand. Nicht einmal Regierungsstellen konnten eine klare Definition dessen liefern, was in Paris vorgeschlagen worden war. Für die öffentliche Meinung Boliviens, der nur einige Stichworte vor die Füße geworfen worden waren, lag die Sache jedoch auf der Hand: Zwangsumsiedlung aller im Koka-Anbaugebiet des Chapare lebender Bauern in andere Regionen des Landes, sofortige Vernichtung aller Kokapflanzungen, das Ganze nicht nur assoziiert mit staatlichen Gewaltmaßnahmen, sondern – wie auch anders vorstellbar – mit Militarisierung des betreffenden Gebietes unter Zuhilfenahme der anwesenden, nicht gerade beliebten US-amerikanischen Spezialeinheiten.
Die Panik war perfekt. Die Kokabauern des Chapare kündigten an, daß sie ihr Land und ihre Kokapflanzungen mit allen Mitteln auf Leben und Tod verteidigen würden. Der Sprecher und Vorsitzende der Kokabauern-Zentrale, Evo Morales, hielt einen Bürgerkrieg nicht mehr für unmöglich, sollte die Regierung diese Pläne wahr machen.
Die Empörung, Angst und Ankündigung drastischer Gegenaktionen gegenüber dem nun quasi täglich erwarteten Beginn solch` apokalyptischer Maßnahmen waren weder verwunderlich noch lächerlich. Hatte sich doch die Regierung Sanchez de Lozada seit ihrem Antritt im August 1993 vor allem damit hervorgetan, daß sie mit den Kokabauern unendliche Diskussionsrunden abhielt, aber den eingegangenen Verpflichtungen bezüglich alternativer Entwicklungsprojekte im Chapare nicht nachkam. Gleichzeitig stieg nicht nur der zwischen 1987 und 1993 um 40 Prozent reduzierte Kokaanbau wieder kräftig, sondern damit auch der in erster Linie von den USA auf Bolivien ausgeübte Druck, endlich hart durchzugreifen.
Nicht zuletzt war zwei Monate vor der Konferenz in Paris ein vom letzten Präsidenten Jaime Paz Zamora unterzeichnetes Abkommen mit dem großen Bruder aus dem Norden wegen Nichterfüllung der Quote geplatzt. Darin war vorgesehen gewesen, als Gegenleistung für die jährliche Reduzierung von 5.000 Hektar Koka 20 Millionen Dollar zum Ausgleich der bolivianischen Zahlungsbilanz zur Verfügung zu stellen.
Bill Clintons Ankündigung, das Drogenproblem der USA anhand von Präventions- und Rehabilitationsprojekten zuerst “zuhause” anzugehen und die Produzentenländer – darunter Bolivien – ihren eigenen Weg der Drogenkontrolle gehen zu lassen, entpuppte sich mittlerweile als pure Rhetorik. Die Produzentenländer stehen weiterhin im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, entsprechend der Logik “das Angebot bestimmt die Nachfrage”. Mit anderen Worten: Die Drogenpolitik Boliviens, die in erster Linie auf alternative Entwicklung setzt, leidet unter chronischer Agonie, während der Außendruck permanent steigt. In dieser Situation ist alles vorstellbar, eben auch eine “Null-Option”.
Viel Lärm um nichts??
In dem elfseitigen Dokument zur “Opción Cero”, das vom bolivianischen Minister für Entwicklung und Umwelt, José Guillermo Justiniano, in Paris vorgestellt wurde, wird betont, daß die Fläche der illegalen Kokapflanzungen künftig schneller als bisher reduziert werden soll. Die “Null-Option” war erstmals 1993 vom Präsidenten Sanchez de Lozada während der “Beratungsgruppe” der Weltbank in Washington als Möglichkeit vorgeschlagen worden, deren Durchführbarkeit allerdings noch erforscht werden müsse. Bis zur Konferenz in Paris wurde sie allerdings nie wieder öffentlich erwähnt oder nahm in irgendeiner Weise Form an.
Nun ist in dem Papier die Rede von “schockartigen Aktionen”, einem “Konzept ähnlich dem Marshall-Plan in Europa”, von “jetzt handeln”, “jetzt eingreifen”, bevor es zu spät sei, die Lage zu kontrollieren und die Kosten einer ökonomischen Umstrukturierung des Chapare unbezahlbar würden.
