Zwischen Nordatlantik und Amazonas

© Cesar Salgado

Aguacuario (Mexiko)

Zwei Jungen fahren auf einem Tandem durch Coatzacoalcos an der Golfküste von Mexiko und liefern Wasser aus. Die Sonne brennt und die Kundschaft schimpft, weil es nicht schnell genug geht. Der zehnjährige Vinzent wartet auf einer Treppe und bewacht das Fahrrad, während sein älterer Bruder Alan die schweren Kanister in die Appartements des umliegenden Viertels schleppt. Als die freche Viviana vorbeikommt, die auf Vergnügen aus ist, wird Vinzents Loyalität und Verantwortungsbewusstsein auf die Probe gestellt.

Aguacuario, der Debütfilm des mexikanischen Regisseurs José Eduardo Castilla Ponce ist ein warmherziger und beschwingter Exkurs in die Freuden und Verpflichtungen der Kindheit. Die Gespräche zwischen Vinzent und Viviana sind schlagfertig und erfrischend und die Story überzeugend. Großer Tiefgang auf der Meta-Ebene wird hier zwar nicht geboten. Trotzdem schade, dass der Film in der Berlinale-Jugendsektion Generations nicht zumindest lobend erwähnt wurde.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Aguacuario, Mexiko 2023, 20 Minuten, Regie: José Eduardo Castillo Ponce

© Nathalia Cordeiro

Lapso (Brasilien)

Zwei Teenager in der Peripherie der Großstadt Belo Horizonte, die das gleiche Schicksal eint: Beide wurden wegen Vandalismus zu Sozialstunden in einer Bibliothek verdonnert. „Der erste Tag vom Ende der Welt“ sei heute, so hat es Juliano an die Wand gesprayt. Diese No-Future-Einstellung legt er auch im normalen Leben an den Tag. Weswegen bis auf seine Großmutter auch niemand daran glaubt, dass aus ihm noch einmal etwas wird – er selbst am allerwenigsten. Die taubstumme Bel ist da einen Schritt weiter. Sie scheint schon viel mehr zu wissen, was sie will, und ist dazu noch ein Ass auf dem Skateboard. Nach und nach lockt sie auch Juliano aus seiner Lethargie und bringt ihn unter anderem dazu, Gebärdensprache zu lernen.

Regisseurin Caroline Cavalcanti ist selbst schwerhörig und thematisiert Hörbeeinträchtigung eindrucksvoll in ihren Filmen und Drehbüchern. Zwei davon wurden bereits mit Preisen ausgezeichnet und auch Lapsoerhielt auf der Berlinale eine Lobende Erwähnung – zu Recht. Denn die authentische Story, der pulsierende Soundtrack aus brasilianischem Rap und Baile Funk und das einnehmende Spiel der Hauptdarsteller*innen (besonders überzeugend: Beatriz Oliveira als Bel) machen Lapso zu einem Kurzfilm, der auch über die Berlinale-Jugendfilmsektion Generation hinaus interessant ist. Einzig den titelgebenden Lapso (Zeitsprung) hätte es nicht unbedingt gebraucht. Auch ohne dieses eher verwirrende Element würde die Geschichte prima funktionieren.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Lapso, Brasilien 2023, 25 Minuten, Regie: Carolina Cavalcanti

© Luciana Merino & Pascal Viveros

Al sol, lejos del centro (Chile)

Ein sonnendurchfluteter Tag in Santiago de Chile. Die Kamera zeigt den Himmel, fährt langsam von oben oder von der Seite Reihenhäuser, Wellblechdächer, Wohnblocks, Seitenstraßen ab. Manchmal folgt sie auch Passant*innen auf der Straße, die Alltagsbeschäftigungen nachgehen. Die Stimmung ist gelöst und unbeschwert, im Hintergrund hört man Obstverkäufer, Gesprächsfetzen, manchmal auch ein paar sphärische Elektroklänge. Al sol, lejos del centro (In die Sonne, weit weg vom Zentrum) von den chilenischen Regisseur*innen Luciana Merino und Pascal Viveros zeigt in harmonischen Bildern und Klängen die Utopie von Stadtleben in der Peripherie. Dabei wird durch Unschärfe und Distanz mehr ein Gefühl vermittelt als eine Geschichte erzählt. Obwohl nicht viel passiert, funktioniert das ziemlich gut: Der Film ist harmonisch komponiert und hat meditative Qualitäten. Al sol lejos del centro wurde von der Berlinale ins offizielle Kurzfilm-Programm des Festivals aufgenommen.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Al sol, lejos del centro, Chile 2024, 17 Minuten, Regie: Luciana Merino und Pascal Viveros

© Emilia Beatriz

Barrunto (Puerto Rico / Großbritannien)

Barrunto, so heißt ein Song des berühmten New Yorker Salsa-Musikers Willie Colón. Im puertorikanischen Spanisch steht das Wort für eine körperliche Unruhe, ein Omen oder die Vorahnung eines Ereignisses. Regisseurin Emilia Beatriz, die nun eine experimentelle Filmcollage mit demselben Namen gedreht hat, kommt ursprünglich aus Puerto Rico, lebt aber schon seit ihrer Studienzeit im schottischen Glasgow. Ihr Film lief auf der Berlinale in der Sektion Forum Expanded. Barrunto verknüpft filmisch ihre Erfahrungen und Eindrücke in der Diaspora mit denen ihres Heimatlandes, greift Motive wie Nähe und Distanz, Trauer und Verlust oder Militarismus auf. Am auffälligsten ist der Kontrast zwischen Bild und Sound: Über wunderschönen, gestochen scharfen Aufnahmen der rau-romantischen schottischen Küstenlandschaft um ein militärisches Testgelände spielen oft karibische Rhythmen von Salsa bis Reggaeton. Erstaunlicherweise fügt sich das meist zu einem sehr organischen und stimmigen Ganzen zusammen. Aus Puerto Rico gibt es zwar nur wenig Material zu sehen, vor allem Archivaufnahmen von Straßenprotesten. Das Gefühl der Diaspora im 21. Jahrhundert, an einem völlig anderen Ort zu leben und trotzdem jederzeit und überall digital verbunden mit der Heimat zu sein, transportiert barrunto dennoch sehr überzeugend. Weniger klar wird, welcher Zusammenhang mit dem Planeten Uranus besteht, der im Film als handelnder Akteur auftritt und sogar eine eigene Stimme bekommt. Und auch die eingesprochenen philosophischen Textfragmente kommen manchmal etwas arg bedeutungsschwanger daher. Eine interessante audiovisuelle Erfahrung, in der man sich träumerisch verlieren kann, ist barrunto aber allemal geworden.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

barrunto, Puerto Rico / Großbritannien 2024, 70 Minuten, Regie: Emilia Beatriz

© Janaina Wagner

Quebrante (Brasilien)

Der Highway BR-30, auch bekannt als Transamazônica, durchquert Brasilien auf einer Strecke von 4.200 Kilometern von Ost nach West, von Cabedelo am Atlantik bis Lábrea mitten im Amazonasgebiet. Er war ein Prestigeprojekt der Militärdiktatur von Garrastazu Médici, das die hohen Erwartungen nie erfüllen konnte. Die Transamazônica sollte Brasilien mit seinen Nachbarländern verbinden, wurde aber nie fertiggestellt und weitgehend nicht einmal asphaltiert.

Der Kurzfilm Quebrante (Bruch) von Janaina Wagner (Berlinale-Sektion Forum Expanded) folgt nur lose der Geschichte vom geplatzten Traum, der ein ganzes Land verbinden sollte. Er verlässt dabei oft die Fernstraße und konzentriert sich visuell mehr auf die Höhlen unter der Siedlung Rurópolis, die am Rande der Autobahn während ihres Baus errichtet wurde. Die Lehrerin Erismar de Sousa Silva erkundet diese weitläufigen unterirdischen Systeme nur mit einer Kerze und einem Feuerzeug ausgerüstet seit den 1970er Jahren. Quebrante zeigt viele Aufnahmen aus diesen Höhlen, aber auch unbelebte Straßen von Rurópolis oder einen riesigen aufblasbaren Mond, der von Kindern zum Spielen benutzt oder mit einem Lastwagen über die Transamazônica gefahren wird. Eine Verbindung zwischen dem Mond, den Höhlen unter Rurópolis und dem Autobahnprojekt, das das Land zerschnitten hat, soll durch in Untertiteln eingeblendete Reflexionen über Steine hergestellt werden, erschließt sich aber nicht wirklich. Der Film wirft trotzdem ein interessantes Schlaglicht auf ein Brasilien jenseits der bekannten Tourismusziele und die dortigen gescheiterten, gigantischen Infrastrukturprojekte.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Quebrante, Brasilien 2024, 23 Minuten, Regie: Janaina Wagner

© 36 caballos

Un movimiento extraño (Argentinien)

Eine Geschichte aus Buenos Aires: Lucrecia arbeitet als Museumswärterin, fliegt aber aus ihrem Job raus, weil sie den Walkie-Talkie-Kanal des Museums für schlüpfrige Gespräche mit einem Kollegen nutzt. Zum Glück hat sie einen Anstieg des Dollars vorausgesehen, was ihre Abfindung fast verdoppelt. Ihr neues Leben führt sie als Security-Guard in eine Fabrik und zu unverbindlichen privaten Treffen mit einem Wechselstuben-Mitarbeiter.

Un movimiento extraño (Eine eigenartige Bewegung) ist ein locker und vergnüglich anzusehender Kurzfilm, was vor allem am präsent-unbekümmerten Spiel von Hauptdarstellerin Laila Maltz liegt. Der Geschichte fehlt es aber insgesamt ein wenig an Richtung: Es werden viele Fässer in kurzer Zeit auf- aber nicht immer zugemacht. So vermittelt der Film zwar die Ziellosigkeit des Großstadtlebens, verpasst dafür aber die Chance, aus interessanten Figuren auch einen stringenten Plot zu stricken. Etwas überraschend deswegen, dass Regisseur und Kurzfilm-Spezialist Francisco Lezama mit seinem schon vierten Werk den Goldenen Bären für den besten Short der Berlinale gewann. Ein schöner Erfolg in jedem Fall!

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Un movimiento extraño, Argentinien 2024, 22 Minuten, Regie: Francisco Lezama

© David Correa

Uli (Kolumbien)

Rafaela langweilt sich. Ihre Eltern sind nicht da und haben ihre ältere Schwester Laura beauftragt, auf die 8-jährige aufzupassen. Doch Laura schleppt sie mit zu einem Besuch bei Alex, an dem sie offenkundig ziemlich interessiert ist. Als die beiden sich in Alex’ Zimmer einschließen, beginnt Rafaela das Haus zu erkunden. Dabei trifft sie zunächst auf eine sprechende Hündin und dann auf die queere Uli, zu der diese gehört. Schon bald wird sie von ihrer neuen Bekanntschaft mit der Aufgabe betraut, Friseurin zu spielen.

Uli zeigt zwar schöne Bilder, die Geschichte wirkt aber über weite Strecken konstruiert. Dazu bleiben einige Dinge ohne Erklärung: Warum hört Rafaela, die unerklärlicherweise die Hundesprache verstehen kann, plötzlich auf, mit der Hündin zu reden? Wieso vertraut Uli einem völlig unbekannten 8-jährigen Mädchen an, ihr die Haare zu schneiden? Was passiert mit Laura und Alex? Wie ist Ulis Verhältnis zu ihrem Bruder? Der Internationalen Kurzfilm-Jury, die Uli mit einer lobenden Erwähnung versah, gefiel es laut Begründung, dass in dem Film „keine Antworten erzwungen“ wurden. Auch wenn das, vor allem auf die Geschlechtsidentitäten bezogen, so richtig ist: Regisseurin Mariana Gil Ríos hat hier ein paar Rätsel und Ungereimtheiten zu viel aufgeworfen.

LN-Bewertung: 2 / 5 Lamas

Uli, Kolumbien 2023, 17 Minuten, Regie: Mariana Gil Ríos

© Bølier Films

Un pájaro voló (Kuba / Kolumbien)

Boloy ist der beste Spieler seines kubanischen Jugend-Volleyballteams. Doch heute kann er sich nicht aufs Training konzentrieren: Ein Freund ist gestorben und seine Gedanken sind immer noch bei ihm. Sein Trainer kritisiert die fehlende Spannung bei den Übungen und weist auf die wichtigen Spiele hin, die bald anstehen. Doch Boloy kann die Erinnerung nicht verdrängen.

Der kolumbianische Regisseur Leinad Pájaro de la Hoz verarbeitet mit dem Film seine eigenen Erfahrungen vom Verlust eines geliebten Menschen. Schade, dass in Un pájaro voló (Ein Vogel ist weggeflogen) über weite Strecken nichts anderes als Volleyballtraining zu sehen ist. Auch über den Freund erfährt man nichts weiter, als dass wohl auch er Mitglied der Mannschaft war. Fast ohne Interaktion zwischen den Charakteren bleibt die Geschichte so im Ungefähren und macht es dadurch auch schwer, Empathie aufkommen zu lassen. Die Internationale Jury der Berlinale konnte Un pájaro voló aber überzeugen: Der Film erhielt den Spezialpreis für den besten Kurzfilm in der Sektion Generation 14 Plus.

LN-Bewertung: 2 / 5 Lamas

Un pájaro voló, Kuba / Kolumbien 2024, 20 Minuten, Regie: Leinad Pájaro de la Hoz

Der Himmel über Mexiko

© Coproduction Office – Mantarraya – NoDream Cinema

Der mexikanische Film Batalla en el cielo wurde im Jahr 2023 in Mexiko restauriert und während der Berlinale erneut veröffentlicht. 2005 wurde der Film zum ersten Mal gezeigt und kontrovers diskutiert. Zu Beginn des Films werden die Hauptfiguren Ana (Anapola Mashkadiz) und Marcos (Marcos Hernandes) in einer expliziten Oral-Sex-Szene eingeführt. Für die Premiere in Mexiko wurden aufgrund der sehr freizügigen Darstellung von Sex Teile des Films herausgeschnitten.

