Pablo Escobars verwaiste Kindersoldaten
Jugendliche Drogenkiller in Kolumbien
Der neunzehnjährige Chucho redet sehr angeregt über das Begräbnis von Pablo Escobar, dem Chef des Drogenimperiums von Medellín. El Patrón, wie Chucho ihn nennt, wurde am 3. Dezember 1993 von staatlichen Sicherheitskräften getötet. “Ich mußte es sehen, um es zu glauben”, sagt er. “Ich hätte nie gelglaubt, daß die Regierung in der Lage wäre, Pablo zu töten. Ich glaubte, dieser Mann sei unbesiegbar.”
Chucho war einer der 5.000 – überwiegend jungen und armen – EinwohnerInnen von Medellín, die zu der Beerdigung des Drogenbosses kamen. Die aufgewühlte Menge der Trauernden zerbrach die Fenster der Beerdigungshalle und trug den Sarg von Escobar spontan auf ihren Schultern. Schließlich mußte die Armee eingreifen, um die Ordnung wiederherzustellen und die Beerdigung zu beenden.
Selbstverständlich waren die meisten KolumbianerInnen über den Tod von Escobar erfreut. Sie sahen in ihm den gewalttätigen Protagonisten eines Jahrzehntes voller Drogenhandel, Terrorismus, Morde und politischer Attentate. Zum ersten Mal nach vielen Jahren fühlten sie den Triumph, den Staat wieder als ihren eigenen anzusehen. Es entstand die Hoffnung, daß sie endlich beginnen könnten, die lange Phase der Gewalt und des Leidens zu überwinden.
Chucho dagegen glaubt, daß alles beim alten bleiben wird. Wenn er dies bekräftigt, denkt er an sein eigenes Schicksal. “Schau Bruder”, sagt er, “Pablo starb, aber wir haben immer noch die gleiche Armut, die gleiche Arbeitslosigkeit, die gleichen korrupten Autoritäten. Welcher Weg soll uns also offen stehen?”
Der junge Mann lebt im nordöstlichen Distrikt der Stadt Medellín, einem dicht besiedelten Gebiet, das bis an steile Berghänge heranreicht. Dort schloß Chucho sich mit vierzehn Jahren einer Bande an. Wie bei den meisten aus der Gruppe begann mit einfachen Aktivitäten wie dem Transport von Waffen. Eines Tages wurde ihm während einer Aktion der Bande befohlen zu schießen.
Aus Chucho wurde ein sicario, ein bezahlter Killer im Dienste der Drogenhändler. Obwohl er viel von dem Geld, was ihm zwischen die Finger geriet, verschwendete, vergaß er nicht das Versprechen, das er ablegte, als er sich entschloß, in die Welt der Kriminalität einzutreten: seiner Mutter ein Haus zu bauen.
Von ihrem Ehemann verlassen, arbeitet Chuchos Mutter als Hausangestellte für eine wohlhabende Familie. Obwohl sie Angst hat, daß ihr Sohn wie so viele seiner Freunde einen tragischen frühen Tod stirbt, ist sie dankbar, daß er ihr ein Dach überm Kopf verschafft hat. “Armut ist besser als das Risiko des Todes”, sagt sie Chucho, und hakt die Namen all seiner Freunde ab, die ein gewalttätiges Ende gefunden haben. Chucho zuckt nur mit den Schultern und wiederholt den gleichen Satz: “Nur Gott weiß, wann du sterben sollst”.
Von Hungerleidern
zu Kanonenfutter
Die ersten mit dem Kartell verbündeten Jugendgangs entstanden Ende der siebziger Jahre. Für die Auseinandersetzungen zwischen rivalisierenden Drogenbanden wurden Heranwachsende aus den Armenvierteln als sicarios rekrutiert. Später, als der Staat versuchte, diese Banden unter Kontrolle zu bringen, begannen die gleichen Jungen Polizisten und Richter zu ermorden. 1983 feuerte ein Sechzehnjähriger die Maschinengewehrkugel ab, die den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla tötete. Präsident Belisario Betancur setzte unverzüglich einen Auslieferungsvertrag mit den Vereinigten Staaten in Kraft, nach dem Drogenhändler schärfer verfolgt werden. So begann eine Schlacht, bei der die jungen sicarios in der vordersten Frontlinie der Drogenkartelle standen.
