Lateinamerika | Nummer 431 - Mai 2010

Öffnung der Märkte im Süden um jeden Preis

Interview mit Tom Kucharz, Mitglied der Koordinationsgruppe des Alternativengipfels „Enlazando Alternativas IV“ in Spanien

Am 18. Mai steht in Madrid der sechste Gipfel der Staats- und Regierungschefs aus der Europäischen Union und Lateinamerikas inklusive der Karibik an, umrankt von Minigipfeln der EU mit spezifischen lateinamerikanischen und karibischen Regionalgruppen. Das große Ziel der EU: bilaterale Freihandelsabkommen mit Kolumbien, Peru sowie Zentralamerika unter Dach und Fach zu bringen. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Tom Kucharz, Mitglied der Koordinationsplattform von über 100 Organisationen des gleichzeitig stattfindenden vierten Alternativgipfels „Enlazando Alternativas“, über offizielle Absichten und alternative Aktionen.

Interview: Martin Ling

Die USA, Kanada und auch die Staaten der Europäischen Freihandelsassoziation EFTA (Island, Liechtenstein, Norwegen, Schweiz) haben ihre Freihandelsverhandlungen mit Kolumbien derzeit auf Eis gelegt, weil sie die Menschenrechtssituation für untragbar halten. Die Europäische Union (EU) treibt hingegen ihre Freihandelsverhandlungen mit Kolumbien unverdrossen voran. Das gleiche gilt für Peru und Honduras, die beide in letzter Zeit durch schwere Menschenrechtsverletzungen auffielen. Zählen die Menschenrechte für die EU überhaupt nicht, wenn es um die Öffnung der Märkte geht?
Diese Frage müsste zuerst direkt an die Regierungschefs der Europäischen Union und an die Europäische Kommission gerichtet werden. Aber die Prioritäten der Regierungen der einzelnen Mitgliedsstaaten und vor allen Dingen der spanischen Regierung, die in diesem ersten Semester die EU-Ratspräsidentschaft innehat, liegen auf der Hand. Für die EU ist Kolumbien ein wichtiger Handelspartner. Primär geht es dort darum, neue Märkte für europäische Unternehmen zu erschließen, sowohl als Absatzmarkt als auch als Lieferant von natürlichen Ressourcen. Außerdem nimmt Kolumbien eine wichtige geostrategische Rolle in Lateinamerika ein. Das zeigte sich zuletzt in der Debatte um die neuen Militärbasen der USA in Kolumbien.

Eine Distanzierung von der rechten Regierung von Álvaro Uribe ist von der EU demnach auch in Zukunft nicht zu erwarten?
Im Gegenteil. Die EU hat Uribe in den acht Jahren seiner Amtszeit politisch und ökonomisch sehr gestärkt. Ganz am Anfang seiner Präsidentschaft erhielt er eine Einladung vom Europaparlament und musste vor einem fast leeren Parlamentssaal sprechen, weil viele Abgeordneten mit Abwesenheit gegen seine Politik demonstrierten. Danach zeigte die intensive Lobbyarbeit der kolumbianischen Regierung Wirkung, zuletzt sprach er vor einem fast vollen Parlament. Seine so genannte Anti-Terrorismus-Politik fand in der EU großen Anklang.

Welche Staaten in der EU haben diese Entwicklung vorangetrieben?
Maßgeblich haben die spanischen Regierungen, anfangs José María Aznar von der rechten Volkspartei, später ab 2004 José Luis Rodríguez Zapatero von den Sozialisten, die europäischen Türen geöffnet. Spanien muss eindeutig eine klare Mitverantwortung für die Verschlechterung der Menschenrechtslage unter Uribe zugesprochen werden. Wir sprechen von über mehr als vier Millionen Binnenvertriebenen und über 30.000 Menschen, die als Verschwundene gelten. Es gibt viele politische Morde. Die Rate der ermordeten Gewerkschafter ist die höchste weltweit. Die beiden letztgenannten Tendenzen gingen bei Uribe nach oben. Spaniens Rolle als Steigbügelhalter für Uribe, um in der EU Fuß zu fassen, darf nicht unterschätzt werden.