Die Handlung folgt Marcos, der in Mexiko-Stadt lebt und als Fahrer für die Tochter eines Armee-Generals arbeitet. Nachdem er mit seiner Frau ein Baby entführt hat, stirbt dieses. Marcos ringt mit der Schuld des begangenen Verbrechens, während er gleichzeitig gegen seine Fantasien für Ana, die Tochter des Generals, kämpft. Nach einem sexuellen Zusammentreffen zwischen Ana und Marcos gesteht letzterer die Tat, und Ana überredet ihn, sich der Polizei zu stellen. Auf der Suche nach Erlösung begibt sich Marcos in die Basilika von Guadalupe, während die Polizei die begangenen Verbrechen aufdeckt.

Carlos Reygadas, geboren 1971 in Mexiko-Stadt, ist einer der bekanntesten mexikanischen Filmregisseure. Er wurde mit dem Jurypreis beim Cannes Film Festival 2007 und dem Preis für den besten Regisseur beim Cannes Film Festival 2012 ausgezeichnet. Im Jahr 2000 gründete er seine Produktionsfirma NoDream Cinema und debütierte mit seinem ersten Film Japón. Sein einzigartiger und kontemplativer filmischer Stil wurde international gelobt. Im Laufe seiner Karriere hat Reygadas soziale und existenzielle Themen erforscht und visuelle und narrative Elemente verwendet, um Filme zu schaffen, die über die einfache Handlung hinausgehen. Sein Fokus auf menschliche Intimität und seine Arbeit mit Nicht-Schauspielern waren Höhepunkte seines Werkes, das sich durch emotionale Tiefe und die Suche nach innerer Wahrheit auszeichnet.

Batalla en el cielo ist sicher nicht für alle Geschmäcker geeignet, da die Plansequenzen sehr lang sind und der Film generell im Tempo eher langsam ist. Viele Dinge bleiben ohne Erklärung und es mangelt an Kontext. Die Dialoge wirken zudem oft energielos. Dennoch gelingt es dem Regisseur, eine Atmosphäre der Fremdheit und Intrige zu schaffen. Aus einem Interview mit Reygadas ist bekannt, dass er bewusst Personen ohne Schauspielerfahrung einsetzte, um seine Protagonist*innen zu verkörpern. Zudem bekamen diese oft wenige Kontextinformationen zu ihren Szenen. Was damit geschaffen wird, ist diese Aura der Fremdheit, von Charakteren ohne Seele, die keine Vergangenheit oder Zukunft haben, und nur während des Films existieren. Insgesamt stellt sich Batalla en el cielo trotz der teils chaotischen Stimmung, die er transportiert, so doch als interessantes Kinoerlebnis dar.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

// Feminismus in die Offensive

Es ist einer der schwersten Angriffe auf die feministische Bewegung seit langem: Anfang Februar brachte die Partei des ultrarechten argentinischen Präsidenten Javier Milei einen Gesetzentwurf ein, mit dem das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche abgeschafft würde. Der Entwurf sieht stattdessen Strafen von bis zu zehn Jahren Haft vor. Damit wäre das Gesetz noch restriktiver als die Regelung vor der hart erkämpften Legalisierung von Abtreibungen im Dezember 2020. Eine Attacke sondergleichen, der nur wenig später die nächste folgte. Ende des Monats verkündete Mileis Sprecher Manuel Adorni, fortan sei die Nutzung inklusiver Sprache in der öffentlichen Verwaltung untersagt – eine Regelung, die bereits zuvor für die Streitkräfte festgelegt worden war. Auch die Antidiskriminierungsbehörde wurde von der Regierung aufgelöst. Im selben Stil verfügte der kürzlich im Amt bestätigte Nayib Bukele, Genderperspektiven aus Lehrplänen und Schulbüchern sowie Materialien im Gesundheitswesen in El Salvador zu entfernen.

Die Maßnahmen zeigen: Frauen und disidencias sollen unsichtbar und die von ihnen erkämpften Erfolge rückgängig gemacht werden. Die Rechte und Ultrarechte, die sich lateinamerika- und weltweit auf dem Vormarsch befindet, hat Angst vor Selbstbestimmung. Zu recht. Das macht die argentinische Aktivistin Verónica Gago klar, die von den Vorbereitungen der feministischen Bewegung in Buenos Aires für den feministischen Kampftag berichtet – der erste 8. März, an dem es „gegen eine ultrarechte Regierung mit dezidiert antifeministischer Agenda“ auf die Straße ging. Oft sind es gerade feministische Bewegungen, die am hartnäckigsten Widerstand leisten. Das zeigten Aktivist*innen in El Salvador, die die erste und bisher einzige Demonstration gegen den Wahlbetrug von Bukele organisierten. Der Widerstand gegen das rechte Verfassungsprojekt in Chile kam auch und vor allem aus der feministischen Bewegung.

Milei, das wird in Gagos Bericht deutlich, hat sich die Falschen zu seinen Feind*innen gemacht. Dabei bleiben die Feminist*innen nicht unter sich. Im Aufruf vom Bündnis Ni una menos hieß es: „Schließt euch mit denen zusammen, die hungrig sind, mit denen, die Angst haben, mit denen, die die Nase voll haben. Wir kommen zusammen, denn gemeinsam sind wir unbesiegbar!“ Wie die Afrofeministin Sandra Chagas betont, nehmen rassistische Gewalt und Diskriminierung auch durch die Hassreden der Regierung Mileis zu.

Um zusammenzukommen ist es notwendig, einander zuzuhören – insbesondere den Personen, die am stärksten von Gewalt und Marginalisierung betroffen sind. Nicht nur in Argentinien wird darauf großen Wert gelegt. Die Coordinadora Feminista 8M aus Chile rief für den 8. März zum landesweiten feministischen Generalstreik auf. Dafür vernetzt sie sich mit anderen Gruppen, so solchen aus den Kämpfen ums Wohnen, für menschenwürdige Arbeit, Pflege und Umwelt, mit Feminist*innen und disidencias. Verschiedene Ebenen werden so miteinander verknüpft. Die Coordinadora spricht in ihrem Aufruf explizit über die Zunahme von Ungerechtigkeiten und Ungleichheiten, „wenn wir über Migrant*innen, rassifizierte Menschen, Pflegekräfte, die Gesundheit der Bevölkerung, verschuldete Menschen und die Kriminalisierung von Armut sprechen“.

Auch in Deutschland sind ultrarechte Kräfte auf dem Vormarsch, die erkämpfte Rechte in Frage stellen wollen. Sie sind noch nicht an der Macht, aber vereinnahmen geschickt Kritik und beeinflussen den gesellschaftlichen Diskurs. Um dem wirksam etwas entgegen zu setzen, muss es jetzt auch in Deutschland darum gehen, verschiedene Kämpfe zu verbinden. Die Feminist*innen Lateinamerikas zeigen, wie das gehen kann.

Startschwierigkeiten für Arévalo

Generalstreik im Oktober 2023 Alina Vicente, indigene Pocomam-Autorität aus Palín Escuintla (Foto: Edwin Bercián / No Ficción)

Seit Mitte Januar ist die neue progressive Regierung von Bernardo Arévalo in Guatemala im Amt. In dieser Zeit hat sie einige Akzente setzen können. Bereits in der ersten Woche ihrer Amtszeit besuchte das Duo aus Arévalo und Vizepräsidentin Karin Herrera eine Mayazeremonie und indigene Autoritäten in Sololá. Dort unterschrieb der Staatschef im Beisein seines Gesundheitsministers einen „Gesundheitspakt“, mit dem traditionelle Medizin und indigene Hebammen im Gesundheitsbereich des Landkreises anerkannt werden sollen.

Zudem demokratisierte Arévalo das Auswahlverfahren für die Gouverneur*innen von 22 Departamentos, die im März ernannt werden sollen. Wie Prensa Comunitaria Ende Januar berichtete, ermögliche es die Reform der Verordnungen des Gesetzes über die Räte für städtische und ländliche Entwicklung „allen Bürgern für die Posten der Gouverneure der Departamentos zu kandidieren“. „Während diese bisher von der Exekutive ernannt wurden, hat Arévalo mit der Reform den Weg für die Kandidatur einfacher Bürger für den Posten freigemacht“, so das Onlineportal weiter. Das letzte Wort hat am Ende allerdings immer noch der Präsident im März.

Im Auswahlverfahren gibt es durchaus interessante Kandidat*innen. In Sololá kandidiert die indigene Bürgermeisterin Luy Emilia Ulario Zavala. Zavala war zentral an den Protesten beteiligt, die Arévalo erst den Amtsantritt ermöglichten. In Totonicapán kandidiert Luis Pacheco für das Amt. Pacheco war im vergangenen Jahr Präsident der 48 Kantone, die neben den indigenen Bürgermeister*innen aus Sololá eine zentrale Rolle bei den Protesten gespielt hatten. In Quetzaltenango möchte Carlos Barrios Gouverneur werden. Er ist aktuell auf Landesebene Generalsekretär der ehemaligen Guerillaorganisation Unidad Revolucionaria Nacional Guatemalteca (UNRG) und in seiner Stadt ein seit Jahrzehnten bekannter Aktivist. Der Amtseinführung Arévalos am 14. Januar waren wochenlange juristische und politische Auseinandersetzungen vorausgegangen. Der sogenannte Pakt der Korrupten, bestehend aus Politiker*innen, Unternehmer*innen und Teilen der organisierten Kriminalität, hatte versucht, den Amtsantritt nach dessen überraschendem Wahlsieg zu verhindern. Besonders die Staatsanwaltschaft um Generalstaatsanwältin Consuelo Porras und der Leiter der Sonderstaatsanwaltschaft gegen Straffreiheit, Rafael Curruchiche, spielten dabei eine wichtige Rolle.

Noch am Tag der Amtseinführung stand diese auf der Kippe

Beobachter*innen sind sich einig, dass es vor allem der starken Mobilisierung im Land und der internationalen Kritik zu verdanken ist, dass Arévalo sein Amt schließlich antreten konnte. Indigene Organisationen hatten im Oktober wochenlang Straßen blockiert und ein insgesamt 107 Tage andauerndes Protestcamp vor der Staatsanwaltschaft organisiert. Die USA, die Europäische Union und die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hatten den „technischen Staatsstreich“ immer wieder mit deutlichen Worten verurteilt und am Ende sogar Sanktionen verhängt.

Noch am Tag der Amtseinführung stand diese auf der Kippe. Abgeordnete des „Pakts der Korrupten“ verzögerten die Wahl eines Parlamentsvorstandes stundenlang. Laut Verfassung darf nur der Parlamentspräsident den Staatschef ernennen. Erst gegen 21.30 Uhr konnte eine Mehrheit gefunden werden, die den Abgeordneten von Arévalos Partei Semilla, Samuel Pérez, in das Amt wählte. Kurz nach Mitternacht erfolgte die Vereidigung von Arévalo und seiner Vizepräsidentin Herrera. Symbolträchtig besuchte das Duo im Anschluss die indigenen Autoritäten, die vor der Staatsanwalt­schaft das Protestcamp aufrecht erhalten hatten.

Während der Proteste war immer wieder der Rücktritt von Generalstaatsanwältin Porras gefordert worden, die führend an den Attacken auf Arévalo und seine Partei Semilla beteiligt gewesen war. Nachdem Porras zu einem ersten vom neuen Präsidenten geplanten Treffen nicht erschienen war, kam es am 29. Januar zu einem Besuch von der Anwältin in Arévalos Kabinett. Dort schloss sie einen Rücktritt aus, der Präsident sprach gegenüber der Presse von einem „frustrierenden Erlebnis“. Turnusgemäß endet die Amtszeit von Porras erst im Mai 2026.

Auch die Bestätigung der Suspendierung der Partei Semilla Ende Januar stellt einen Rückschlag für Arévalo dar. Sie hatte sich im Juli 2023 als Teil der juristischen Attacken gegen den Wahlsieger angebahnt und stützt sich auf angeblich gefälschte Mitgliederlisten der Partei. Für die Einschreibung politischer Parteien im Wahlregister müssen diese in Guatemala mindestens 25.000 Mitglieder vorweisen.

Im vergangenen Jahr legte das Verfassungsgericht fest, dass Parteien während einer laufenden Wahlperiode nicht suspendiert werden dürfen. Nach deren Ablauf am 31. Oktober erfolgte der Schritt dann doch. Allerdings war unklar, was das für die 23 Abgeordneten von Semilla im 160-köpfigen Parlament bedeuten würde. Sah es am Tag der Amtseinführung zunächst noch so aus, als würde das Parlament Semilla als Fraktion anerkennen, beschloss das Verfassungsgericht wenige Tage später das Gegenteil. Entsprechend musste die Wahl des Parlamentsvorstandes wiederholt werden, dem neuen gehören nun keine Semilla-Abgeordneten mehr an. Die Parlamentarierin Sonia Gutiérrez von der Indigenenpartei Winaq (Maya Quiché für „Leute“) ist das einzige Mitglied im neuen Vorstand, das zum „progressiven Lager“ gezählt werden kann. Die Abgeordneten von Semilla werden im Parlament als „Unabhängige“ geführt, was ihnen weniger Rechte einräumt.

Kritisiert wurde teils das von Arévalo kurz vor seinem Amtsantritt bekanntgegebene Kabinett. Unter den 14 Minister*innen ist mit Miriam Roquel nur die künftige Arbeitsministerin indigener Herkunft. Die Indigenen, insbesondere Angehörige der 22 Maya-Völker, machen rund die Hälfte der Bevölkerung Guatemalas aus. Auch wurde kritisiert, dass mehrere der Minister*innen mit der „alten Politik“ und dem Unternehmerverband CACIF verbunden seien.

Arévalo hatte im Wahlkampf vor allem versprochen, die weit verbreitete Korruption bekämpfen zu wollen. Guatemala zählt zu den 30 korruptesten Ländern der Welt, bis zu 40 Prozent des Staatshaushaltes sollen so verloren gehen. Mitte Februar verkündete die Regierung ein Abkommen, das „die Strukturen der Präsidialkommission zur Korruptionsbekämpfung neu definiert und ihren Schwerpunkt und ihre Zuständigkeiten erheblich verändert“, wie es bei der Agencia Guatemalteca de Noticias hieß. Laut Prensa Libre hat Arévalo außerdem „878 Personen aus Staatsämtern entfernt“.

