“NUR POPULISMUS HÄTTE DIE WAHL DREHEN KÖNNEN”
Drei Monate nach dem Plebiszit reflektieren Beteiligte über Chancen und Verfehlungen der Verfassungskampagne
Viviana Delgado, Alejandra Salinas y Elisa Giustinianovich (v. l. n. r., Foto: Susanne Brust)
Wie kann man sich Ihre tägliche Arbeit in der Apruebo-Kampagne vorstellen?
Elisa: Ich war Teil der Kampagne Apruebo Nueva Constitución (Ich stimme für die neue Verfassung) der sozialen Bewegungen. Wir hatten durch die Revolte und den verfassungsgebenden Prozess deutlich an Kraft gewonnen. Um nicht wieder von den Parteien abhängig zu sein, beschlossen wir, eine eigene Kampagnenkoordination voranzutreiben. In dieser versammelten wir über 100 Organisationen, um zwei zentrale Aufgaben anzugehen. Zunächst einmal die – für selbstverwaltete Organisationen ohne finanzielle Mittel – enorme Aufgabe, einen Wahlwerbespot auf die Beine zu stellen. Zweitens haben wir uns gemeinsame Materialien überlegt. Das war interessant, denn wir merkten bald, dass die Art, in der wir den Inhalt aufbereiteten, auf der Straße am besten ankam.
Viviana: Da wir öffentliche Ämter besetzen, hat die Rechte es sich zur Aufgabe gemacht, bis in die sozialen Netzwerke zu überwachen, ob wir auch ja keinen Wahlkampf machen. Denn Inhaber öffentlicher Ämter dürfen sich (im Rahmen ihrer Tätigkeit, Anm. d. Red) in Chile nicht parteipolitisch äußern. Aber wir haben trotzdem Wahlkampf gemacht. Und wisst ihr, wohin wir gegangen sind? In die schlimmsten Siedlungen. Dorthin, wo aus Angst niemand hinging.
Wie wurde Ihre Arbeit an den Türen angenommen?
Viviana: Manchmal öffneten sie uns die Türen, draußen alles voller Müll, das Wasser grün und verfault und fragten: „Was bringt mir die neue Verfassung, wenn das hier das Leben ist, das mir die Regierung bieten kann?“ Es gab viele solcher Begegnungen mit tief verzweifelten Nachbarn. Die Leute glauben an nichts mehr. Wir kamen mit der Verfassung und sagten: „Schau, sie wird das Gesundheitssystem verbessern.“ – und standen da einem Nachbarn gegenüber, der um 5 Uhr aufstehen muss, um einen Arzttermin zu bekommen. Wie sollten wir Menschen davon überzeugen, dass wir etwas Besseres anbieten können, wenn wir das die ganzen letzten Jahre nicht geschafft haben?
In Maipú hat am 4. September dennoch das Apruebo gewonnen. Wie erklären Sie sich dieses Ergebnis?
Alejandra: Dafür gab es viele Gründe. In Maipú liegt es vor allem daran, dass wir mit der derzeitigen Verwaltung auf einer Wellenlänge sind. Nicht wie bei den Vorgängern, da war die Bürgermeisterin einfach eine Witzfigur und der Verwaltung sind so einige Missgeschicke passiert. Und dann lag es natürlich auch am Wahlkampf: jeden Tag, in der Metro, bei den Nachbarschaftsversammlungen.
Elisa: Ich denke, dass progressivere Lokalverwaltungen, die in den Monaten vor dem Plebiszit eine gute Arbeit geleistet haben, den Bürgern das Vertrauen gaben, dass Institutionen funktionieren. Dass sich das Leben verbessern kann. Sie wählen also mit Hoffnung.
Es gab zwei Apruebo-Kampagnen: eine, die den Regierungsparteien nahestand (Apruebo por Chile) und eine, die sich autonom organisierte (Apruebo Nueva Constitución). Wie haben beide zusammengearbeitet?