Morde an hohen Staatsvertretern bildeten die Höhepunkte der Beteiligung junger Berufskiller an diesem Krieg. Viele von ihnen haben Ähnlichkeiten mit Chucho: Sie stammen aus Armenvierteln, wurden von ihren Eltern fallengelassen, besuchten nicht regelmäßig die Schule, waren arbeitslos. Junge Männer mit ähnlichen sozialen Profilen ermordeten Zeitungsverleger, linke Politiker und staatliche Funktionäre.
Eine der für die KolumbianerInnen erschreckendsten Episoden war der Mord an Carlos Pizarro León Gómez, dem Präsidentschaftskandidaten der M-19. Die frühere Guerilla hatte sich gerade als Partei formiert und angefangen, sich am parlamentarischen System zu beteiligen. Am 26. April 1990 bestieg Pizarro in Bogotá ein Linienflugzeug, um in den Nordosten des Landes zu fliegen. Wenige Minuten nach dem Start zog ein junger Passagier eine Schußwaffe, richtete sie auf den Kandidaten und tötete ihn. Pizarros Leibwächter erwiderten das Feuer und töteten den Mörder.
Nach diesem Vorfall bezeichneten die Medien diese jungen Killer als kamikazes. Die jungen Männer führten ihre Aktionen auf eine so überraschende und furchtlose Weise durch, daß es für die Regierung quasi unmöglich wurde, die Sicherheit von Personen zu garantieren. Gepanzerte Fahrzeuge und Leibwächter wurden Teil des alltäglichen Lebens im Lande.
Drogenhandel und Brutalisierung des Alltags
Zu Beginn der siebziger Jahre begann der Drogenhandel, sich in Medellín und der umliegenden Region auszubreiten. Die Zahl der Jugendbanden wurde Mitte dieses Jahrzehnts von der Polizei auf 200 Gruppen mit ca. 5.000 Mitgliedern geschätzt. Die meisten davon hatten nichts mit den Drogenhändlern zu tun, aber alle versuchten, deren Stil zu imitieren. Schon bald wurden die Jugendgangs in die blutigen territorialen Auseinandersetzungen verwickelt, die sich in den Armenvierteln Medellíns abspielten. Während der achtziger Jahre stieg in der Stadt die Zahl der Morde drastisch an. 1980 starben in Medellín 730 Personen eines gewalttätigen Todes. 1985 war Mord mit 1.684 Opfern zur Haupttodesursache geworden. 1990 wurden in der 1,7 Millionen Einwohner-Stadt 5.500 Morde registiert.
Was veranlaßte viele Jungen zu solch selbstmörderischem Verhalten? Warum beteiligten sich sicarios an Aktionen, bei denen sie wahrscheinlich sterben würden? Das Problem liegt selbstverständlich nicht nur bei diesen jungen Delinquenten, sondern auch in der Gesellschaft, die diese hervorbringt. Bevor Jugendkriminalität sich so weit verbreitete, hatten sich in Kolumbien viele dramatische Veränderungen vollzogen. Die Banden entstanden in Gegenden, die von massiver Landflucht geprägt sind und während der siebziger Jahre vom Staat fast vollständig vergessen worden waren. Die BewohnerInnen wurden in die “informelle” Welt verbannt – eine Welt, in der bürgerliche Rechte und Pflichten kaum existierten. Die Söhne dieser MigrantInnen wuchsen am äußersten Rand der Legalität auf. Sie wurden als BürgerInnen zweiter Klasse behandelt, mit denen von staatlicher Seite aus lediglich die Polizei zu tun hatte. Als die Bevölkerung sich selbst organisiserte, um gegen ihre Lebensbedingungen zu protestieren, antwortete das politische System mit Kriminalisierung und Unterdrückung und verschloß die legalen Kanäle politischer Beteiligung. Die Migrantenfamilien verblieben unter der Kontrolle der korrupten traditionellen liberalen und konservativen Parteien. Gleichzeitig zersetzten sich ihre traditionellen Formen des Zusammenhalts.