Auch der Kampf gegen die Kriminalität nahm im Wahlkampf großen Raum ein. Guatemala gilt als unsicheres Land, Bankenkriminalität und organisiertes Verbrechen beeinträchtigen das Leben der Bevölkerung. In den vergangenen Jahren war die Mordrate allerdings deutlich zurückgegangen – von 41,8 Morden je 100.000 Einwohner*innen im Jahr 2010 auf 17,3 im Jahr 2022. In absoluten Zahlen wurden 2022 3.004 Tötungsdelikte gezählt. Arévalos Gegenkandidatin in der Stichwahl, Sandra Torres, und andere rechte Kandidat*innen hatten im Wahlkampf versprochen, die Kriminalität bekämpfen zu wollen, indem sie den Ausnahmezustand ausrufen und nach dem Vorbild des Nachbarlandes El Salvador mit „harter Hand“ vorgehen würden. Arévalo hatte derlei Vorschlägen immer eine Absage erteilt, ähnlich äußerte sich sein Innenminister. Im Februar verkündigte Arévalo Reformen im Polizeiapparat und die Gründung einer zunächst 400 Einsatzkräfte umfassenden Motorradstaffel zur Bekämpfung von „Schutzgelderpressungen“.

Neue Regierung bemüht sich um internationale Partnerschaften

Außen- und wirtschaftspolitisch hatte Arévalo im Wahlkampf stets vermieden, sich festzulegen. So erklärte er, er wolle mit „China und mit Taiwan kooperieren, mit Lateinamerika und den USA“. Dieser Linie scheint er als Präsident treu bleiben zu wollen. Anfang Februar verkündeten Regierungskreise, wirtschaftliche Kooperation mit der Volksrepublik China aufnehmen zu wollen – ein Widerspruch, unterhält Guatemala doch als eines der wenigen Länder der Region Beziehungen zu Taiwan. Entsprechend erinnerte Peking prompt an die „Ein-China-Politik“. Einen Abbruch der Beziehungen zu Taiwan hat Guatemala allerdings bisher immer ausgeschlossen.

In der zweiten Februarhälfte besuchte eine Regierungsdelegation unter Leitung Arévalos Europa. Der Präsident nahm dabei an der sogenannten Sicherheitskonferenz in München teil. Diese sei sehr „nützlich gewesen für verschiedene Treffen“, die der „würdevollen Rückkehr Guatemalas auf die internationale Ebene“ gedient hätten, so Arévalo anschließend in einer Videobotschaft. Seine Delegation habe an zwei „Arbeitstreffen zum Thema Korruptionsbekämpfung und Migration teilgenommen“.

In sozialen Netzwerken war der Staatspräsident bei Zusammenkünften mit dem ukranischen Präsidenten Wolodimir Selenskyj und mit der israelischen Delegation zu sehen, was ihm auch Kritik einbrachte. Am Rande der Konferenz kam Arévalo auch mit dem deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz zusammen. Anschließend reiste er zu einem Treffen mit dem französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron nach Paris.

Straffrei bis ins Grab

Tschüss, Sebastian! Protestierende erinnern in Santiago an die Menschenrechtsverletzungen unter Piñera (Foto: Diego Reyes Vielma / @diegoreyesvielma)

Im Oktober 2019 kam es in Chile zu einer sozialen Revolte. Die Erhöhung des Fahrpreises für den öffentlichen Nahverkehr um 30 Pesos war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hintergrund waren tägliche und anhaltende Demüti­gungen, die die Arbeiter*innenklasse des Landes jahrelang hatte tolerieren müssen. Demütigungen, die in allen Lebensbereichen stattfanden, so ein nach Einkommensniveau gegliedertes Gesundheitssystem, Renten unterhalb der Armutsgrenze, eine hohe Verschuldung der Bevölkerung nur zur Finanzierung alltäglicher Ausgaben, nicht für Luxusgüter.

Besonders junge Menschen hatten wochenlang gegen die Erhöhung der Fahrpreise protestiert, indem sie ohne Fahrschein im ÖPNV fuhren. Darauf reagierte die Regierung mit einer Militarisierung der Haltestellen und der Kriminalisierung der Bewegung. Am 18. Oktober weitete sich der Protest dann von der U-Bahn auf die gesamte Hauptstadt Santiago aus, die Polizei war überfordert. Am Nachmittag desselben Tages wurden überall in Santiago Barrikaden errichtet, die Empörung breitete sich schnell in die anderen Regionen Chiles aus.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung fand nicht statt

Allein zwischen dem 18. Oktober und dem 30. November 2019 mussten nach Angaben des Gesundheitsministeriums mehr als 12.500 Menschen nach Zusammenstößen bei den Protesten in öffentlichen Krankenhäusern notfallversorgt werden. Mindestens 347 Menschen erlitten nach Angaben des Nationalen Instituts für Menschenrechte Augenver­letzungen durch von der Polizei abgefeuerte, sogenannte nicht-tödliche Kugeln.

Eine wirkungsvolle strafrechtliche Verfolgung der für diese Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen gab es nicht. Die chilenische Staatsanwaltschaft gab an, dass zwischen dem 18. Oktober 2019 und dem 31. März 2020 8.508 Verfahren wegen institutioneller Gewalt im Zusammenhang mit Demonstrationen eingeleitet worden waren. 10.568 Opfer konnten identifiziert werden, wie die Staatsanwaltschaft Amnesty International in einem offiziellen Schreiben vom 9. August 2023 mitteilte.

Anzeigen durch das Nationale Institut für Menschenrechte wurde dabei noch am häufigsten nachgegangen. Bis Oktober 2022 hatte das Institut 3.151 Anzeigen wegen Folter, exzessiver Gewalt, unrechtmäßiger Nötigung und Tötung durch staatliches Handeln gestellt, von denen sich 2.987 gegen Mitglieder der Carabineros de Chile (chilenische Militärpolizei) richteten. Allerdings wurde nur gegen weniger als 200 Beamtinnen ein Verfahren eingeleitet. Diese Verfahren führten bis Oktober 2022 nur zu 14 Verurteilungen, wie die Zeitung La Tercera in einem Artikel vom 15. Oktober desselben Jahres berichtete. Auch wenn die Zahl seitdem gestiegen ist, wurden viele der Strafen dank eines im April 2023 verabschiedeten Gesetzes mit dem umgangssprachlichen Namen Ley gatillo fácil („Feuer frei-Gesetz“) reduziert.

Angesichts dieser Zahlen kann man bei den Menschenrechtsverletzungen der Jahre 2019 bis 2020 nicht von Einzelfällen sprechen. Die sozialen Bewegungen, Solidaritätsorganisationen, kritische Presse und engagierte Jurist*innen verstehen diese Übergriffe als systemisch – als Teil einer kohärenten Politik von Repression und Gewalt.

Und gerade die für diese Gewalt Verantwortlichen, die Polizist*innen, werden nicht zur Verantwortung gezogen. So teilte die chilenische Polizei dem Ministerium für Justiz und Menschenrechte im Jahr 2020 mit, dass sie 1.270 interne Ermittlungsverfahren eingeleitet habe, also in weniger als der Hälfte der gemeldeten Fälle. 1.033 davon wurden geschlossen und zu den Akten gelegt, da ein Fehlverhalten angeblich nicht nachgewiesen werden konnte.

Die ranghöchsten Vertreter der Polizei, der derzeitige Generaldirektor Ricardo Yáñez und auch der ehemalige General Mario Rozas (der in den Monaten Oktober und November 2019 das Kommando innehatte), haben sich während der Niederschlagung der Proteste stets davor gedrückt, sich zu ihrer Verantwortung zu äußern. Sie haben sich mehrfach geweigert, vor der Staatsanwaltschaft zu erscheinen, um sich zu den Verbrechen, die ihnen aufgrund ihrer Befehlsverantwortung vorgeworfen werden, einzulassen. Gleichzeitig erhielten die für die Ermittlungen zuständige Staatsanwältin und ihre Familie ständig Drohungen und die Polizei versuchte, sie von den Fällen abzuziehen, indem sie ihr „Feindschaft, Hass und Ressentiments“ gegenüber der Institution vorwarfen. Trotzdem haben sowohl die Regierung von Sebastián Piñera als auch der jetzige Präsident Gabriel Boric, der sich auf die Frente Amplio, eine Koalition aus progressiven Mitte-links- Parteien stützt, Yáñez in seiner jetzigen Position belassen, obwohl sich die Frente Amplio angeblich die aus der Revolte hervorgegangenen Forderungen zu Eigen gemacht hat.

Die Regierungspartei setzt auf Sicherheitsgesetze

An symbolträchtigen Tagen wie dem día del joven combatiente (Tag des jungen Kämpfers), der an die Ermordung linker politischer Aktivist*innen durch die Polizei während der Diktatur von Augusto Pinochet (1973–1990) als Vergeltung für den Angriff eines Teils der Carabineros auf Pinochet erinnert, zeigte die Partei von Boric, dass sie an der Seite der Polizei steht. Angesichts der Welle von „Law and Order“-Politik, die das Land derzeit erlebt, rühmte sich die Regierungspartei nur einen Tag nach dem Jahrestag der Revolte 2023 in den sozialen Netzwerken damit, die Regierung zu sein, die seit 1990 die meisten Sicherheitsgesetze beschlossen hat: 34 an der Zahl. Dabei ist das schon erwähnte „Feuer frei“-Gesetz das wichtigste. Ein weiteres Gesetzesvorhaben, das unter der Piñera-Regierung nicht mehr verabschiedet werden konnte, sah eine Ermächtigung zum Einsatz des Militärs für die Verteidigung „kritischer Infrastruktur“ vor.

Verschärfend kommt hinzu, dass die Schwere der politischen Verfolgung während der Proteste weiter geleugnet wird – auch von der Frente Amplio. Obwohl diese im Wahlkampf versprochen hatte, die politischen Gefangenen der Revolte zu begnadigen, wurden nur zwölf Verurteilte begnadigt, und das erst fast ein Jahr nach dem Amtsantritt von Präsident Boric. Eine große Zahl von Gefangenen wurde ohne Verurteilung in unverhältnismäßig langer Untersuchungshaft gehalten.

Es bestand die Absicht, Sebastián Piñera sowohl politisch als auch strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Am 19. November 2019 wurde ein Amtsenthebungsverfahren gegen den damaligen Präsidenten wegen seiner Verantwortung für die Verbrechen der Polizei und der Streitkräfte angestrengt. Dieses wurde allerdings nicht einmal inhaltlich diskutiert, da es aus verfahrenstechnischen Gründen zurückgewiesen worden war.

Soziale Revolte, auch gegen Piñera Besonders junge Leute gingen 2019 wochenlang auf die Straßen (Foto: Germán Rojo Arce)

Mindestens drei strafrechtliche Klagen gab es im Zusammenhang mit der Revolte von 2019 gegen Piñera, zusätzlich zu anderen wegen Korruption bei der Genehmigung von Bergbaubetrieben und wegen des Gesundheitsmanagements während der Pandemie. All diese Klagen wurden von Einzelpersonen eingebracht und wurden nun, nach dem Tod des ehemaligen Präsidenten, eingestellt.. Das deutet darauf hin, dass der wichtigste Akteur, der Piñeras Straflosigkeit garantierte, der Staat war, da dessen öffentliche Strafverfolgungsbehörde (die Staatsanwaltschaft) davon absah, gegen ihn vorzugehen. Das lag zum Teil daran, dass ihr damaliger nationaler Leiter vom ehemaligen Präsidenten selbst ernannt worden war. Dessen derzeitiger Nachfolger wurde wiederum von Gabriel Boric ernannt, wohl wissend, dass die Straflosigkeit andauern würde. Aber selbst, wenn es unter der neuen Regierung eine Bereitschaft gegeben haben sollte, ihn zu verfolgen: Dass Piñera auch nach seinem Tod verteidigt wird, leugnet schließlich weiter, dass der Staat Gewalt ausübt.

Der Absturz des Hubschraubers, den der Expräsident steuerte, um sich eine 50-minütige Fahrt zu seinem Sommerhaus in einer der exklusivsten Gegenden des Landes zu ersparen, wurde von der Presse als eine der größten Tragödien dargestellt, die je ein chilenischer Präsident erlitten habe. Boric selbst hielt zusammen mit mehreren seiner Minister am Sarg Piñeras Totenwache. Er wies in seiner Rede während der Beerdigung darauf hin, dass während seiner Zeit „als Opposition während (Piñeras) Regierungszeit Beschwerden und Schuldzuweisungen über das hinausgingen, was fair und vernünftig war“. Piñera sei „ein Demokrat der ersten Stunde“ gewesen. Derlei Aussagen machen die jahrelangen Bemühungen, ein Bewusstsein für Staatsverbrechen zu schärfen, zunichte.

Es war also nicht nur sein unerwarteter Tod, der Piñera davor bewahrte, vor Gericht gestellt zu werden. Die Straflosigkeit, die er mit ins Grab genommen hat, ist die Konsequenz des Handelns von Institutionen, die eine von der Exekutive unabhängige Strafverfolgung verhindern. Hinzu kommt eine Opposition, die eine sicherheits- und polizeifreundliche Agenda unterstützt, um daraus kurzfristig politisch Vorteil zu ziehen.

Die Tragödie um La Gorgona

Paradies in Not Der Küstenwachenkomplex auf der Pazifikinsel La Gorgona soll um ein Radarsystem und Landungsbrücken erweitert werden
(Foto: travail via wikimedia commons (CC BY-SA 3.0 Deed))

28 Kilometer westlich der kolumbianischen Pazifikküste liegt die Insel Gorgona. Ihren mythologischen Namen, der auf die drei Schlangen­monster anspielt, zu denen der berühmte Seefahrerschrecken Medusa zählte, verdankt sie der Vielzahl von Schlangen, die sie bevölkern. Mit einer Fläche von nur 26 Quadratkilometern war Gorgona bereits Standort eines Gefängnisses, eines Nationalparks und ist heute die Basis eines Küstenwachenpostens, der ein von den Vereinigten Staaten finanziertes und installiertes Radarsystem beschützen soll. Das von der Regierung Juan Manuel Santos´ begonnene Projekt wird von der Regierung Petro fortgeführt.

