Ostdeutsche Fluchten in ferne Wirklichkeiten
Daß meine langjährige Beschäftigung mit Lateinamerika zu einem guten Teil Ersatzfunktion hatte, wurde mir schlagartig im Herbst 1989 bewußt. Von meinem Schreibtisch aus, an den ich mich zurückgezogen hatte, um die Schlußthesen meiner Dissertation über den Sandinismus zu verfassen, blickte ich direkt auf die Gethsemane-Kirche in Berlin-Prenzlauer Berg, eben jenem Ort, an dem gerade so etwas wie eine Revolution stattfand, eine Revolution, wie ich sie bis dahin nur aus den Nicaragua-Studien kannte. Fortan war ich mehr auf den Straßen und Plätzen, in Versammlungssälen und Kirchen als am Schreibtisch bei meiner Arbeit. Wir verfaßten radikale Forderungskataloge, trugen Transparente durch die Stadt, bildeten neue Parteien, diskutierten Umgestaltungskonzepte. Als dann auch noch die Zensur abgeschafft wurde, gründete ich quasi über Nacht einen Verlag für Politik und Zeitgeschichte. Sein Gegenstand war überraschend klar: Aufarbeitung der tabuisierten DDR-Geschichte, kritische Begleitung der laufenden Umgestaltung. Von Lateinamerika, das bisher mein berufliches Leben als Journalist und Literaturwissenschaftler bestimmt hatte, weit und breit keine Spur.
Erst zwei Jahre später fragte mich mein Freund Helmut Schaaf von der Nicaragua-Koordination Köln, was denn eigentlich aus meiner Arbeit geworden sei. Sie lag völlig unberührt im Regal, so wie ich sie im Oktober 1989 verlassen hatte: fertig geschrieben, doch niemals eingereicht. Er erbot sich daraufhin, sie an seinem Computer zu setzen und in einem kleinen Kölner Verlag zu publizieren, damit die vier Jahre Arbeit nicht ganz umsonst gewesen seien. So dann auch 1992 geschehen. Das war zugleich der Schlußpunkt unter mein erstes Leben. Erst heute, neun Jahre später, werde ich wieder darauf gestoßen. Meine großen Töchter (18 und 15) kommen mit Che-Plakaten nach Hause und wollen wissen, warum ich mich nicht mehr mit Lateinamerika beschäftigte und in unserem Verlag nur Bücher zur deutschen Geschichte erscheinen. Inzwischen ist mir bewußt geworden, daß Lateinamerika für mich wie für viele meiner Freunde aus der damaligen Soli-Szene nicht nur Gegenstand ehrlichen Engagements war, sondern zugleich auch eine gewisse Ersatzfunktion hatte. Dort spielte sich für uns das eigentliche Leben ab, denn da geschah tatsächlich etwas: es wurden Streiks organisiert, Basis-Initiativen gegründet, linke Parteien aufgebaut, Guerilla-Gruppen gebildet. Bei uns dagegen stagnierte alles in der Spät-Honecker-Ära, nahezu jeder Bereich des gesellschaftlichen Lebens war vordefiniert, der Bewegungsraum weitgehend eingeengt. Insofern sogen wir begeistert die Berichte südamerikanischer Emigranten und mittelamerikanischer Rebellen in uns auf, versuchten, ihren Kampf mit einigen Produkten aus der DDR wie optischen Geräten, Medikamenten und Unterrichtsmaterialien zu unterstützen, denn unser Geld war ja in diesem Teil der Welt nichts wert. Doch selbst unsere kleinen Solidaritäts-Aktionen, egal ob von kirchlichen Gruppen, privaten Freundeskreisen oder einzelnen Zeitungsredaktionen ausgehend, wurden von der zentralplanerischen Staatsmacht mißtrauisch beäugt, obwohl sie eigentlich dem erklärten außenpolitischen Ziel der DDR entsprachen. Es sollte nur ins Ausland gehen, was offiziell gewollt und mit sogenannten Bilanzanteilen in der Mangelwirtschaft auch abgesichert war. Sonst befürchtete man „Versorgungsengpässe“ und weiter wachsenden Unmut der Bevölkerung. Insofern war unser Streiten für „die gute Sache“ zugleich ein Stückchen Rebellion gegen die unbeweglichen Verhältnisse im Lande, ohne daß man uns vom Ansatz her staatsfeindliches Handeln hätte unterstellen können. Wir rieben uns über den Umweg Lateinamerika am eigenen Staat.
Mit dem Ende der DDR entfiel auch diese Ersatzfunktion, waren keine fremden Projektionsflächen mehr vonnöten. Man konnte sich in die unmittelbaren Auseinandersetzungen vor der Haustür einbringen. Die Erkenntnis allerdings, daß die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik bei aller äußeren Beweglichkeit letztlich verdammt zäh sind und sich viel weniger verändern lassen, als aus der Ferne einst gedacht, haben einzelne meiner Freunde auf einen neuen Trip geführt, diesmal allerdings eher in Richtung Tibet. Bei mir hat es dagegen eine neue Annäherung an Lateinamerika bewirkt. Ich lese wieder mehr aus dieser Region. Und das nicht nur in den nach wie vor abonnierten Lateinamerika Nachrichten, sondern vor allem in der Belletristik, und ich werde in diesem Sommer mit meinen Töchtern nach Nicaragua fahren, um Freunde zu besuchen und an einem neuen Projekt mitzuarbeiten, dem Aufbau einer mittelamerikanischen Verleger-Union.