Als in diesen Gemeinden Mitte der siebziger Jahre eine verstärkte Kriminalität zu verzeichnen war, bestand die Antwort anderer gesellschaftlicher Bereiche und der staatlichen Sicherheitsorgane in Ausrottungskommandos zur sogenannnten “sozialen Säuberung”. Anstatt sich um die Resozialisierung der jungen Leute zu bemühen, wurden viele in den Straßen und Außenbezirken der Städte einfach niedergeschossen. Nach Berichten der Generalstaatsanwaltschaft beteiligten sich auch Mitglieder der Streitkräfte an diesen Todesschwadronen. Auf diese Weise begann der Staat seine grundlegendsten öffentlichen Funktionen zu verlieren: die Verteidigung der BürgerInnen, die Schlichtung von Konflikten und die Verwaltung der Justiz.
Narcos als Jugendidole
Der Tod wurde zur Routine – zunächst für Staat und Gesellschaft, dann für die Gruppen von Jugendlichen, die in diesem Kreuzfeuer aufwuchsen, inmitten der Gleichgültigkeit gegenüber den Leichen auf den Straßen. Die jungen sicarios wurden in eine Welt hineingeboren in der keine verbindlichen Prinzipien existierten, die ihnen gegenseitigen Respekt und Achtung vor dem Leben selbst hätten vermitteln können. Hinzu kamen die vielfältigen Einflüsse neuer sozialer Akteure wie etwa der Drogenhändler, die brutale Gewalt und die Liebe zum Luxus zur Grundlage sozialer Beziehungen machten. Die Jugendgangs waren das Resultat nicht nur einer sozialen und wirtschaftlichen Krise, sondern auch einer Legitimitätskrise der sozialen Institutionen. Die Aktionen dieser jungen Leute stellten die Bedeutung von Leben und Tod in Frage. Wir reden von einer Generation, die ihre Stärke in einem Bereich fand, wo sämtliche Grenzen aufgelöst waren.
Pablo Escobar selbst stieg durch brachiale Gewalt zum Chef des Medellín-Kartells auf. Während eines Jahrzehntes erlangten sein Leben und seine Aktivitäten mythische Dimensionen. Für die armen Leute wurde er zum Idol, zum Symbol der Rebellion gegen das Establishment. Unter seiner Führung brachten sogenannte “Büros” die Aktivitäten der Jugendgangs unter den Einfluß des Medellín-Kartells. Es handelte sich hierbei um Tarnfirmen in Form von Autowerkstätten oder Immobilienbüros, wo Männer des Kartells die Bosse der städtischen Jugendbanden für sich rekrutierten. Nach wie vor kontrollieren diese Anführer den Stadtteil, in dem sie leben. Ihre Macht ist so groß, daß kein Krimineller ohne ihr Einverständnis operieren kann.
Die meisten Gangs identifizieren sich mit den Namen ihrer Anführer: Nachos Bande, Crazy Uribes Bande etcetera. Der Boß hält die Bande zusammen und agiert mit absoluter Autorität. Er entscheidet über Fragen von Leben und Tod. Logischerweise ist er großzügig mit seinen loyalen Anhängern und und unerbittlich gegenüber denen, die ihn betrügen oder sich gegen ihn stellen.
Die meisten Jugendlichen in der “Armee” der Drogenhändler sterben in einem der vielen Kriege, für die sie rekrutiert worden sind. Einigen ist es gelungen, eine gewisse Machtstellung zu erreichen, selbst zu Westentaschen-Capos zu werden und einen gewissen Wohlstand anzuhäufen.
Die Bande als Ersatzfamilie
Während der achtziger Jahre stieg die Kriminalitätsrate bei den Jungen zwischen 12 und 18 Jahren. Dies hat mehrere Gründe: Die traditionellen Institutionen, die für die Vermittlung zwischen dem Individuum und der sozialen Ordnung verantwortlich waren, hatten ihre Wirkung verloren. Bei der Entstehung von Lebensstilen spielten jetzt neue Akteure eine entscheidene Rolle. Blutrachen wurden immer häufiger, ebenso die Aktionen paramilitärischer Gruppen, Guerillas und Gruppen zur “sozialen Säuberung”. Die Gesellschaft begann, sich aufzulösen.