Gorgona hat einen einzigartigen ökologischen Wert, nicht nur für Kolumbien, sondern für die gesamte Region. Manuel Rodríguez Becerra, Professor an der Universidad de los Andes, der die Gründung des kolumbianischen Umweltministeriums vorangetrieben hat, bezeichnet Gorgona als „ein Juwel des Nationalparksystems und der Inseln der Welt“ mit einer besonders hohen biologischen Vielfalt, und einer Vielzahl an Fisch-, Amphibien-, Reptilien- und Blumenarten. Darüber hinaus beherbergt die Insel eines der größten Korallenriffe im kolumbianischen Pazifik.

Ihre Lage an der Westküste Kolumbiens macht Gorgona zu einem wichtigen Durchgangsort für Meerestiere wie Buckelwale. Während der Saison zwischen Juni und Oktober/November können diese Wale zusammen mit ihren Kälbern gesichtet werden. Die Walbeobachtung in dem Gebiet ist zudem zu einer wichtigen Einnahmequelle für die Einwohner*innen der Küstenstadt Guapi und ihrer umliegenden Ortschaften geworden. Die Gemeinden an der Pazifikküste, die das Militärprojekt ablehnen, haben – wie sie es in einem Rundbrief vom 14. Februar ausdrücken – auf diese Weise „in einer harmonischen Beziehung zu Gorgona gelebt und das einzigartige Ökosystem, das Teil unseres kollektiven und ethnischen Territoriums ist, respektiert und geschützt“.

Die biologische Vielfalt der Insel ist immer widerstandsfähig gegenüber politischen Ereignissen und Entscheidungen wie etwa der Einrichtung des Hochsicherheitsgefängnisses im Jahr 1960 gewesen. Beschwerden über die ständigen Misshandlungen und unmenschlichen Bedingungen, unter denen die Gefangenen auf der Insel festgehalten wurden, sowie die Anerkennung der umweltpolitischen Bedeutung der Insel führten 1983 zur Schließung des Gefäng­nisses. Die Künstlerin und Aktivistin Cecilia Castillo aus der Stadt Ibagué hatte dafür jahrelang unermüdlich gekämpft. Bei einem Besuch war sie Zeugin der Bedingungen in dem Gefängnis geworden, ein Erlebnis, das sie dazu veranlasste, eine Kampagne für seine Schließung zu initiieren. Castillo war in den darauffolgenden Jahren entscheidend am Protest gegen das Gefängnis und für die Umwandlung der Insel in einen Nationalen Naturpark beteiligt.

Für die US-Regierung ist die Insel vor allem wegen ihrer Lage inmitten der Drogenhandelsroute nach Norden interessant. Die US-Initiative für die Installation des Radarsystems ist Teil der von der Leiterin des US-Südkommandos, Laura Richardson, vorgeschlagenen Strategie, den US-Einfluss in der Region zu verstärken.

Das Projekt wurde bereits während der Regierung von Juan Manuel Santos (2010 bis 2018) begonnen. Der Vorschlag, der der Nationalen Umweltbehörde (ANLA) vorgelegt wurde, sah unter anderem einen 50 Meter hohen Turm für ein Radar, den Bau einer Küstenwachstation und einen 163 Meter langen Kai vor.

Der Bau sollte durch ein Budget von 12 Millionen Dollar aus den Vereinigten Staaten finanziert werden. Eine Umweltgenehmigung wurde am 31. Dezember 2015 erteilt, nur 29 Tage nachdem das Projekt vorgeschlagen worden war – eine auffällig kurze Zeit, um die notwendigen Studien zur Einschätzung der tatsächlichen sozio-ökologischen Auswirkungen des Projekts durchzuführen. Die Auswirkungen, die der Bau des Kais auf die Reise der Wale haben würde, oder die Risiken, die mit der Installation von Benzintanks nahe der Insel verbunden sind, wurden nicht berücksichtigt. Nach Erteilung der Genehmigung wurde dann schnell mit der Umsetzung des Projektes begonnen.

Die Zivilgesellschaft hat der Durchsetzung des US-Projektes auf der Insel jedoch nicht tatenlos zugesehen. Aus Gemeindeverbänden der Ortschaften an der Pazifikküste und aus akademischen und Umweltgruppen sind Organisationen wie das Komitee Salvemos Gorgona („Lasst uns Gorgona retten“) hervorgegangen, die sich von Anfang an gegen die Versuche der verschiedenen Regierungen gewehrt haben, das Projekt zu verwirklichen. Die Organisation betont, wie wichtig es ist, sowohl die biologische Vielfalt der Insel als auch die Souveränität über das Territorium zu schützen.

Mit den Wahlen im Jahr 2022 und dem Amtsantritt von Gustavo Petro als Präsidenten ging die Erwartung einher, dass die selbsternannte „Regierung des Wandels“ das Projekt stoppen würde. Nachdem Salvemos Gorgona verschiedene Forderungen vorgetragen hatte und eine öffentliche Anhörung im Kongress, den die Abgeordnete Jennifer Pedraza initiierte und an der auch die Umweltministerin Susanna Muhammad teilnahm, stattgefunden hatte, wurde das Projekt vorübergehend ausgesetzt. Trotzdem versuchte die Regierung weiterhin, die Gemeinden von den angeblichen Vorteilen des Projekts zu überzeugen, indem sie in der Region Bürgerforen durchführte, an denen auch die Vizepräsidentin Francia Márquez teilnahm.

Bei einem Besuch der Regierung in Guapi, inmitten von Bannern, die die Absage des Projektes forderten und von Ausrufen, der Präsident möge sich zu dem Thema positionieren, beschloss dieser, die Gemeinden zu ignorieren und die Veranstaltung zu beenden. Die Entscheidung war bereits getroffen worden.

US-Militärpräsenz in Kolumbien verfestigt sich auch unter Petro

Am 12. Februar 2024 gab die Regierung auf einer Pressekonferenz in Anwesenheit von Umweltministerin Muhammad und Verteidi­gungs­­­­­minister Iván Velásquez bekannt, dass sie mit dem Bau des Projekts in Gorgona beginnen werde. Sowohl die Minister*innen als auch der Präsident haben sich darum bemüht, das Ganze als ein Projekt für Forschung und Tourismusförderung zu rahmen.

Es wurde versichert, dass die Bauarbeiten nicht während der Walbeobachtungssaison stattfinden und unter großer Rücksicht auf die Umwelt durchgeführt werden würden. Die Wahrscheinlichkeit, dass dies wirklich so umgesetzt wird, ist allerdings gering. Außerdem blieben die Pläne für das Radar und die militärischen Elemente der Küstenwachstation unverändert, wie der Kommandeur der Küstenwache, Javier Bermudez, erklärte. Bezüglich der US-Finanzierung des Projektes gab Verteidigungsminister Velásquez bekannt, dass das Geld nach Gesprächen mit der US-Botschaft nun nicht für die Küstenwache oder das Radar, sondern für ein geplantes Forschungszentrum verwendet werden würde. Andrés Pachón, Sprecher von Salvemos Gorgona, hält diese Ankündigung für irreführend, da „die Umweltlizenz, alle durchgeführten Beratungsstudien und die früheren Umweltverträglichkeitsstudien bereits mit US-Geldern bezahlt worden sind“. Außerdem wurde nicht nur das Radar schon 2019 gekauf. Die bestehende Baulizenz sieht auch keine der von der Regierung erwähnten wissenschaftlichen Konstruktionen vor, sondern nur militärische Einrichtungen. Die US-Militärpräsenz in Kolumbien hat sich während der aktuellen Regierungsperiode entgegen allen Erwartungen weiter verfestigt. Die US-Generälin Laura Richardson hat das Land regelmäßig besucht und hochrangige Treffen mit Militärchefs, Präsident Petro und Vizepräsidentin Márquez abgehalten. Diese wurden von Ankündigungen, etwa über Pläne zur Militarisierung des Amazonasschutzes und der grundsätzlichen Stärkung der militärischen Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern begleitet.

Die Fortführung von geostrategischen Interessensprojekten der USA wie auf Gorgona und des alten „Kriegs gegen die Drogen“ hat Richardson selbst zu der Bemerkung veranlasst, die Beziehungen zwischen den Ländern „könnten nicht besser sein“. Trotz mangelndem Interesse in der Regierung setzen die Organisationen ihre Protestaktionen gegen das Projekt fort.

Neben nationalen Aufrufen zur Mobilisierung zur Verteidigung der Insel und der Souveränität gründete sich die Bancada en Defensa de Gorgona („Fraktion zur Verteidigung von Gorgona“) mit mehr als 15 Abgeordneten verschiedener Parteien, die versuchen wird, die Debatte auf die legislative Ebene zu bringen. Die Basisorganisation und Mobilisierung ist das Einzige, was La Gorgona vor dem Schwert des Perseus retten kann.

„Es ist keine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise“

Demonstrieren auch in Deutschland Juan Pablo Gutiérrez (vorne rechts) mit anderen Demonstrierenden vor der kolumbianischen Botschaft in Berlin
(Foto: Klaus Sparwasser)

Das Verfassungsgericht hat im Jahr 2009 erklärt, dass die Gemeinschaft der Yukpa unmittelbar von physischer und kultureller Auslöschung bedroht sei. Was sind die Gründe dafür?
Das hängt mit dem Verlust unseres angestammten Territoriums zusammen. Der Betrieb der Minen (siehe Infokasten unten) war nur möglich, weil paramilitärische Gruppen dieses Gebiet Bäuer*innen, Indigenen und Afrokolumbianer*innen gewaltsam entrissen haben, die dort seit langem gelebt haben. Diese Gruppen haben viele Menschen vertrieben und ermordet.
Als Halbnomad*innen konnten wir Yupka uns von jeher durch Jagd und Fischfang ernähren, aber die Bergbauunternehmen haben die Flüsse umgeleitet und verschmutzt. Jagd und Fischfang werden immer schwieriger, da wir immer weitere Entfernungen zurücklegen und Tage unterwegs sein müssen, um noch Tiere zu finden. Die Anstrengung lohnt sich immer weniger. Daher wachen bei den Yukpa heute häufig nachts die Kinder auf und weinen vor Hunger. Der Hunger und der in der Luft vorhandene Kohlenstaub verursachen jedes Jahr den Tod von etwa 40 Kindern. Da das Territorium auch unsere Kultur und Kosmovision prägt, sind diese ebenfalls bedroht. Viele Pflanzen und Tiere verschwinden aus unserem Wortschatz, weil sie aufgehört haben zu existieren. All das konnte nur geschehen, weil der Staat uns vernachlässigt und vergessen hat und aufgrund der Komplizenschaft der früheren Regierungen mit den Bergbaukonzernen, gestützt auf den Begriff „Fortschritt“ – unseres Erachtens nach das neue Gesicht des Kolonialismus.

Die Yukpa bemühen sich derzeit um die Abgrenzung ihres angestammten Territoriums, die auch das kolumbianische Verfassungsgericht seit 2017 fordert. Warum ist das so wichtig?
Sobald die dafür zuständige Nationale Landbehörde (ANT) die Urteile des Verfassungsgerichts umsetzt und unser Territorium abgrenzt, wird damit auch offiziell festgehalten, dass die Kohletagebaue auf Yukpa-Gebiet liegen. Das ist ein wichtiger, mächtiger Baustein für unsere juristische Strategie (siehe Infokasten unten). Es wird uns erlauben, nachträglich unser Recht auf eine vorherige Anhörung einzufordern, die vor Beginn des Minenbetriebs nicht stattgefunden hat. Es wird uns auch ermöglichen, unser Recht auf eine Nachkonsultation durchzusetzen, um eine Wiedergutmachung für die entstandenen Schäden zu bekommen. Die Umsetzung der Abgrenzung ist also der Schlüssel für die Lösung der Probleme der Yukpa.

Was stellen sich die Yukpa unter Wiedergutmachung vor?
Wir in Kolumbien bemühen uns seit 2016 (Abschluss des Abkommens mit der FARC-Guerilla, Anm. d. Red.) um Frieden. Dabei haben wir gelernt, dass dafür drei Dinge nötig sind: Wahrheit, Gerechtigkeit und Wiedergutmachung. Die Autoritätspersonen der Yukpa vor Ort werden sich zu gegebener Zeit zum Thema Wiedergutmachung äußern. Persönlich glaube ich, dass die Behebung der Umweltschäden dabei zentral wäre: die Befreiung und Säuberung der Flüsse, die Wiederansiedlung von Fischen, anderen Tieren und Pflanzen. Letzten Endes würde das auch das Hungerproblem angehen.

Wie ist es zu erklären, dass der Konzern Glencore 2021 seine Bergbaulizenen in der Region Cesar an die Regierung zurückgegeben hat, während er die große und bekanntere Cerrejón-Mine in der Region La Guajira weiter ausbeutet?
Nachdem das Verfassungsgericht uns im Jahr 2021 zum zweiten Mal Recht gab, hat Glencore seinen vollständigen Rückzug aus unserem Gebiet angekündigt. Als Begründung nannten sie den gefallenen Kohlepreis. Dass gleichzeitig die Cerrejón-Mine auf dem Gebiet der indigenen Gemeinschaft der Wayuu noch in Betrieb ist, zeigt jedoch, dass das nicht der wahre Grund ist. In Wirklichkeit haben sie Angst bekommen, da wir Yukpa sie durch unsere juristische Arbeit in die Ecke getrieben haben. Sie haben gemerkt, dass sie gehen müssen, um der Verantwortung zu entgehen.

Die linke Regierung von Gustavo Petro respektiert die indigenen Rechte und möchte aus der Kohlegewinnung aussteigen. Warum habt ihr euch dafür entschieden, gemeinsam mit Vertreter*innen der Zivilgesellschaft in kolumbianischen Botschaften einen offenen Brief zu übergeben?
Die Verantwortung für die Probleme, die wir in dem Brief ansprechen, liegt bei den früheren Regierungen, nicht bei der von Petro. Seine Regierung entstand auch aus sozialen und indigenen Bewegungen heraus. Wir Yukpa unterstützen die Regierung, die indigenen Gemeinschaften regieren zum Teil sogar in den Institutionen mit. Wir haben Organisationen aus verschiedenen Ländern zur Übergabe des offenen Briefes aufgerufen, um die Regierung daran zu erinnern, dass es dieses Urteil gibt. Wir sind uns nämlich sicher, dass sie das Urteil gar nicht kennt, denn es ist nur eins von sehr, sehr vielen Gerichtsurteilen, die von früheren Regierungen nicht umgesetzt wurden.
Ich spreche manchmal mit Regierungsbeamten und mit Petros Ministern und ihnen ist ganz klar, dass die Herausforderung darin besteht, die Abhängigkeit Kolumbiens von fossilen Energien zu beenden. Für uns heißt es daher: jetzt oder nie.

