Literatur | Nummer 439 - Januar 2011

Origami aus Buchstaben

Salvador Plascencias Erstling “Menschen aus Papier” besticht, verwirrt und lotet die Grenzen des Machbaren in der Literatur neu aus

Tina Weber

Der 2009 erschienene Roman Menschen aus Papier des 1976 geborenen Schriftstellers Salvador Plascencia komponiert sich auf verwirrende Weise aus einer Vielzahl irritierender Geschichten, die sich wechselseitig ergänzen, parodieren und kommentieren. Saturn, der allwissende Erzähler, übernimmt auf der Handlungsebene stellvertretend Plascencias Macht über die Figuren. Die Romanfigur Federico de la Fe führt einen verzweifelten Kampf gegen ihn als seinen Schöpfer, da dieser ihm die Traurigkeit in sein Schicksal schreibt. Diese Traurigkeit zieht sich als düster-wunderbare Melancholie durch den gesamten Roman. Um ihr zu entkommen, bringt Federico die BewohnerInnen der kleinen Stadt El Monte dazu, nur unsinnige Gedanken zu denken, damit Saturn in diesen keine Wahrheiten mehr lesen kann. Merced, Federicos Tochter und Verbündete im Kampf, entzieht Saturn seine Macht auf andere Weise: Sie verwandelt Textpassagen in graue Blöcke, damit Saturn sie nicht mehr entschlüsseln kann. Liz wiederum, der das Buch gewidmet ist, hat Saturn für einen Weißen verlassen und nun will Saturn aus Rache schreibend ihre Welt auflösen.
Irritierend, voller Anspielungen, Fragen und Parabeln setzt sich der Roman fort: Ein weißer Kreidestrich ist die Grenze zwischen einer Welt aus Papier und einer Welt aus Zement – doch führt der Weg lediglich von einer Heimatlosigkeit in die nächste.
Was hier vollkommen verwirrend klingen muss, wird bei einem Blick in Plascencias Erstling formal noch bestätigt: Mehrspaltig, neben-, hinter- und übereinander, durchbrochen von Blöcken und Bildern erzählt sich die Geschichte von Federico, Merced, Liz, Saturn und den weiteren Figuren vielperspektivisch und mittels verschiedener Stimmen. Dabei kreiselt sie voller symbolischer Handlungen um sich selbst und verwischt konsequent die Grenzen zwischen den Welten im Roman, der Welt des Erzählers, der Welt des Autors und der Welt der LeserInnen.
Es geht im ständigen Spiel mit Fiktion und Realität um Migration, um Liebe, um Fanatismus und Krieg, um Literatur und um eben diese vom künstlerischen Schaffensprozess aufgedröselten Grenzen zwischen Staaten, Zeiten, Völkern, verschiedenen Weltbildern und Religionen, Liebenden und Hassenden sowie Armen und Reichen. Der Roman lotet dabei gleichzeitig die Frage nach Leben und Kunst aus – was kann, darf und muss Literatur leisten?
Salvador Plascencia, der selbst im Alter von acht Jahren mit seinen Eltern aus Mexico nach Los Angeles kam, hat mit „Menschen aus Papier“ einen beachtenswerten Roman geschaffen, der zu Recht internationale Aufmerksamkeit erfährt. Für
LeserInnen, die sich von einem Autoren überraschen, hinters Licht führen und verwirren lassen möchten, hat „Menschen aus Papier“ das Potenzial eines Kultbuchs und bietet als leicht verrückter, panorama- und collagenartiger Grenzgang eine willkommene Irritation sowie den Blick in fremde, doch in sich stimmigen Welten.

Salvador Plascencia // Menschen aus Papier // Edition Nautilus // Hamburg 2009 // 288 Seiten // 19,90 Euro

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