Starke und beeindruckende Worte… Doch spiegeln sie letztlich nur das Bewußtsein der wachsenden Kokainproduktion und der damit zunehmenden Wichtigkeit des organisierten Drogenhandels im Lande wider. Alte Pläne werden im Licht neuer und aggressiver Aktionen präsentiert. In der “Opción Cero” ist alles enthalten, was theoretisch vorstellbar ist: Angefangen mit dem Wunsch, die Kokaanbauregion Chapare könnte sich sowohl in einen Industriepark heimischer und ausländischer Unternehmer als auch in einen für den Öko-Tourismus offenen Naturpark verwandeln, bis hin zu der Vorstellung, daß Großunternehmen in harmonischer Koexistenz mit diversifizierte Landwirtschaft betreibenden Kleinbauern produzieren und so die Abhängigkeit vom Drogengeschäft vergessen machen köntnen. Die Kokabauern sollen dabei für 2.500 US-Dollar pro Hektar schnell ihre Kokaproduktion reduzieren oder sich gegen Entschädigungsleistungen in andere Gebiete umsiedeln lassen. – Die Frage ist allerdings, wohin? Etwa wieder zurück ins karge Altiplano, aus dem sie gekommen sind, oder ins unerschlossene Tiefland, um dort das Nächstliegende anzubauen…?
Vor allem aber basiert die “Null-Option” auf einem der bolivianischen Regierung äußerst wichtigen Prinzip, das jegliche Zwangsmaßnahme, ob Massenumsiedlung oder Radikalvernichtung der Koka, per se ausschließt: Die entsprechende Lösung soll und muß in ihrem Konzept “integral” sein und auf einem “freiwilligen Kompromiß zwischen allen Betroffenen beruhen”.
Ein integrales sozio-ökonomisches Entwicklungskonzept sowohl für die Problemzone Chapare als auch für die die Migranten hervorbringenden verarmten Hochlandregionen, ist begrüßenswert und kommt auch bereits so – fernab irgendeiner Option “0”, “1” oder “2”, – im “Integralen Entwicklungsplan” für diese tropische Region vor: Dieser wurde unter Teilnahme aller nationalen und internationalen Entwicklungsorganisationen, Kokabauernverbände und Regierungsvertreter ausgearbeitet und im Dezember 1994 offiziell vorgestellt.
Wohlwissend um diese offensichtlichen Widersprüche, wird in dem in Paris vorgelegten Papier die “Ausführung” der “Null-Option” auch gleich auf die Praxis hin relativiert: Zunächst sollen Berater des Drogenkontrollprogramms der Vereinten Nationen in Bolivien die Strategie auf ihre Realisierbarkeit hin prüfen. Man rechnet mit einer Bearbeitungszeit von einem Jahr!
Was bleibt, ist ein Teufelskreis
Im Chapare also nichts Neues? Ein großer schwarzer Luftballon mit heißer Luft? – Es sieht so aus. Denn abgesehen davon, daß alle vorgeschlagenen Strategien – allerdings in weniger starken Worten – schon theoretisch und praktisch diskutiert, in Dokumenten und Konventionen niedergelegt wurden, und selbst die aktive Teinahme der Kokabauern bei der Ausarbeitung solcher Konzepte zunehmend zur Realität wird, fehlt das Geld für die Realisierung einer 2 Milliarden Dollar teuren “Schock-Therapie”.
Was bleibt, ist ein Teufelskreis. Die internationalen Geldgeber sind nur bedingt bereit, ein internationales Problem gemeinsam zu lösen und entsprechende Programme zur integralen sozio-ökonomischen Entwicklung finanziell mitzutragen. Die Demonstration von glaubwürdigen, sofort wirkenden Drogenkontrollmaßnahmen auf bolivianischer Seite, sollte ersterem dabei möglichst vorausgehen. Das eine ist aber ohne das andere nicht möglich.
Es wird also wahrscheinlich alles beim Alten bleiben: Die konzertierte Aktion zwischen Regierung und Kokabauern zur Verbesserung der technischen, sozialen und produktiven Infrastruktur für den Chapare, mit der alle einverstanden sind, wird für Bolivien weiterhin Priorität haben. Dabei wird versucht, den illegalen Kokaanbau so weit wie möglich zu reduzieren. Leider gibt es immer noch unerträgliche Mängel bei der konkreten Umsetzung dieser Pläne. Die bolivianische Regierung muß einen permanenten Balanceakt vollführen, zwischen dem außenpolitischen Druck, eine sofortigen Reduzierung des Kokaanbaus herbeizuführen, und dem Eigeninteresse des Landes, trotz der schwierigen Situation den sozialen und politischen Frieden zu wahren.
Bolivien setzt auf freiwillige Kokareduzierung
Bisher ist ihr das relativ gut gelungen. Denn unter offizieller Nichtanwendung des relevanten Artikels im Gesetz 1008 zur “Kontrolle illegaler Substanzen und chemischer Materialien”, das auch die zwangsweise Reduzierung illegaler Kokapflanzungen vorsieht, setzt die bolivianische Regierung weiterhin auf Freiwilligkeit der Kokareduzierung. Diese Haltung erwies sich bisher als die politisch und sozial geeignetste. Der internationale Geldsegen kann allerdings eines Tages genau deswegen versiegen.