Deutschland importiert aufgrund des Kriegs gegen die Ukraine nun mehr Kohle aus Kolumbien als zuvor. Was erwartest du von den Aktivist*innen in Europa?
Der Kohleexport aus Kolumbien ist infolge des Kohleembargos der EU gegen Russland um über 200 Prozent angestiegen, ohne dass die sterbenden Kinder der Yukpa oder der Wayuu von den Einnahmen etwas hätten. Deutschland wird Kolumbien unter Druck setzen, nicht aus der Kohle auszusteigen. Daher ist es wichtig, dass der Ausstiegswille der kolumbianischen Regierung gestärkt wird. Andererseits sollte die deutsche Zivilgesellschaft auch ihre eigene Regierung an die Notwendigkeit des Ausstiegs aus den fossilen Energien erinnern. Ich fände es sehr wichtig, dass die Aktivist*innen hier ihr Narrativ über die Krise mehr auf das fokussieren, was sie für uns ist: nicht eine Klimakrise, sondern eine koloniale Krise. Lösen muss sie die Handvoll Länder, die sie auch verursacht haben. Wenn weiter nur von einer Klimakrise die Rede ist, wird die zentrale Forderung sein, ein CO2-ausstoßendes Modell der Landausbeutung durch eines zu ersetzen, bei dem kein CO2 freigesetzt wird. Und für uns wird sich dabei nichts ändern, denn die Energiewende wird weiter auf der Ausbeutung unserer Territorien beruhen, nur in Zukunft dann eben mit grünem Wasserstoff oder Solarzellen anstatt mit Kohle.
Ein anderer Punkt ist, dass der Kampf ums Klima hier noch aus verschiedenen Nischen und Gruppen heraus geführt wird. Das kommt der Regierung und den Unternehmen entgegen. Eine Masse von Menschen, die entschieden und entschlossen sind, die Dinge zu verändern, ist unaufhaltsam. Daran fehlt es hier noch. 2024 sollte das Jahr sein, um eine Bewegung von Bewegungen zu schmieden, unter Einschluss der Gewerkschaften – auch angesichts der Tatsache, dass der Faschismus in Europa auf dem Vormarsch ist.
Das sage ich aus der Perspektive der organisierten indigenen Gemeinschaften in Kolumbien heraus. Seitdem wir uns auf nationaler Ebene als ONIC organisiert haben, sind wir Indigene ein Machtfaktor. Hätten wir Yukpa allein weitergemacht, wären wir längst verschwunden.

Der Wald, den Gott nicht betritt

Grüne Mauer Der Darién zwischen Kolumbien und Panama (Foto: Cruz Roja Panamá)

Es ist kurz nach fünf und die aufgehende Sonne färbt die Wolken über den Baumkronen des Dschungels leuchtend orange. José Membache ist ein kleiner schmächtiger Mann mit runden Gesichtszügen. Er gehört der indigenen Emberá-Wounaan-Gemeinschaft an, die in der Darién-Region lebt. José trägt ein rotes T-Shirt mit dem Aufdruck des Cruz Roja Panamá, des Roten Kreuzes Panama. Mit ein paar anderen Männern der Community steigt er in einen klapprigen Jeep. Gemeinsam fahren sie die letzten Kilometer auf der Panamericana-Fernstraße in Richtung Dschungel bis zu der kleinen Ortschaft Lajas Blancas.

Seit fünf Jahren arbeitet José hier als Freiwilliger in einem Auffangcamp. Die Panamericana verbindet Alaska mit Feuerland. Nur hier im sogenannten Darién Gap ist sie unterbrochen. Einige Kilometer weiter endet die Straße im tiefen Dschungel. Infrastruktur gibt es hier kaum. Wie eine grüne Mauer trennt der Darién Kolumbien von Panama. Gleichzeitig stellt er die einzige Landverbindung zwischen Süd- und Zentralamerika dar. Rund 100 Kilometer geht es durch tiefsten Urwald mit steilen Hängen und reißenden Flüssen. Wer zu Fuß aus Südamerika in die USA möchte, muss eine der gefährlichsten Flüchtlingsrouten der Welt auf sich nehmen. Trotzdem haben sich 2023 so viele Menschen wie noch nie für die Flucht durch den Darién entschieden, laut dem US-Thinktank Council on Foreign Relations mehr als 520.000 und damit mehr als 1.400 Menschen am Tag. Ursprünglich hauptsächlich aus Südamerika, kommen inzwischen auch immer mehr Menschen aus asiatischen und afrikanischen Ländern. Ihre Fluchtgründe sind vielseitig.

Für José war es anfangs schwer, den Menschen hier zu begegnen: Kinder, die unterwegs von ihren Familien getrennt wurden oder Flüchtende, die noch im Camp an Flüssigkeitsmangel starben; Frauen und Kinder, die Opfer sexualisierter Gewalt geworden waren und an den Folgen litten; Menschen, denen im Darién alles geraubt wurde, was sie noch besaßen. „Die Verzweiflung der Menschen und ihre Not haben mich sehr traurig gemacht“, erzählt José. Er habe viel geweint und Albträume gehabt. Inzwischen aber, sagt er, habe er sich an die Bilder gewöhnt. „Die schlechten gesundheitlichen und psychischen Zustände der Menschen sind normal geworden und den beißenden Geruch von Menschenschweiß, Fäkalien und eitrigen Wunden, der über dem Camp liegt, nehme ich kaum noch wahr.“

In der Regenzeit sind die ausgetretenen Wege im Darién besonders matschig und glatt und die Flüsse treten über ihre Ufer. Gefährlich sind vor allem die steilen Hängen des Loma de la Muerte, des Todeshügels, von dem die Flüchtenden weit hinab in den Tod rutschen können, sowie die Durchquerung des reißenden Flusses Turquesa, des Todesflusses. Die hohe Luftfeuchtigkeit und das schwierige Terrain zehren an den Kräften der Menschen. Je länger die Reise dauert, desto gefährlicher wird sie. Eine 26-jährige chilenische Frau, die mit wiegenden Bewegungen versucht, ihre Tochter zu beruhigen, erzählt, dass sie seit sechs Wochen mit ihrem Bruder und ihren zwei Kindern zwischen einem und drei Jahren auf der Flucht sei. „Meine Tochter weint viel, weil sie Hunger hat.“ Sie hätten nicht genug Essen und das Geld gehe ihnen aus. „Fünf unserer sechs Rucksäcke haben wir im Darién zurückgelassen“, sagt sie. „Uns fehlte einfach die Kraft zum Tragen“.

„Im Nachhinein bereuen die meisten ihre Entscheidung“

Wassermangel, offene und entzündete Wunden, Fieber, Knochenbrüche und andere Verletzungen, gefährliche Tiere wie Schlangen, Pumas und Alligatoren – die Liste der Gefahren im Darién ist lang. Den Menschen bleibt oft keine andere Möglichkeit, als ungefiltertes Flusswasser zu trinken und das zu essen, was sie unterwegs finden. Nahrungsmittelvergiftungen, die mit Dehydration und Mangelernährung einhergehen, sind an der Tagesordnung. Die matschigen Pfade im Urwald sind gepflastert von zurückgelassenen Habseligkeiten, toten Menschen und deren Überresten. In Videos auf TikTok, Twitter und anderen sozialen Plattformen beschreiben Überlebende den Darién als „riesigen Friedhof“ und als „den Ort, den Gott nicht betritt“. Samuel* (Namen von Flüchtenden geändert) , ein 25-jähriger Kolumbianer, berichtet von mehreren Leichen entlang des Weges, von Angehörigen, die Löcher grüben, um tote Familienmitglieder zu beerdigen, und von Kindern, die vom Fluss mitgerissen wurden und in den Fluten verschwinden. Er erzählt von Verstorbenen in Plastiksäcken am Wegesrand und Personen, die geradewegs in die Arme von Menschenhändlern liefen. Die Durchquerung des Darién ist gefährlich und endet manchmal sogar tödlich – und trotzdem gleichen die matschigen Pfade im Dschungel einer Menschenautobahn. „Die Menschen vertrauen auf Gottes Hilfe“, sagt José. „Aber im Nachhinein bereuen die meisten ihre Entscheidung.“

Die matschigen Pfade im Dschungel gleichen einer Menschenautobahn

Das Camp in Lajas Blancas wird hauptsächlich mit UN-Geldern finanziert. José ist eine der ersten Anlaufstellen für die Flüchtenden, verteilt Simkarten oder verleiht ein Telefon für Anrufe. Hier gibt es auch eine Ladestation für Handys. Javier nummeriert jedes ladende Gerät einzeln. „Im Camp wird viel geklaut“, erklärt er. Die Menschen, die hier ankommen, befinden sich alle in einer Notsituation. In Lajas Blancas treffen Menschen aus über 40 Nationen mit den verschiedensten kulturellen und religiösen Hintergründen aufeinander. Viele sprechen kein Spanisch, die Kommunikation untereinander ist herausfordernd. „Die Not und die verzweifelte Situation führen zu vielen Auseinandersetzungen unter den Flüchtenden, und die Stimmung im Camp ist oft angespannt.“ Vor allem Kinder kämpfen mit posttraumatischen Belastungsstörungen, ausgelöst durch die schrecklichen Bilder aus dem Dschungel. Abril Staples ist Feldkoordinatorin des Roten Kreuzes in Lajas Blancas. Sie erklärt, dass die Menschen im Camp medizinische Versorgung und psychologische Unterstützung bekommen. „Die Flüchtenden werden registriert und verlorene und vermisste Personen an das Grenzmilitär von Panama übergegeben.“

In seltenen Fällen würden vermisste Personen gesucht, gelegentlich auch Leichen geborgen. Allerdings könne keiner genau sagen, wie viele Menschen im Darién sterben. Die wenigen Leichen, die gefunden werden, sind aufgrund der beschleunigten Verwesung im Dschungel kaum identifizierbar. Die Mitarbeitenden des Roten Kreuzes testen die Menschen auf Mangelernährungserscheinungen und händigen bei Bedarf Nahrungsergänzungsmittel, Erstehilfe- und Hygienekits sowie sogenannte Dignity Kits – also Dinge wie Deo, Wasserflaschen, Zahnbürsten und Zahnpasta – an die Flüchtenden aus. Im Camp gibt es kostenloses Essen und Trinken. Abril erklärt, es sei extrem schwer vorherzusagen, ob am Tag 500 oder doch 1.500 Menschen ankommen. Denn bevor die Menschen in Lajas Blancas eintreffen, gibt es keine offiziellen Zählungen. „Wir arbeiten auf Hochtouren mit den anderen Hilfsorganisationen zusammen, aber es gibt viel zu wenige Mittel.“

Erste Hilfe nach dem Dschungel Im Camp Lajas Blancas wartet das Rote Kreuz auf die Flüchtenden (Foto: Cruz Roja Panamá)

Ein paar Tage bis mehrere Monate bleiben die Menschen in Lajas Blancas, ruhen sich aus und warten, bis ihre Wunden verheilt sind. Viele hoffen darauf, dass Angehörige ihnen Geld schicken, denn die Flucht durch den Darién ist teuer. Die 28-jährige Farah* aus Haiti ist mit ihrem Mann und ihren zwei und sechs Jahre alten Kindern seit zehn Wochen unterwegs. Bisher habe sie rund 3.000 US-Dollar ausgegeben – für Essen, Transport und Unterkünfte. „Am meisten aber“, sagt sie, „kostet der Wegzoll“. An allen Zwischenstationen im Darién hätten sie eine Gebühr zahlen müssen. Wer kein Geld mehr hat, müsse so lange verweilen, bis die Familien Geld schicken. Laut Human Rights Watch kostet die Reise durch den Darién rund 500 US-Dollar pro Person – für viele Menschen auf der Flucht eine finanzielle Herausforderung. Geld können sich die Flüchtenden über eine Western Union-Station in Lajas Blancas schicken lassen – dafür zahlen sie eine Gebühr von 50 Prozent der geschickten Summe.

Die Kontrolle über die kolumbianische Seite des Darién liegt beim sogenannten Golf-Clan. Der Staat übt in dem Gebiet wenig bis keine Kontolle aus. Der Golf-Clan gilt als größte und einflussreichste paramilitärische Gruppe im Norden Kolumbiens. Er kontrolliert das Alltagsleben der Bevölkerung und die wirtschaftlichen Aktivitäten. Mit Hilfe eines raffinierten Systems aus Wegen und Kontrollpunkten überwacht er den Migrationsfluss und reguliert die Routen, welche die Flüchtenden nutzen dürfen. Eine Anwältin schätzt gegenüber Human Rights Watch, dass etwas mehr als 20 Prozent des so eingenommenen Geldes an den Golf-Clan gehen.

Samuel* erzählt, dass keiner den nordkolumbianischen Ort Acandí verlassen drüfe, ohne Wegzoll zu zahlen. „Wer kein Geld hat, wird mit Waffen bedroht.“ Das brutale Vorgehen bestätigen auch Berichte von Human Rights Watch. So lenkt der Golf-Clan von anderen illegalen Aktivitäten im Darién Gap ab: Drogen-, Waffen- und Menschenhandel. In Acandí, für viele die letzte Station vor der gefährlichen Durchquerung des Dariéns, bieten sogenannte Guides ihre Dienste an. Sie sollen den Flüchtenden helfen, schweres Gepäck zu tragen, und kennen die sichersten Schritte und herausfordernde Stellen auf dem Weg. Auch Samuel* hat sich für einen dieser Guides entschieden. Der habe ihn aber nicht wie ausgemacht bis an die Grenze von Panama gebracht, sondern nach ein paar Kilometern mit seinem Gepäck stehen gelassen. 380 US-Dollar habe er dafür gezahlt.