Elisa: Schon bevor wir mit der Arbeit im Verfassungskonvent fertig waren, haben wir entschieden, dass wir als soziale Bewegungen unsere eigene Kampagne aufziehen wollen. Dabei haben wir immer versucht, eine gute Beziehung zu Apruebo por Chile zu halten. Uns war es wichtig, dass in jeder Region je nach den örtlichen Bedingungen entschieden wurde, wie eng diese Beziehung war. Oder ob überhaupt zusammengearbeitet wurde.
War es ein Fehler, zwei Kampagnen für das Apruebo zu organisieren?
Elisa: Die Parteien verfolgen im Allgemeinen vor allem politische Machtinteressen. Ihr Ziel ist es, politische Macht zu erhalten, deshalb werden sie alles immer mit Blick auf die nächsten Wahlen nutzen. Für uns, die wir keine Stimme haben – oder nur für kurze Zeit hatten – bedeutet das, dass unsere Arbeit für ihre Interessen genutzt wird. Das einzige Parteienbündnis, das ernsthaft Kampagnenarbeit gemacht hat, war Apruebo Dignidad. Die Sozialistische Partei oder andere linke Parteien haben keinen Finger gerührt, damit das Apruebo gewinnt.
Wie erklären Sie sich das Wahlergebnis?
Elisa: Es war ausschlaggebend, dass es dem verfassungsgebenden Prozess an Strukturen für die Beteiligung der Bürger*innen, für politische Bildung der Bevölkerung und einem Budget für eine Kommunikationsstrategie fehlte. Gleichzeitig wurde ein sehr kurzer, begrenzter Prozess zur Ausarbeitung der Verfassung geplant.
Alejandra: Und es gab eine Gruppe von Wählern, die wir einfach nicht einschätzen konnten. Denn mit der Wiedereinführung der Wahlpflicht waren es nicht mehr nur sechs Millionen, sondern 13 Millionen Stimmen. Damit gab es fünf Millionen Menschen, die sich schon lange von jeglichen gesellschaftlichen Prozessen abgekoppelt hatten. Ihr langes Schweigen hat seinen Ursprung auch im neoliberalen System: in dieser bitteren Notwendigkeit, nur auf sich selbst zu achten und sich nicht dafür zu interessieren, was nebenan passiert.
Dieser Teil der Bevölkerung war am Ende entscheidend. Wie haben Sie das erlebt?
Alejandra: Die sozialen Netzwerke bringen dich mit Menschen zusammen, die so denken wie du. Das verzerrt und aus meiner Sicht war es ein Fehler, in dieser Blase gelebt zu haben. Das hat sich jetzt gerächt.
Viviana: Ähnlich war es bei den Wahlkampfshows, die die Apruebo-Kampagne veranstaltet hat. Ich erinnere mich noch sehr gut daran, wie mir jemand sagte: „Hey, die Leute kommen nicht wegen des Apruebos, sie kommen wegen der Show”. Und ich sagte: „Nein, das kann nicht sein.”
Elisa: Ich denke, die Tatsache, dass Alejandra Stadträtin ist, du (Viviana, Anm. d. Red.) Abgeordnete bist und ich Konventsmitglied war, zeigt, dass wir nicht in einer Blase gelebt haben. Wir haben gelernt, Wahlkämpfe außerhalb der Blase zu führen, und deshalb wurden wir gewählt. Und das haben wir in der Apruebo-Kampagne wiederholt. Aber das Votum für das Apruebo will Veränderung und man sieht seine Anhänger auf der Straße. Das Rechazo dagegen ist ein Votum gegen Politik, das an nichts und niemanden mehr glaubt.
Gibt es rückblickend etwas, was die neue Verfassung gerettet hätte?
Elisa: Wir hatten nur zwei Monate, um einer einjährigen brutalen Gegenkampagne voller Fake News entgegenzuwirken. Egal, wie oft man an jede Tür in Chile klopfte, um zu erklären, zu informieren. Danach schalteten sie den Fernseher ein und sofort kommt die Angst. Um mit Ja zu stimmen, musste man Aktivist sein oder jeden Tag jemanden um sich haben, der einem die Zweifel und Sorgen nimmt. Um Nein zu wählen, brauchte man nur einen Fernseher.