Die “Null-Option” symbolisiert vielleicht besser als jeder andere Begriff, daß sich tatsächlich “null” Neues abspielt im Streit um die beste Art der Drogenkontrolle, daß “null” Sofort-Optionen für dieses langwierige Problem existieren und daß es “Null-Bock” gibt, sich durch Drohgebärden von außen erpressen zu lassen.
Wie Außenminister Antonio Aranibar bezeichnenderweise in einem Interview zur “Null-Option” meinte: “Angesichts der Möglichkeit, die (mündlich zugesagten, d. Verf.) finanziellen Ressourcen für die “Null-Option” nicht zu erhalten, (…) verfügt Bolivien über genügend politische und moralische Autorität, um Pressionen zur Erfüllung eingegangener Kompromisse nicht zu akzeptieren.”
Kasten:
Reduzierung des “übermäßigen” Kokaanbaus
Bolivien ist mit einer Anbaufläche von ca. 47.000 Hektar das welweit zweitgrößte Kokaanbauland. Durch die internationale Drogenkontrollkonvention von Wien (1988) wird der traditionelle Anbau von Koka in den Yungas des Distrikts von La Paz bis 12.000 Hektar (real existierend: ca. 9.000 Hektar) erlaubt und als legal definiert, während der hauptsächlich für die Kokainherstellung betriebene Kokaanbau des Chapares im Distrikt Cochabamba (aktuell: 26.462 Hektar) als “übermäßig” gilt und zum größten Teil illegal ist.
Der Chapare ist ein subtropisches Tieflandgebiet mit 25.000 Quadratkilometer Fläche und wird von ca. 35.000 Familien bewohnt, die sich nach drei verschiedenen Migrationswellen dort ansiedelten: 1953 bis 1964 im Zuge der Agrarreform und auf der Suche nach neuem Land, 1970 bis 1975 aufgrund staatlicher Kolonisierungsprogramme und 1981 bis 1986 nach schweren Dürreperioden auf dem Altiplano und aufgrund der Entlassung tausender von Minenarbeitern ab 1985. Generell also kommen die heutigen Bewohner des Chapare , in ihrer Mehrheit Bauern, aus verarmten ländlichen Hochlandzonen (Cochabamba, Potosí, Oruro, La Paz). Die fehlende Besiedlungsstrategie und -hilfe seitens der Regierung in Zeiten dieser Migrationswellen und die Unkenntnis der Migranten über tropische Landwirtschaft sind nur einige Gründe für die Orientierung am Kokaanbau, der für die Bewohner immer soziale und ökonomische Absicherung bedeutete.
Die Produktion an illegaler Koka betrug in ganz Bolivien im Jahr 1993 knapp 72.000 Tonnen (20 Prozent der Weltproduktion), die Netto-Kokainproduktion 72 Tonnen (7 Prozent der Weltproduktion). Der Mehrwert des gesamten Koka-Kokains (einschließlich der Produktion des Zwischenproduktes der “pasta base” für Kokain = 183 Tonnen) sank in den vergangenen Jahren aufgrund der Substitutionspolitik der Regierung, bei der Koka schrittweise durch alternative Produkte ersetzt wird, folgendermaßen:
Mehrwert Koka / Kokain:
1988: 425 Mio US-Dollar 8,6% des Bruttoinlandproduktes (BIP)
1993: 166 Mio US-Dollar 2,7% des BIP
Exportwert:
1988: 453 Mio US-Dollar 84% des BIP
1993: 162 Mio US-Dollar 23% des BIP
1993: 116 Mio US-Dollar 1,9% des BIP
Mehrwert Koka/Kokain, der im Land bleibt:
1988: 279 Mio US-Dollar 5,6% des BIP
Gesamtanbaufläche von Koka (1993): 47.200 Hektar
davon im Chapare: 26.462 Hektar (abzüglich legaler Koka der Yungas, neu gesäter und noch unreifer Pflanzen)
Reduzierte Hektarzahl im Chapare (1987 – 1993): 26.140 Hektar
Neu gepflanzte Koka im Chapare (1987 – 1993): 33.240 Hektar
Andere Produkte im Chapare bis 1994: 49.757 Hektar
Zuwachs an alternativen Produkten (1986 – 1993): 22.369 Hektar
(BI)(Quelle: Informe de Datos 06/10/94, USIS, US-amerikanische Botschaft in Bolivien
Alle Daten basieren auf technisch möglichst genauen Schätzungen. Die angegebene Quelle wurde gewählt, da sie sich bisher als relativ zuverlässig erwiesen hat)