„Wer kein Geld hat, wird mit Waffen bedroht“ Es gibt drei Routen, die jeweils drei, sieben oder zehn Tage dauern. Je schneller die Route, desto teurer ist sie. Frauen mit Kindern oder große Gruppen brauchen sogar bis zu zwei Wochen. Tabish musste sich für die zehntägige Route entscheiden. „Hauptsächlich aus Geldmangel“, sagt er. „Ich bin schon seit zwei Monaten unterwegs und konnte nicht viel Geld aus Pakistan mitnehmen.“ Alles, was er besitzt, passt in einen Rucksack. Wie die meisten Flüchtenden trägt er sein Handy, Geld und seinen Pass in einer wasserdichten Hülle immer um den Hals. Denn ohne diese Dinge ist der Traum von einem besseren Leben in den USA schnell ausgeträumt. Wie viele der Flüchtenden wimmelt er das Gespräch ab – er sei müde von der Reise und wolle so anonym wie möglich bleiben. Auch das Gespräch mit der Chinesin Lan* ist schnell vorbei, als ihre schüchterne, leise Stimme brüchig wird und sie sich schließlich mit Tränen in den Augen abwendet.

Der Darién ist nur der Anfang einer langen Reise, die viele Gefahren birgt und kein Happy End garantiert
Gegen acht Uhr früh beginnen sich die Menschen mit ihren Rucksäcken vor den Toren von Lajas Blancas in langen Schlangen aufzustellen. In zwei Stunden kommen die ersten Busse, die die Flüchtenden bis an die Grenze von Costa Rica fahren. Die Fahrt kostet 60 US-Dollar pro Person. In Costa Rica werden die Menschen direkt wieder von Bussen bis zur nächsten Grenze gebracht. „Ab Nicaragua“, sagt José, „sind die Flüchtenden wieder auf sich gestellt“. Von Lajas Blancas bis in die USA sind es noch mehr als 5.000 Kilometer, fünf Landesgrenzen müssen passiert werden. Bevor die Menschen das Camp in Lajas Blancas verlassen, verteilt José faltbare Karten, auf denen die sichersten Routen, Hilfspunkte und mögliche Unterkünfte für Flüchtende bis an die Grenze der USA eingetragen sind. „Der Darién ist unglaublich gefährlich“, sagt José. „Aber leider ist er erst der Anfang einer langen Reise, die noch viele weiteren Gefahren birgt und kein Happy End garantiert.“ Denn selbst, wenn die Menschen es bis in den Norden von Mexiko schaffen, stehe ihnen der schwierigste und langwierigste Teil ihrer Reise noch bevor: die Einreise in die USA. Mit der Karte überlässt er die Menschen wieder ihrem Schicksal, mehr kann er nicht für sie tun.

Um fünf Uhr abends kündigt sich die Dämmerung am Horizont an. José und die Anderen steigen in den Jeep, mit dem sie in der Früh gekommen sind. Morgen kommen sie wieder nach Lajas Blancas, um den Menschen, die die Durchquerung des Darién überlebt haben, mit dem Nötigsten zu helfen.

Bukele setzt sich durch

Verfassungswidrige Wiederwahl Bukele verkündet seinen Erdrutschsieg ohne klare Ergebnisse (Fotos: Kellys Portillo, Alharaca)

„Nayib! Nayib! Nayib!“ Der Vorname des salvadorianischen Präsidenten schallt durch die Sportarena Gimnasio Nacional in San Salvador. Ein türkisfarbenes Meer von Frauen und Männern hebt die rechte Faust und ruft in drohendem Ton den Namen ihres Idols, Nayib Bukele. Was wie eine Wahlkampfveranstaltung aussieht, ist tatsächlich einer von vielen angespannten Momenten bei der finalen Stimmenauszählung für die Parlamentswahl in El Salvador. Die brüllenden Fanatiker*innen, gekleidet in Westen in den Farben der Partei von Bukele, Nuevas Ideas (Neue Ideen, NI), wurden nach dem Wahlsonntag am 4. Februar von der Partei beauftragt, ihren erwarteten Sieg zu verteidigen. Und das taten sie über die darauffolgenden chaotischen zwei Wochen um jeden Preis.

Allen Umfragen zufolge hätten die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen einen leichten Sieg für Nayib Bukele und NI bedeuten sollen. Seine Popularität ist seit Beginn seiner Amtszeit eine der höchsten unter Politiker*innen des Kontinents, was vor allem auf den vermeintlichen Erfolg seiner repressiven Sicherheitspolitik zurückz­uführen ist. Der von NI kontrollierte Kongress hat darüber hinaus illegale Wahlreformen veranlasst, um die Partei zu begünstigen und die Opposition zu entmachten.

Selbstbewusst verkündete Bukele weniger als zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale am Wahlsonntag seinen Erdrutschsieg auf Twitter und rief zu einer großen Feier vor dem Nationalpalast im historischen Zentrum der Hauptstadt auf. Doch während er und seine Anhänger*innen in seiner Rede das „erste demokratische Einparteiensystem der Welt” feierten, herrschte in den Wahllokalen Chaos. Die elektronische Stimmen­aus­zähl­ung fiel zu großen Teilen aus, so dass es um diese Uhrzeit noch keine vorläufigen Ergebnisse gab. Wahlhelfer*innen aus dem ganzen Land berichteten von der Verdopplung einiger Stimmen bei ihrer Eingabe ins System, konstanten technischen Störungen und Internet- und Stromausfällen. In der Nacht wurde beschlossen, dass die Wahlhelfer*innen die Stimmen von Hand auszählen sollten, was in einigen Wahllokalen mehr als zwölf Stunden dauerte.

„Nayib! Nayib! Nayib!“ Anhänger*innen feiern frenetisch

Als am nächsten Tag 70 Prozent der Stimmen für die Präsidentschaftswahlen und nur fünf Prozent der Stimmen für die Parlamentswahlen registriert worden waren, wurde die Auszählung vom Obersten Wahlgericht für gescheitert erklärt. Die Richter*innen entschieden, dass die verbleibenden 30 Prozent der Stimmen für die Präsidentschaftswahlen sowie alle Stimmen für den Kongress erneut ausgezählt und geprüft werden müssten. Im Laufe der darauffolgenden Woche häuften sich die Berichte über Unregelmäßigkeiten: In privaten Lagern, Schulen und Kasernen wurden vermisste Wahlurnen und -zettel gefunden.

Die Neuauszählung fand im Gimnasio Nacional statt. Die Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen waren schnell bestätigt: Nach zwei Tagen wurde Bukele mit 83 Prpzent der Stimmen zum Sieger erklärt. Auf dem zweiten Platz, allerdings weit abgeschlagen, landete Manuel „Chino” Flores von der linken Partei FMLN mit etwas mehr als sechs Prozent. Während das Ergebnis vorhersehbar gewesen war, blieb dennoch die genaue Besetzung der künftigen Legislative noch offen.

Am 11. Februar begann die finale Auszählung der Parlamentswahlen, die ebenso chaotisch verlief wie die vorangegangenen Tage. Hunderte Anhänger*innen von Nuevas Ideas – mit und ohne Akkreditierung – stürmten die Sportarena und störten den Auszählungsprozess. Sowohl Mitarbeiter*innen des Wahlgerichts als auch internationale Wahlbeobachter*innen und -helfer*innen der Oppositionsparteien waren dabei konstanten Einschüchterungsversuchen ausgesetzt. ­Die Presse durfte sich den Auszählungstischen nicht nähern und wurde am Rand der Halle isoliert. Unzählige Meldungen von Unregelmäßigkeiten wurden vom Obersten Wahlgericht ignoriert. In der Praxis handelte es sich außerdem nicht um eine ordentliche Neuauszählung, da das Oberste Wahlgericht beschlossen hatte, dass gültige Stimm­­zettel, die fälschlicherweise als ungültig gekennzeichnet wurden, oder ungültige Stimmzettel, die als Stimmen für NI gekennzeichnet wurden, nicht erneut berücksichtigt werden konnten.

Die Niederlage einer entmächtigten Opposition

Trotz des offensichtlich korrupten Prozesses wurden die Ergebnisse der Parlamentswahl genau zwei Wochen nach dem Wahlsonntag offiziell verkündet: Nuevas Ideas gewann 54 der 60 Kongresssitze. Die Opposition erhielt nur sechs Sitze, und zwar für die rechtskonservativen Parteien ARENA, VAMOS, PCN und PDC. Die beiden Letztgenannten waren in der vergangenen Legislaturperiode informell mit der Partei von Bukele ver­bün­det gewesen, mit der sie als Koalition agierten. Es ist also zu erwarten, dass nur die drei Abgeordneten der anderen Parteien ein wirkliches Gegengewicht zur Cyan-Fraktion – wie sich die NI-Ge­setz­geber*innen selbst nennen – bilden werden. Die FMLN-Partei, demokratische Nachfolgerin der linken Guerrilla, wurde zum ersten Mal seit den Wahlen nach dem Ende des Krieges im Jahr 1994 nicht in den Kongress gewählt. Somit wird die Linke aus der Gesetzgebung für die kommende Legislaturperiode ausscheiden.

Die Verteilung ist Folge der illegalen Wahlreformen, die Nuevas Ideas 2023 durchgesetzt hat. Die geänderte Gesetzgebung zur Verteilung der Sitze begünstigt nun stärkere Parteien und benachteiligt schwächere. Dadurch erlangte die NI 90 Prozent der Sitze, obwohl weniger als ein Drittel der Wähler*innen für sie stimmte.

Nach der offiziellen Bekanntgabe der Ergebnisse forderte ein Bündnis von Mitte-Rechts-Oppositionsparteien, darunter ARENA und Vamos, formell die Annullierung der Wahlen. Parallel dazu stellte die FMLN denselben Antrag. Die Präsidentin des Wahlgerichts, Dora Esmeralda Martínez, bekräftigte allerdings noch am selben Tag auf einer Pressekonferenz, dass das Verfahren mit „absoluter Transparenz” durchgeführt worden sei. Das nach dem Bürgerkrieg hart erkämpfte Vertrauen in das Wahlsystem ist weg.

Der Omnibus fährt gegen die Wand

Ein gigantischer Löwe hockt auf einem Käfig. Davor, auf dem Kongressplatz, eine riesige Menschenmenge, die Argentinienflaggen schwingt. Als Bildunterschrift ein Ausschnitt der argentinischen Nationalhymne: „Hört, ihr Sterblichen, den heiligen Schrei: Freiheit, Freiheit, Freiheit!“ Dieses KI-generierte Bild postete Javier Milei am 1. Februar auf Instagram. Seine Reaktion auf die starken Proteste am Vortag ist für viele ein Symbolbild für die Befreiung des argentinischen Volkes. Für andere hingegen steht es für die zunehmende Repression. Denn auf dem Bild verlässt die Menschenmasse den Käfig nicht, sondern läuft in diesen hinein.

Am 31. Januar kam es in Buenos Aires zu Demonstrationen vor dem Kongressgebäude gegen das „Omnibus-Gesetz“, das im Kongress intensiv debattiert wurde. Die Einsatzkräfte gingen dabei mit Gewalt gegen die Demonstrant*innen vor, es kam zu tumultartigen Szenen.

Im Kongress ist Milei mit seinem „Omnibus-Gesetz“ vorerst gescheitert. Das zum Ende „nur noch“ 386 – zu Beginn waren es 664 – Artikel umfassende Vorhaben sah Änderungen in fast allen gesellschaftlichen Bereichen von Wirtschaft über Soziales bis zur Justiz vor. Durch den im Gesetzespaket enthaltenen Ausruf des Notstandes bis Dezember 2025 hätte es zu einer weiteren Machtkonzentration beim Präsidenten geführt. Nach dem Scheitern des Vorhabens twitterte Milei: „Die Kaste stellt sich gegen das Volk.“ Dazu veröffentlichte er eine Liste mit den Namen der Abgeordneten, die gegen das Paket gestimmt hatten. Dazu der Hinweis: „Das Präsidialamt weist auf den Verrat an seinen Wählern hin.“

Trotz Sommerpause – die offizielle Legislaturperiode beginnt am 1. März (nach Redaktionsschluss) – wurde das Gesetzespaket verhandelt, begleitet von sozialen Protesten. Diese hatten ihren bisherigen Höhepunkt neben dem 31. Januar mit dem Generalstreik am 24. Januar. Gewerkschaftsführer Pablo Moyano hat bereits angekündigt, dass der nächste Generalstreik „unmittelbar bevorstehe“. An den Protesten teilzunehmen, ist allerdings nicht ungefährlich. Sicherheitsministerin Patricia Bullrich lässt mit „harter Hand“ durchgreifen. Diese besteht primär aus dem Einsatz von Gummigeschossen, Tränengas und Wasserwerfern. Bei den Ausschreitungen am 31. Januar wurden der Journalist*innen-Gewerkschaft zufolge 35 Journalist*innen und noch weitaus mehr Demonstrant*innen verletzt.

Alejandro, überzeugter Peronist und bereits im Rentenalter, sieht neben der Gewalt noch einen weiteren Grund dafür, dass die Proteste noch nicht die Dimensionen erreichen wie zu früheren Zeiten in Argentinien. Viele aus seinem Bekanntenkreis seien der Meinung, dass nur „arme Menschen“ auf die Straße gehen. Dieser Gruppe möchte niemand angehören.

Die Armutsrate steuert allerdings auf die 60 Prozent zu. De facto ist derzeit also ein Großteil der Argentinier*innen arm. Bei einer Inflationsrate von 254 Prozent im Januar im Vergleich zum Vorjahresmonat sinkt die Kaufkraft immer weiter, da die Gehälter nicht im gleichen Maße stigen. Der frühere General und Präsident Juan Perón beschrieb das Phänomen zu Lebzeiten mit den Worten: „Die Löhne gehen die Treppe rauf, die Preise nehmen den Aufzug.“

Nicht nur in Buenos Aires regt sich Widerstand. Eine Gruppe patagonischer Gouverneure droht, die Lieferung von Erdöl und Erdgas an andere Landesteile zu stoppen. Die sechs für Erdöl- und Erdgasförderung bekannten Südprovinzen reagieren damit auf eine Ankündigung von Wirtschaftsminister Luis Caputo. Der hatte verkündet, Zahlungen an die Provinz Chubut aus Bundessteuern zu stoppen, um ausstehende Schulden der Provinz gegenüber dem Staat zu begleichen. Auch die nordwestliche Provinz La Rioja rebelliert. Sie kündigte an, eine cuasimoneda („Quasiwährung“) einzuführen. Beim sogenannten Bocade handelt es sich faktisch um einen Schuldschein, mit dem vor allem die Gehälter der Staatsangestellten bezahlt werden sollen. Auch La Rioja begründet sein Vorgehen mit dem Ausbleiben von Zahlungen der Zentralregierung, weshalb man sich anders behelfen müsse. Die Lage erinnert stark an die Staatspleite 2001, als es ebenfalls zahlreiche „Quasiwährungen“ gab.