Also war es unmöglich?
Elisa: Ich glaube, es war unmöglich. Das Einzige, was das Ergebnis wahrscheinlich noch hätte drehen können, sind leider populistische Maßnahmen. Es wäre wahrscheinlich sehr günstig für das Apruebo gewesen, wenn die Regierung einen bono invierno (Anm. d. Red.: Sonderzahlung an einkommensschwache Familien) eingeführt hätte.
Alejandra: Oder eine fünfte Auszahlung (Anm. d. Red.: von 10 Prozent der Ersparnisse aus den privaten Rentenversicherungen/AFPs), die Canasta Básica Universal (Anm. d. Red.: staatlich garantierte Versorgung mit grundlegenden Lebensmitteln). Diese Art von Maßnahmen, die die tiefe Wirtschaftskrise, die wir weltweit durchmachen, aber die sich in Chile schon viel länger abzeichnet, abmildern würde. Das hätte den Frust vielleicht abgefedert.
Würden Sie auch Selbstkritik üben?
Viviana: Ja, der Skandal um Rodrigo Rojas Vade (siehe LN 579), den ehemaligen Vizepräsidenten der Konvention, hat uns sehr geschadet. Diese Geschichte wurde von der Rechten aufgegriffen, sie erschien so oft wie möglich in den Zeitungen und im Fernsehen.
Elisa: Dass die Bevölkerung mit dem Konvent unzufrieden war, lag auch an mangelnder politischer Reife einiger Akteure, die aus den Bewegungen kamen. Es fehlte ein Verständnis dafür, dass viele Chilenen konservativ sind, wenn es um Politik und Institutionen geht. Bei vielen Konventsmitgliedern ist es nie ins Bewusstsein durchgedrungen, dass sie nun eine öffentliche Person waren und dass jeder Fehler eine enorme Verbreitung erfahren würde.
Wie geht es nun weiter bei Ihnen? Welche Pläne haben Sie?
Viviana: In Chile ist das Fernsehen mächtiger als wir. Es ist unmöglich, zu gewinnen. Wenn wir also die Mittel für einen bürgernahen Fernsehsender hätten, dann könnten wir Menschen damit erreichen. Außerdem müssen wir anfangen, eigene comunicadores sociales (Anm. d. Red.: vor Ort bekannte Personen, die Kampagnenarbeit machen und dafür ggf. von Politiker*innen beauftragt werden) in unseren Gemeinden und Regionen zu finanzieren.
Elisa: Zum ersten Mal hatten wir die Möglichkeit, unsere Kämpfe in einem gemeinsamen Resonanzraum zu sammeln. Vor zwei Jahren gab es diesen Raum noch nicht – wir hatten keine landesweite Artikulation, kein politisches Programm. Jetzt haben wir es und nehmen es zur Grundlage, um weiterzumachen. Mir scheint, dass dies unweigerlich zur Schaffung eines neuen politischen Akteurs führen wird. Einer politischen Organisation, die sich nicht nur auf das Gewinnen von Wahlen konzentriert. Sondern auf die Überführung des Verfassungstextes in ein politisches Programm, das mehrheitsfähig ist. Es ist eine langwierige Aufgabe, aber sie ist nicht schwer. Denn was wir mit der Verfassung geschaffen haben, wird in Chile dringend benötigt.
Elisa Giustinianovich saß für die feministische Dachorganisation Coordinadora Feminista 8M im Verfassungskonvent und war für die zweite Amtshälfte Konventsvizepräsidentin. Alejandra Salinas ist Stadträtin in Maipú. Viviana Delgado sitzt als Abgeordnete der Umweltpartei Partido Ecologista Verde seit März 2022 für den Hauptstadtdistrikt 8 in der Abgeordnetenkammer. Beide engagieren sich in der Umweltorganisation MOSACAT