Weder in der Schule noch in der Familie oder in der Kirche fanden sich moralische, soziale oder kulturelle Vorbilder, die die neuen städtischen Generationen ansprachen. Die Banden wurden zum alternativen Sozialisationsmittel. Sie wurden zu dem Weg, auf dem sich viele junge Leute in die symbolische und “normative” Welt einfügten.
Gleichzeitig machte die Familie in allen gesellschaftlichen Schichten eine grundlegende Krise durch. Bei den armen Leuten kamen noch besondere Faktoren hinzu. So erziehen immer mehr Frauen ihre Kinder alleine. Gleichzeitig sind immer mehr von ihnen berufstätig. Alkoholismus und Drogenabhängigkeit, der Mangel an Verantwortungsbewußtsein bei den Vätern und die hohe Arbeitslosenrate tragen dazu bei, daß der Vater aus vielen Haushalten verschwunden ist.
Hinzu kommt eine wachsende Gewalt gegen Frauen und Kinder. Statistiken des Kolumbianischen Instituts für Familienwohlfahrt zufolge hat es seit 1980 in jedem Jahr einen Anstieg der registrierten Fälle von Kindesmißbrauch gegeben. Das Institut schätzt, daß es pro Jahr zwischen 50.000 und 100.000 Fälle von körperlicher und seelischer Mißhandlung oder sexuellem Mißbrauch im Lande gibt. Allein in der ersten Hälfte des Jahres 1986 wurden in den verschiedenen Sozialstationen in Medellín 7.500 Fälle von Gewalt gegen Minderjährige behandelt. Im größten Krankenhaus der Stadt wurden in diesem Jahr 3.073 Kinder wegen Verletzungen behandelt, 74 davon hatten Schußwunden. Die Statistiken beleuchten die Auswirkungen von Gewalt auf Kinder und die Effekte eines autoritären und intoleranten Familienmodells.
In vielen Familien mangelt es nicht nur an Liebe, sondern auch an positiven Modellen von Autorität. Dies ist besonders offenkundig, wenn der Vater seiner Rolle in der Familie nicht gerecht wird. Wenn sich ein Junge einer Bande anschließt, findet er in dem Anführer eine Identifikationsperson, wie er sie in der Familie nicht hatte. Die Mütter verhalten sich gegenüber ihren delinquenten Söhnen oft zwiespältig. Oft mißbilligen sie zwar das, was ihre Kinder tun. Gleichzeitig beschützen sie sie und halten bis zum Ende zu ihnen. Wenn es den Kindern gelingt, einen höheren Lebensstandard zu erreichen, erhöht sich der Toleranzlevel.
Pablo Escobar – ein verkannter Wohltäter?
Die Jugendgangs werden zum Ausdruck der Subkultur der Drogendealer, wo Ideale und Helden gefunden werden können. Entsprechend werden narcos, in einigen Regionen auch sicarios, idealisiert. Dazu gehört in manchen Fällen auch das Image als “Wohltäter” der Gesellschaft. Pablo Escobar wurde zum Beispiel zum gleichen Zeitpunkt, als er vom Staat und den Medien geächtet wurde, von vielen, insbesondere armen KolumbianerInnen mythologisiert. Sie hielten ihn für einen guten und mächtigen Mann, dem die traditionell Herrschenden im Lande unfairerweise alles Übel anhängen wollten.
In einer Umfrage, die letztes Jahr in den Schulen des nordöstlichen Distriktes durchgeführt wurde, wurden Schüler gefragt, wen sie für die wichtigste Person des Landes hielten. 21 Prozent der Befragten nannten Pablo Escobar, 19,6 Prozent den Präsidenten César Gaviria, 12,6 Prozent René Higuita, den Torwart der Nationalmannschaft. Von allen befragten Kindern hatten 56,5 Prozent eine positive Meinung über Escobar.