Weshalb haben die USA, die Kolumbien seit Jahren über den Plan Colombia mit üppiger Militärhilfe versorgen und auch sonst nicht als zimperlich in Sachen Menschenrechtsverletzungen gelten, ihre Freihandelsverhandlungen ausgesetzt?
Das ist das Verdienst der Gewerkschaften und der Menschenrechtsorganisationen, die in den letzten gut zehn Jahren sowohl im Senat als auch im Repräsentantenhaus für eine politische Sensibilisierung in Sachen Kolumbien gesorgt haben. Sie haben Nancy Pelosi, die Sprecherin des Repräsentantenhauses, an den Verhandlungstisch gebracht und einen Kompromiss ausgehandelt. Die Gewerkschaften opponieren nicht weiter gegen ein Freihandelsabkommen mit Peru. Im Gegenzug kommen die Freihandelsverhandlungen mit Kolumbien nicht mehr auf die Tagesordnung im Repräsentantenhaus und sind damit de facto ausgesetzt.

Die Zustimmung zum Freihandelsabkommen mit Peru war der Preis, den die Gewerkschaften zahlen mussten, um ein Freihandelsabkommen mit Kolumbien zu verhindern?
Genau.

Die EU lässt sich von den Diskussionen in den USA nicht beirren und treibt an allen Fronten die Freihandelsabkommen voran. Wie verhält es sich mit dem Widerstand in den betroffenen lateinamerikanischen Ländern, Peru, Kolumbien als auch Zentralamerika selbst?
Die Situation ist sehr komplex. Der Widerstand ist nicht annähernd so groß wie gegen die Freihandelsabkommen mit den USA. Da gab es große Kampagnen in Bolivien, Peru, Ecuador, Venezuela, Argentinien oder in Zentralamerika. Allein in Costa Rica gingen damals mehr als 500.000 Leute auf die Straße, um gegen die Freihandelszone CAFTA zu demonstrieren. Das verhält sich in Bezug auf die Abkommen zur Europäischen Union ganz anders. Das hat damit zu tun, dass über die EU in der lateinamerikanischen Linken pauschal gesagt das Bild eines humanen Partners existiert.

Warum hat die EU ein so positives Image?
Man kennt die EU traditionell als Kooperationspartner, als Entwicklungshilfeagentur und in Zentralamerika vor allen Dingen aus der Rolle des Sponsors bei den Friedensverhandlungen in den 1980er Jahren. Das hat Wirkung hinterlassen. Knallharte Wirtschaftsinteressen werden der EU weit weniger unterstellt als den USA, zumal die EU sich immer als Förderer der Menschenrechte in Lateinamerika darstellt. Und zudem hängen viele Gewerkschaftsbünde in Lateinamerika am Geldtropf von europäischen Gewerkschaftsverbänden, das verstärkt die Beißhemmung. Dasselbe gilt für die vielen Menschenrechtsorganisationen, die mit Geldern von der EU alimentiert werden. Und zu schlechter Letzt gibt es viele Illusionen über die EU, die sich geschickt als Wolf im Schafspelz verkleidet.

Steht neben Kolumbien und Peru in Madrid auch das Freihandelsabkommen mit Zentralamerika zur Unterschrift, obwohl die EU den Putsch in Honduras im Juni 2009 verurteilt hat und der gewählte Präsident Manuel Zelaya nicht in sein Amt zurückkehren durfte?
Nach jetzigen Plänen wollen sie das auch unterschreiben. Seit Anfang Februar wird die Normalisierung der Beziehungen zu Honduras wieder angekurbelt. In Brüssel gab es neue Gespräche. Porfirio Lobo, der seit den umstrittenen und illegitimen Wahlen im November als neuer Präsident amtiert, ist von der EU de facto anerkannt worden. Spaniens Außenminister Miguel Ángel Moratinos hat im Europarat sozusagen den Weg freigegeben, die neue Regierung anzuerkennen und die Botschafter wieder zurückzuschicken. Seitdem sind die Freihandelsgespräche wieder im Gange – mit Honduras am Verhandlungstisch. Wieder einmal war die spanische Regierung Vorreiter, um jegliche Menschenrechtsverletzungen in Lateinamerika unter den Tisch zu kehren, damit die Freihandelsabkommen noch in der spanischen Präsidentschaft abgeschlossen werden können.

Worin besteht das zentrale Ziel des vierten Alternativgipfels in Madrid? Die Rolle Spaniens als Motor der europäischen Wirtschaftsexpansion in Lateinamerika mittels Freihandelsbestrebungen herauszustellen?
Das ist das Oberziel der spanischen Veranstalter. Wir sind etwa 100 Organisationen, die mit vorbereiten. Für den Alternativgipfel insgesamt, an dem viele Organisationen aus Europa und aus Lateinamerika teilnehmen, geht es indes um die Europäische Union im Allgemeinen, als Weltakteur. Diese Rolle wurde mit „Global Europe – die neue Strategie der Europäischen Union zur externen Wettbewerbsfähigkeit“ 2006 festgeschrieben, in der eine neue Generation von Freihandelsabkommen nicht nur mit Lateinamerika, sondern mit vielen anderen Regionen der Welt anvisiert wird und das mit aller Macht.