„Die Löhne gehen die Treppe rauf, die Preise nehmen den Aufzug“

Trotz der sich vertiefenden sozialen Krise und aller Probleme steht noch immer ein Großteil der Argentinier*innen hinter Milei, der einen Achtungserfolg verbuchen konnte. Im Januar wies Argentinien das erste Mal seit August 2012 einen Haushaltsüberschuss vor. Dass ein solcher über eine Dekade lang kein einziges Mal erwirtschaftet wurde, zeigt, welch schweres Erbe die Regierung Milei antrat.

Das Defizit abzubauen war nur durch große Einsparungen und den Abbau des Staatsapparats möglich. Zuletzt wurde angekündigt, das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI) zu schließen. Das geht allerdings nur per Gesetz mit Mehrheit im Kongress. Die Schließung schlägt in die gleiche Kerbe wie viele weitere Maßnahmen. Von Milei und vielen weiteren wird das gerne als „Gnocchis loswerden“ beschrieben. Traditionell werden im von italienischer Einwanderung geprägten Land am 29. eines jeden Monats Gnocchis gegessen. Wird der Begriff allerdings auf Staatsangestellte bezogen, sind mit Gnocchis diejenigen gemeint, die nur einmal im Monat (oder im Februar auch mal gar nicht) arbeiten.

Unterstützung erhält Milei vom Internationalen Währungsfonds (IWF). Argentinien, mit 44 Milliarden US-Dollar Hauptschuldner der Washingtoner Finanzinstitution, wird eine weitere Kredittranche in Höhe von 4,7 Milliarden Dollar ausgezahlt bekommen, obwohl wichtige Ziele des Programms nicht erreicht worden seien. Für das Land machte der Exekutivrat des IWF eine Ausnahme. Die Frist zum Erreichen der Ziele wurde bis Ende des Jahres verlängert, die Kredittranche sofort.

Neben der innenpolitischen Situation wurden auch Mileis Auslandsbesuche genau beäugt. Gegenüber China und Brasilien, den wichtigsten Handelspartnern Argentiniens, zeigte er sich bisher pragmatischer als es nach seinen verbalen Ausfällen im Wahlkampf zu erwarten gewesen war. Mit US-Außenminister Antony Blinken führte er „produktive Gespräche“ in Buenos Aires, in Washington tauschte er mit Donald Trump ein schnelles „Make Argentina Great Again“ aus. Eine weitere Reise führte den Präsidenten nach Israel, inklusive Emotionsausbruchs an der Klagemauer. An seiner Loyalität gegenüber der Ukraine, Israel, den USA und auch der EU lässt er keine Zweifel.

Auf all seinen Flügen war Milei getreu seinem Motto „No hay plata“ („Es gibt kein Geld“) in Linienmaschinen unterwegs. Auch nach Deutschland wurde er bereits eingeladen, allerdings vom deutschen Libertären und Werteunion-Mitgründer Markus Krall. Hier soll er die Hayek-Medaille entgegennehmen.

Tatsache ist: Mileis Politik zeigt Wirkung. Der Haushalt konnte schneller stabilisiert werden als erwartet, während die soziale Misere im Land immer dramatischer wird. Der Widerstand organisiert sich ebenfalls. Auf der Straße wird mobilisiert, der Kongress beugt sich Milei nicht und auch die im föderalen Argentinien bedeutsamen Gouverneure formieren sich als Opposition. Alejandro resümiert kritisch: „Milei hat angekündigt, die Kaste bezahlen zu lassen, aber in Wirklichkeit bezahlen gerade die Armen.“ Und es gibt jede Menge offener Rechnungen.

Explosiver März gegen Milei

Ob organisiert oder nicht Die feministische Vollversammlung gibt allen eine Stimme (Fotos: Julieta Bugacoff)

Die feministische Vollversammlung fungiert als Koordinationsorgan der feministischen Bewegung Argentiniens: Seit 2016 bietet das Gremium den verschiedensten Strömungen der Bewegung einen Raum zur Vernetzung und Organisation. Auf dem Treffen diskutieren die Teilnehmer*innen, ob in politischen Strukturen und Kollektiven organisiert oder nicht, die aktuelle Situation und planen den Kampf auf der Straße. Dieses gemeinsame Treffen, welches auch immer einen Neuanfang darstellt, ist, was die Bewegung zu einer Einheit werden lässt.

Am 14. Februar fand das erste Vorbereitungstreffen für den kommenden 8. März im Hof der ATE, der Gewerkschaft der Staatsbediensteten von Buenos Aires, statt. Das Treffen war als Reaktion auf einen Eilaufruf zustande gekommen. Zugleich versuchte die Regierung, die parlamentarische Niederlage des Omnibus-Gesetzes zu vertuschen, indem sie einen schlecht recherchierten Gesetzentwurf zur erneuten Illegalisierung von Abtreibung aufsetzte. Ein wichtiges Anliegen der Vollversammlung war, die Empörung darüber nicht in den sozialen Medien verpuffen zu lassen. Damit fällt die feministische Bewegung nicht auf Mileis Provokationen herein, die ein doch nur zu offensichtliches Ablenkungsmanöver von der katastrophalen, aktuellen Situation darstellen, in welcher sich das Land befindet.

Die Vollversammlung wiederholt sich zwar jährlich, sie versucht jedoch jedes Mal, neue Antworten in Bezug auf aktuelle Geschehnisse zu finden. In ihr vereinigen sich Stimmen und Erfahrungen, die sonst in der Politik nicht gehört werden.

Der offene Charakter erlaubt es dabei auch Personen, die bisher nicht organisiert sind, sich einzubringen. Die erste Großdemonstration zum 8. März fand in Argentinien 2017 während der Regierung von Mauricio Macri statt. Der diesjährige 8M wird der erste gegen eine ultra-rechte Regierung sein, die schon im Wahlkampf ihren explizit antifeministischen Charakter zeigte und diesen seit der Übernahme der Präsidentschaft immer weiter bestätigt. Von seiner Rede vor dem Wirtschaftsforum in Davos, in der Javier Milei den Feminismus attackierte, bis hin zu seinen wiederholten Angriffen auf die Sängerin Lali, weist alles auf seine Besessenheit hin, den Feminismus als Feindbild zu konstruieren. Diese Sichtweise macht ihn zu einem Teil des globalen Skripts reaktionärer politischer Akteur*innen, die panische „Angst vor Gender“ haben, um den Titel eines kürzlich erschienenen Buches von Judith Butler zu verwenden.

Streiken gegen den Hunger

Der Raum der Vollversammlung im Februar war zum Bersten voll. Ihre Zusammensetzung und die Fürsorge als Teil der so genannten unsichtbaren politischen Arbeit ist das, was die „vielstimmige“ Gemeinschaft, wie Dora Barrancos sie zu Beginn nannte, zusammenhält. Unterschiedliche Stimmungen, Erwartungen und Sprechweisen treffen aufeinander, aber es gelingt ihnen, gemeinsame Strategien zu erarbeiten, um auf der Straße Schlagkraft zu entwickeln. Im Mittelpunkt der Redebeiträge stand dabei besonders die Frage des Hungers: Der Lebensmittelnotstand in den Suppenküchen, den Stadtvierteln und Haushalten. Dina Sánchez, stellvertretende Generalsekretärin der UTEP (Unión de Trabajadores y Trabajadoras de la Economía Popular; Gewerkschaft der Arbeiter*innen im informellen Sektor) sprach von der „leeren Tupperbox, mit der die Genossinnen aus Suppenküchen zurückkommen, die nicht alle versorgen können“.

Ihr Redebeitrag bringt etwas zum Ausdruck, was die feministische Bewegung in den letzten Jahren wie keine andere erreicht hat: Gleichzeitig von bezahlter und unbezahlter, formeller und informeller, sichtbarer und unsichtbarer, häuslicher und gemeinnütziger Arbeit zu sprechen. Dies hat es den feministischen Streiks des 8. März ermöglicht, viele unterschiedliche Realitäten zu berücksichtigen. Auch die derjenigen, die sich zunächst einen Weg zu streiken erfinden müssen: Erst durch die Abwesenheit der von ihnen übernommenen Aufgaben wird ihrer nicht als solchen anerkannten Arbeit Aufmerksamkeit zuteil.

Dass dabei die meisten zentralen gewerkschaftlichen Organisationen vertreten sind, zeugt von der Bedeutung des gewerkschaftlichen Feminismus. Angesichts der brutalen Abwertung von Löhnen, Renten und Subventionen unterstreicht die gewerkschaftliche Präsenz auch den Anschluss an den Generalstreik vom 24. Januar.

Neben analytischen Perspektiven auf die politischen Veränderungen werden deren direkte Folgen im Alltag beschrieben: Medikamente, die nicht mehr bezahlt werden können, Schulsachen, die zum Luxus werden, Mietpreise, die Diebstahl gleichkommen und alle drei oder sechs Monate erhöht werden, das SUBE-Guthaben (Anm. d. Red.: Bezahlsystem für den ÖPNV in Buenos Aires), das immer schneller verschwindet.

Feministisch zuhören Wie wirken sich die politischen Umstände auf den Alltag von FLINTA* aus?

Diese Erfahrungsberichte zeigen, dass das Zuhören eine zentrale Funktion der Versammlung ist. So ist sie ein Ort, an dem verständlich wird, wie das Leben durch die immer dringlicheren, prekäreren Umstände gefährdet ist, die selbst die grundlegendsten Alltagsroutinen durcheinanderbringen. Mehrere Beiträgen der Vollversammlung hoben die perversen Auswirkungen des DNU (Decreto de necesidad y urgencia; dt.: Dekret der Notwendigkeit und Dringlichkeit) hervor. Wie die Afrofeministin Sandra Chagas betont, schafft dieses Dekret eine Atmosphäre der Gewalt: Rassistische Gewalt und Diskriminierung gegen rassifizierte Menschen, insbesondere gegen diejenigen, die auf der Straße arbeiten, würden durch die Hassreden der Machthaber*innen gefördert und seien heute schon an der Tagesordnung.

Feministisch zuhören und analysieren

Ein weiteres Thema, das sich durch die Versammlung zog, war das der Kriminalisierung des Protests und politischer Verfolgung als zentrales Problem der feministischen Bewegung. Dabei wurde auch eine absurde Verdrehung feministischer Anliegen seitens der Institutionen zum Zwecke der Kriminalisierung aufgezeigt. So zum Beispiel im Fall der beiden Personen, die in Jujuy wegen eines Tweets verhaftet wurden und bei denen „geschlechtsspezifische Gewalt“ als strafverschärfender Faktor in den Urteilen verwendet wurde, wie die Lebensgefährtin einer der beiden Personen per Video erläuterte. Das Manöver ist unheimlich: Es handelt sich um einen Versuch, ein feministisches Anliegen heranzuziehen und zu instrumentalisieren, um Protest zu kriminalisieren und die Meinungsfreiheit aufzuheben.

Ebenfalls anwesend war die lesbische Aktivistin Pierina Nocchetti, die ohne Beweise beschuldigt wird, in Necochea ein Graffiti mit dem Slogan „Wo ist Tehuel?“ (Anm. d. Red.: Vermisstenfall eines jungen trans Mannes) gemalt zu haben, und die sich in der Woche des 8. März der Gerichtsverhandlung stellen muss.

Kehren wir zu Butlers Frage zurück: Warum ist „Gender“ zu einem phantomhaften Symbol geworden, das in der Lage ist, Ängste, Unsicherheiten und Befürchtungen so zu binden, dass es zur Grundlage für die Feindbildkonstruktion reaktionärer Politiker*innen und Machthaber*innen wird? Den Faschisten des 21. Jahrhunderts erlaubt dies, eine Art konzentrierte Schuld – und eine wirksame, gemeinsame Sache – für die Übel zu finden, die der Neoliberalismus an Unsicherheiten mitbringt, wie etwa Zukunftsängste, Beziehungsängste und Existenzängste. So wird die Fantasie der Rückkehr zur patriarchalen Ordnung erzeugt: Eine idyllische Zeit, die es nie gab, die aber die Rolle einer „natürlichen“ Ursprungsgeschichte spielt.

Die feministische Vollversammlung bietet für die kommenden Wochen ein Rendezvous inmitten des Trubels, einen Ort des arbeitsamen Treffens mit der Aufgabe, einen politischen Moment in einem März zu schaffen, der, wie man jetzt schon spürt, explosiv sein wird. „Wir werden nicht aufgrund unserer Fehler als Feinde bezeichnet, sondern weil wir tiefe Strukturen der Ungleichheit ins Wanken gebracht haben. Gegen diese werden wir uns organisieren“, fasste Luci Cavallero vom Kollektiv Ni Una Menos am Ende der ersten Versammlung zusammen.

„Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren“

Foto: Katia Sepúlveda

Als Yuderkys Espinosa (Santo Domingo, 1967) nach Buenos Aires kam, wurde sie mit einem Rassismus konfrontiert, den sie aus ihrer Heimat, der Dominikanischen Republik, nicht kannte. Als sie das erste Mal einkaufen ging, fragte sie der Ladenverkäufer: „Wie kann die Hausherrin Sie denn mit Ihrem Haar so ausgehen lassen?“, in Anspielung auf ihren angeblichen Status als Hausangestellte. Das war kein Einzelfall. Rassismus war nicht nur im Alltag, sondern auch in der Universität ein Thema.

Während ihres Studiums in Argentinien beschäftigte sich Yuderkys Espinosa mit dem lesbischen, autonomen Feminismus, einer intellektuellen Strömung, die in Ablehnung der Institutionalisierung des Feminismus durch den Staat und NGOs entstand. Sie distanzierte sich jedoch wieder davon, aufgrund des „epistemischen (wird oft als Synonym von ‚wissenschaftlich‘ verwendet, Anm. d. Red.) Rassismus“, der es ihr nicht zutraute, kritische und ernstzunehmende Gedanken zu entwickeln. Auch ihre spätere Annäherung an die Queere Theorie überzeugte sie nicht. Sie stellte fest, dass diese sich auf Thesen aus Europa und den USA konzentrierte und vor allem auf den Erfahrungen reicher, weißer Personen und Akademiker*innen beruhte – Erfahrungen, denen sie sich entfremdet fühlte.