In weiten Kreisen der Gesellschaft hält sich immer noch die Einstellung, daß Escobar eigentlich Gutes bewirken wollte. Der Krieg der Regierung habe ihn gezwungen, Dinge gegen seinen Willen zu tun. In geringerem Ausmaß werden auch die mittleren capos und die sicarios aus den Vierteln als Wohltäter angesehen – als Verteidiger des Wohlstandes der Gemeinschaften.
Die Jungen aus den Hüttenstädten wachsen mit dem Bedürfnis auf, intensiv zu leben, ihren eigenen Willen durchzusetzen, zu sagen: “So sind wir: Wir existieren!”. Die Gewaltausübung ist zu einem Weg geworden, die Gesellschaft zur Anerkennung ihrer Existenz zu zwingen. In den Banden haben sie etwas gefunden, was die Gesellschaft nicht bieten kann: Freunde und Verbündete, mit denen sie grundlegende Lebensbereiche teilen. Es gibt keine Unterordnung unter eine äußere Autorität. Dies verleiht den Banden eine große Portion Vitalität.
Die größeren Gangs haben ein System von Codes und Beziehungen, auf denen ihr Zusammenhalt beruht. Hier werden Autoritätsbeziehungen mit Loyalität und Solidarität kombiniert. Innerhalb einer Subkultur werden Verbrechen und Gewalt nicht notwendigerweise als illegitim angesehen. Die Subkultur bezieht die Jugendlichen in ein Wertesystem ein, daß sich bei weitem von den formalen Maßstäben der Gesellschaft unterscheidet. Die Bande funktioniert als eine isolierte Umgebung, in welcher die Mitglieder von Angriffen auf ihre Selbstachtung geschützt sind. Den Jungen fehlen die gesellschaftlichen Konzeptionen von “gut” und “schlecht”. Viele werden zu Delinquenten, ohne sich selbst als “anders” anzusehen. Sie haben ihr eigenes positives Selbstbild.
Die Jungen werden Linie von der Aussicht auf Abwechslung, Vergnügen und Abenteuer wie von einem Magneten angezogen. In dieser maskulinen Welt werden Status und Führerschaft durch Tapferkeit und Machtausübung bestimmt. Dies beinhaltet das Wissen über den Gebrauch von Waffen. Alle kolumbianischen Bandenanführer sind perfekte Schützen und wissen, wie man glatt und effizient vorgeht.
Wenn wir Städte wie Caracas und Rio de Janeiro betrachten, finden wir eine ähnliche Situation wie in Medellín. Dort haben größere Drogendealer Armeen von Heranwachsenden aufgestellt, um ihr Territorium in den Armenvierteln zu sichern. Sie benutzen diese Jugendlichen als Kanonenfutter in ihren Konfrontationen untereinander und mit staatlichen Autoritäten. Wenn die narcos nicht so immense Gewinnspannen hätten, wäre es praktisch unmöglich, so viele Heranwachsende zu rekutieren und modernste Waffen zu beschaffen.
Der staatliche Drogenkrieg – ein Schuß nach hinten
Nach dem Mord am liberalen Präsidentschaftskandidaten Luís Carlos Galán startete die Regierung 1990 eine frontale Attacke gegen das Medellín-Kartell. Die Sicherheitskräfte begannen mit Angriffen auf die Jugendbanden, die sie für die Reservearmee der Drogenhändler hielten. Diese Offensive fand ohne den geringsten Respekt für Menschenrechte statt. Sie bediente sich derselben Logik wie der Krieg zur Aufstandsbekämpfung: Ganze Gemeinden wurden zu Feinden der Gesellschaft erklärt. Heranwachsender in einem Armenviertel zu sein bedeutete, als sicario klassifiziert zu werden. Die staatliche Offensive, bei der Tausende von Menschen illegal verhaftet wurden, verstärkte die Abneigung gegen die Sicherheitsorgane und den Staat.