Welche Rolle spielt dabei der seit Dezember 2009 gültige Vertrag von Lissabon?
Er hat die EU mit neuen Politikinstrumenten ausgestattet. Die Europäische Kommission ist nun nicht nur für Außenhandel, sondern auch für die Aushandlung der Investitionsabkommen federführend verantwortlich. „Businesseurope“, der Arbeitgeberverband auf europäischer Ebene, hat vor kurzem wieder ein neues Dokument verfasst, in dem er der Europäischen Kommission Vorschläge unterbreiten, wie sie Freihandelsabkommen in ihrem Sinne ausgestalten sollen. Dabei zeigte sich deutlich, welche Forderungen zum Beispiel aus dem Dienstleistungssektor kommen.

Spielen Sie damit auf das European Services Forum (ESF) an, das als eine der großen Lobby-Organisationen in Brüssel gilt?
Ja, das ESF hat an der „Global Europe“-Strategie mitgearbeitet und mischt nun bei der Ausarbeitung der Freihandelsabkommen mit. Der Marktzugang soll maximiert werden. Die EU hat gesagt, dass es etwa 300 Gesetze in verschiedenen Ländern gibt, die sie ändern wollen, damit sie besseren Marktzugang bekommen, aber auch um natürliche Ressourcen zu importieren. Ein besonderes Augenmerk müssen wir auf die Finanzmarktdienstleistungsliberalisierungen richten, die in den Freihandelsabkommen drinstecken. Der G20-Gipfel in London hatte vor einem Jahr vorgeschlagen, bestimmte Hedgefonds zu begrenzen und Steuerparadiese zu schließen. All diese Sachen werden in den neuen Freihandelsabkommen ausgeschlossen. Mit ihnen wird die neoliberale Politik eine neue Eskalationsstufe weitergetrieben.

Die EU ist Mitglied in der Welthandelsorganisation WTO. Können sich dann nicht alle WTO-Staaten auf die neuen Freihandelsverträge berufen?
Stimmt, das legt die Meistbegünstigungsklausel der WTO fest. Alle anderen WTO-Staaten können eine Gleichstellung im Handel mit der EU und ihren Freihandelspartnern verlangen. Damit können auch US-amerikanische, kanadische, indische oder chinesische Unternehmen kommen und in Kolumbien, Peru und Zentralamerika denselben Marktzugang verlangen, ohne Rücksicht auf die dortigen Produzenten. Das bedeutet mehr Privatisierung überall.

Was soll alldem auf dem Alternativgipfel in Madrid entgegengesetzt werden?
In Madrid geht es darum, einen großen Konsens der Zivilgesellschaft zu erreichen. Dabei sollten politische Parteien, Kirchenbewegungen, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen einbezogen sein. Der Konsens sollte angesichts der massiven Menschenrechtsverletzungen eine klare Ablehnung des Freihandelsabkommens mit Kolumbien beinhalten. Für Peru gilt dasselbe: In Bagua im Juni letzten Jahres richtete die Polizei ein Massaker an den Indígenas an (siehe LN 421, Anm. d Red). Auch dort werden die Menschenrechte der indigenen Bevölkerung permanent mit Füßen getreten. Und im Falle von Zentralamerika ist es nicht hinnehmbar, dass durch die Hintertür eine Putschregierung in Honduras mit diesem Freihandelsabkommen legitimiert wird, auch wenn Porfirio Lobo „nur“ der illegitime Nachfolger des Putschpräsidenten Roberto Micheletti ist. Mit der Mobilisierung in Madrid soll ein klares und deutliches Zeichen gesetzt werden, dass die Zivilgesellschaft diese Regierung in Honduras nicht anerkennt und sich mit der Bewegung gegen den Militärputsch in Honduras solidarisiert.

Kasten:
Tom Kucharz ist Mitglied der Koordinationsgruppe des Alternativengipfels „Enlazando Alternativas IV“. „Enlazando Alternativas“ (Alternativen verknüpfen) findet parallel zum offiziellen Treffen der Staats- und Regierungschefs der EU und Lateinamerikas vom 14. bis 18. Mai in Madrid statt. Zu dem alternativen „Gipfel der Völker“, der inzwischen zum vierten Mal organisiert wird, hat ein internationales Bündnis regierungsunabhängiger Organisationen aufgerufen. Zudem ist Kucharz
Aktivist und Sprecher bei Ecologistas en Acción, dem Dachverband von mehr als 300 Umweltorganisationen in Spanien.
// www.enlanzandoalternativas.org

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