In diesem Sinne war die Strategie ein Schuß nach hinten. Viele junge Leute identifizierten sich mit den Drogenhändlern und radikalisierten sich gegen die Regierung. Zu spät wurden sich die nationalen und regionalen Regierungen darüber bewußt, daß die Anwendung von counterinsurgency-Methoden ein Fehler war, und gingen weniger brachial vor.
Nach wie vor sind weder eine grundlegende Umstrukturierung des Justiz- und Polizeisystems noch eine substantielle Umverteilung des Wohlstandes zu erwarten. Trotzdem gibt es einige “soziale Aktions-Programme” zur Resozialisierung von Jugendlichen, die zu begrenzter Hoffnung Anlaß geben. Einige öffentliche und private Organisationen bieten mittlerweile Beschäftigungsprogramme an.
Die Jugendbande als Mittel zur Resozialisierung?
Gleichzeitig wird versucht, Mechanismen zu entwickeln, mit denen der negative Charakter der Banden unter Berücksichtigung ihrer Gruppenstrukturen verändert werden kann. Letzteres bedeutet, mit dem gesellschaftlichen und persönlichen Selbstbild der Jungen zu arbeiten. Von der Erkenntnis ausgehend, daß in der Gewaltausübung ein Bedürfnis liegt, sich selbst zu erkennen und auszudrücken, versuchen die Resozialisierungsprojekte, neue Formen der gesellschaftlichen Darstellung zu finden, die für diese Jungen von Bedeutung sind.
Einige dieser Vorgehensweisen sind offen politisch. Durch die Bemühungen um eine lokale Entwicklung sind aus einigen Jungen, die vorher gefürchtete Kriminelle waren, herausragende kommunale Führer geworden. Gruppen, die sich vorher bis aufs Messer bekämpften, haben Friedensabkommen unterzeichnet und sich zusammengetan, um für soziale Entwicklungsprogramme auf kommunaler Ebene zu kämpfen.
Medellín vollzieht heute eine Anzahl interessanter Versuche, sich als Gesellschaft neuzukonstituieren. Dies geschieht jedoch im vollen Bewußtsein, daß jede Lösung für eine so tiefgreifende Krise eine lange Entwicklung erfordert.
Pablo Escobar ist gestorben. Dies bedeutet allerdings nicht das Ende des Drogenhandels. Jeder weiß, daß sich, solange der Markt für Drogen weiter wächst, immer wieder neue Organisationen bilden werden, um von diesem lukrativen Geschäft zu profitieren. Die Indudtriestaaten verlangen von den Anbauländern, diesen Krieg fortzusetzen, obwohl wir alle wissen, daß dieser hart und nutzlos ist. Die Logik des illegalen Drogenmarktes ist unerbittlich. Jungen aus Medellín wie Chucho hat der Drogenhandel für ihr Leben geprägt. Er brachte ihnen den Traum vom Reichtum und die Realität des Todes. Zunächst wurde es normal, Zeuge des Tötens und Sterbens zu sein, dann, selbst zu töten und zu sterben.
Gewalt wurde zu einem Mittel, mit dem traditionell ausgegrenzte Gruppen von Jugendlichen die Anerkennung des Staates und der “anderen” Gesellschaft suchten. Mit ihrem abweichenden Verhalten stellten die jungen Bandenmitglieder die soziale Ordnung, die auf Diskriminierung beruhte, grundlegend in Frage. Die Gewalt ermöglichte es der “vergessenen Stadt”, auf der Landkarte des öffentlichen Bewußtseins zu erscheinen. Sie brachte soziale und wirtschaftliche Ungleichheit stärker ans Licht. Das Drama der Ärmsten wurde publik. Jugendgewalt veranlaßte den Staat, der die Armenviertel jahrelang der Polizei überlassen hatte, über seine Legitimität und sein Verhältnis zu deren BürgerInnen nachzudenken.
Der Autor ist kolumbianischer Journalist und Sozialarbeiter; Verfasser des Buches “Born to die in Medellín”, Latin American Bureau, 1990; deutsch: “Totgeboren in Medellín”, Wuppertal: Peter Hammer Verlag 1991, 174 S., 16,80 DM