Biografisch führt Espinosa ihren kritischen Geist auf ihren Vater zurück, einen Mann aus der Schwarzen Arbeiterklasse, der sie schon als Kind ermutigte, das Establishment zu hinterfragen. Später festigte ihre Liebe zum Lesen, vor allem aber ihr ständiger Dialog mit Frauen vom Land, aus der Arbeiterklasse, der indigenen und der Schwarzen Bevölkerung ihre rebellische Persönlichkeit und ihren kritischen Standpunkt.

Mit vielen Fragen im Hinterkopf und auf Basis ihrer Erfahrungen als Migrantin und afrokaribische Frau in Buenos Aires, landete Espinosa beim dekolonialen Feminismus. Diese Strömung, die sich auf die Widerstandserfahrungen der indigenen Völker Lateinamerikas und der Karibik stützt, greift auch auf theoretische Ausarbeitungen des Schwarzen Feminismus in den USA zurück. Sie kritisiert die feministische Theorie als eurozentrisch und bürgerlich.

Ein Wendepunkt in Espinosas theoretischer Entwicklung war die Lektüre von Género y descolonialidad (2008) der argentinischen, feministischen Philosophin und Aktivistin María Lugones mit Isabel Jiménez Lucena und Madina Vladimirovna Tlostanova. In diesem Buch fand sie ausformuliert, was sie selbst an der weißen Herkunft des Feminismus kritisiert hatte.

Angetrieben von dem Bedürfnis, über Lateinamerika nachzudenken und dabei indigene, mestiza und Schwarze Frauen in den Mittelpunkt zu stellen, näherte sich Espinosa den dekolonialen Ansätzen. Diese theoretische Strömung wurde in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren entwickelt. Die Kritik der europäischen Moderne, die Dekolonisierung des Wissens und das subalterne Subjekt gehören zu den theoretischen Hauptinteressen des Ansatzes, der stark von dem peruanischen Soziologen Aníbal Quijano und seinem Konzept der „Kolonialität“ beeinflusst wurde. Dieses weist auf das Machtgefüge hin, das die Bevölkerung der Welt historisch bis heute sowohl auf materieller Ebene als auch in Bezug darauf, was als Wissen anerkannt wird und was nicht, rassistisch klassifiziert und ordnet.

Die dekoloniale Wende verband verschiedene Strömungen des lateinamerikanischen Denkens, die sich aus unterschiedlichen Perspektiven mit Themen wie den Beziehungen Lateinamerikas zu Europa und Nordamerika und der gegenwärtigen Dynamik von Herrschaft und Unterordnung auseinandersetzten. Auch kritische feministische Perspektiven durch Autorinnen wie María Lugones, die argentinische Anthropologin Rita Segato und Yuderkys Espinosa gewannen innerhalb der Strömung mit der Zeit an Bedeutung. Espinosas Arbeit hat sich unter anderem in ihrem letzten Buch De qué es necesario un feminismo decolonial (dt.: Warum ein Dekolonialer Feminismus notwendig ist) auf diese Perspektive konzentriert.

In Ihrem Buch De qué es necesario un feminismo decolonial stellen Sie eine kritische Genealogie (Genealogie als sozialwissenschaftliche Methode, mit der die Herkunft und Entwicklung z. B. von Konzepten nachgezeichnet wird, Anm. d. Red.) dessen auf, was Sie als „die Kolonialität der feministischen Vernunft in Lateinamerika und der Karibik“ bezeichnen. Können Sie diese Kritik etwas erläutern?

Sie bezieht sich auf die Tatsache, dass die Grundannahmen des Feminismus europäisch sind. Sie sind dem Projekt der westlichen Moderne verpflichtet, wo die Befreiung der Frau eine Befreiung in der Art und Weise bedeutet, wie die europäischen Länder sie verstehen. Es gibt zwar viele feministische Strömungen, doch viele davon teilen Grundlagen, die mit der modernen Rationalität zusammenhängen. Diese Grundlagen problematisieren wir.

Sie schlagen vor, dass es für eine Revision und Entflechtung des produzierten Wissens nicht mehr darum geht, über die Überschneidungen zwischen raza und Geschlecht wie im Ansatz der Intersektionalität zu sprechen, sondern sie als Ganzes zu betrachten, als „rassistische modern-koloniale Matrix des Geschlechts“. Was ist die Kritik an der Intersektionalität und was schlägt Ihr Konzept dagegen vor?

Das Hauptproblem besteht darin, dass intersektionale Ansätze bestimmte Identitätskategorien isolieren. Der Trend der letzten Jahre geht dahin, dass die Geschlechterforschung die Intersektionalität nutzt, um die Situation Schwarzer und indigener Frauen zu untersuchen. Es wird untersucht, wie sich raza und Klasse auf diese Frauen auswirken, dann werden weitere Variablen hinzugefügt: Behinderung, Geschlechtsidentität und so weiter. Wir nennen das „summative Betrachtung“ – man kann scheinbar alles addieren. Jede dieser Kategorien wird jedoch aus dem sozialen Ganzen herausgelöst und dabei immer aus der Erfahrung derjenigen herausgearbeitet, die innerhalb dieser Kategorie größere Privilegien genießen. María Lugones zeigt, dass es unmöglich ist, Herrschaft in voneinander unterteilten Variablen zu betrachten. Wir haben daher das Konzept der „kolonial-modernen, rassistischen Matrix des Geschlechts“ erarbeitet. Es zeigt auf, dass es nicht möglich ist, zu sagen „jetzt gerade spielt das Geschlecht die größte Rolle, jetzt gerade raza, jetzt die Klasse“.

Elizabeth González, Anführerin der Q’om-Frauen des Chaco in Argentinien, bekräftigt, dass die Q’om-Frauen das Gefühl haben, dass sie mit ihren Brüdern in ihrem Land eine Verteidigungseinheit bilden, „als ein Ganzes, das aus keinem Grund getrennt werden darf, da sie sonst nicht in der Lage sind, der Armut, der Marginalisierung und der Politik des Verschwindens zu begegnen“. Diese Vision, die vor allem im Rahmen des gemeinschaftlichen und/oder indigenen Feminismus entwickelt wurde, steht im Gegensatz zu der einiger Feminismen, einschließlich des separatistischen Feminismus, die sich von der Beteiligung der Männer an der Bewegung distanzieren. Sehen Sie Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Positionen?

Das ist sehr schwierig. Ich denke, der separatistische Feminismus muss lernen, sich zu dekolonisieren. Dieser feministische Separatismus gibt dem Projekt der Moderne Kontinuität, indem er das gemeinschaftliche Band zerbricht. Die Vorstellung von Frauen auf der einen und Männern auf der anderen Seite ist eine Erwiderung auf dieses auf Individualisierung ausgerichtete Zivilisationsmodell. Für diesen Feminismus wie für die Moderne hat die Rückständigkeit der Menschheit mit der Aufrechterhaltung dieser gemeinschaftlichen Bindung zu tun. Deshalb drehen sich alle großen feministischen Phrasen und Slogans um das Ich: „Mein Körper gehört mir“, „Ich entscheide“. Wenn Frauen sich von der gemeinschaftlichen Bindung lösen, entsteht eine Form der Beziehung, die auf der Konstruktion fiktiver, politischer Gesellschaften beruht, und das ist die feministische Gemeinschaft.

Was geschieht, wenn es Frauen gibt, die körperliche, psychische oder wirtschaftliche Gewalt
erlitten haben und keine Gemeinschaftsbeziehungen mit gewalttätigen Männern eingehen wollen?

Die Antwort darauf kann nicht sein, dass wir jetzt eine Frauengesellschaft schaffen, als ob es diese Formen der Gewalt dann nicht gäbe. Es ist eine Verblendung seitens weißer Feministinnen, zu glauben, dass es sichere Räume für Frauen gibt, wenn wir ausschließlich unter Frauen sind. Das ist nicht die Erfahrung, die die meisten von uns, vor allem rassifizierte Frauen, gemacht haben. Wir haben auch gesehen, dass sich die größte Empörung oft gegen rassifizierte Männer richtet, die nicht die Macht in der Gesellschaft haben und die ihre Regeln nicht definiert haben. Woher kommt dabei der Gedanke, dass Frauen nicht in der Lage sind, Gewalt zu erzeugen? Das ist eine Idealisierung. Hier stellt sich die Frage nach der Erweiterung unseres Blicks. Wir sprechen über Gewalt, die produziert wird, weil sie Teil einer Struktur ist, in diesem Fall einer modernen, rassistischen, kolonialen Struktur. Auch das Geschlecht ist Teil dieser Struktur.

Wie können wir in Lateinamerika einen neuen Denkansatz für den Feminismus entwickeln, in einem Kontext, in dem der Rassismus ganze Gesellschaften durchdringt?

Ich denke, es ist nicht mehr nur ein erkenntnistheoretisches Problem, sondern auch ein ontologisches, das heißt, wie wir die Welt machen, nicht nur wie wir sie interpretieren. In diesem Sinne denke ich, dass die Entkolonialisierung bedeuten sollte, anzuerkennen, dass es andere mögliche Welten gibt, dass wir ein anderes Gesellschaftsmodell aus den kommunalen Geweben dieses Kontinents lernen können. Wir können nicht glauben, dass wir den Rassismus innerhalb der Ordnung der Moderne selbst beenden können. Denn diese ist ein zivilisatorisches Modell, das sich auf die bekannten Institutionen stützt: den Nationalstaat, mit seinen Aufrüstungskapazitäten, seinem Gewaltmonopol und seinem Justizsystem.

Pablo González Cassanova entwickelte in den 1970er Jahren das Konzept des „inneren Kolonialismus“, das später von Silvia Rivera Cusicanqui weiterentwickelt wurde, wobei er betonte, dass eine seiner schlimmsten Erscheinungsformen die Ablehnung von allem, was mit indigenen Völkern zu tun hat, durch Teile der Linken ist. Wie funktioniert dieser „innere Kolonialismus“, der nicht nur in konservativen und rechten Eliten, sondern auch in progressiven und linken Sektoren verwurzelt ist?

Die dekoloniale Wende ist eine Notwendigkeit der Bewegungen der späten 1980er Jahre. In dieser Zeit traten Subjekte, die bis dahin darauf beschränkt waren, aus einem marxistischen Vokabular und einer marxistischen Interpretation heraus gelesen zu werden, aus diesem Rahmen heraus. In den 1990er Jahren begannen diese Gruppen, sich authentischer auf der Grundlage ihrer eigenen Geschichte zu positionieren. Es ist eine Revision der lateinamerikanischen Philosophie notwendig, die sich bisher schwertat, ihr Paradigma zu ändern. Die Linke folgt diesem Muster: Sie sprach immer von einem Fortschritt, der eng damit verbunden war, sich wie Europa oder im Sinne der marxistischen Ideen zu entwickeln. Wenn es nun Misstrauen seitens der Linken gegenüber der dekolonialen Wende gibt, dann interpretiere ich das auch als eine Debatte darüber, wer die Macht hat, den gesellschaftlichen Diskurs zu dominieren.

Raum für Überraschungen

Wann darf die Stimme abgegeben werden? Regionalwahl in Maracaibo im November 2021 (Foto: Frederic Schnatterer)

Es sei ein „Ereignis von historischer Bedeutung“, erklärte der venezolanische Parlamentspräsident Jorge Rodríguez am 28. Februar. Kurz zuvor hatten Vertreter*innen zahlreicher politischer Parteien, Unternehmensverbände und weiterer ge­sellschaftlicher Gruppen nach mehr­ma­liger Ver­schiebung ein Dokument mit dem sperrigen Titel „Nationales Abkommen über die allgemeinen Grundsätze, den Zeitplan und die Ausweitung der Wahlgarantien für die Präsidentschaftswahl 2024“ unterzeichnet. Dieses geht auf einen mehrwöchigen Dialogprozess zurück, an dessen Ende eigentlich ein Wahltermin verkündet werden sollte. Anders als ursprünglich angedacht enthält das Dokument nun allerdings nicht den einen Vorschlag, sondern nennt 27 mögliche Termine zwischen April und Dezember.

Wir haben beschlossen, alle von den Akteuren des Dialogs vorgeschlagenen Daten zu berücksichtigen“, so Rodríguez. Sowohl den Termin, als auch das Reglement zu beschließen sei Aufgabe des Nationalen Wahlrates (CNE) – der wie alle anderen staatlichen Institutionen mit einer chavistischen Mehrheit besetzt ist. Möglicherweise um der Kritik den Wind aus den Segeln zu nehmen, wonach der regierende Chavismus zwar konsultiert, die Entscheidungen aber willkürlich alleine trifft, betont dieses Vorgehen also die laut Verfassung vorgesehene Unabhängigkeit der Gewalten.

Doch im Hintergrund läuft ein undurchsichtiger Prozess von Verhandlungen, Drohungen und offensichtlich auch unterschiedlichen Ansichten innerhalb der Regierung. Diese möchte die Wahl ohne großes Risiko gewinnen, strebt andererseits aber inner- und außerhalb Venezuelas eine breite Anerkennung der Ergebnisse an. Bisher bestehen erhebliche Zweifel, ob dies gelingen kann. Denn die prominentesten Oppositionspolitiker*innen dürfen nicht kandidieren. Der Regierung verschafft das möglicherweise den entscheidenden Vorteil, um die Wahl gegen eine gespaltene Opposition zu gewinnen, obwohl die Umfragewerte von Präsident Nicolás Maduro im unteren zweistelligen Bereich liegen.

Dabei sah es noch vor einem halben Jahr danach aus, als würden sich die Wogen nach den gescheiterten Umsturzversuchen der letzten Jahre glätten. Ein Abkommen, das die Regierung und das rechte Oppositionsbündnis Plataforma Unitaria Democrática im Oktober in Barbados unterzeichnet hatten, deutete auf transparente Wahlen 2024 hin. Es sieht vor, dass die Präsidentschaftswahl in der zweiten Hälfte dieses Jahres stattfinden und die politischen Parteien ihre Kandidaturen nach eigenen Regeln bestimmen sollen. Zudem soll es umfassende Wahlgarantien und eine glaubhafte Wahlbeobachtung geben.

Das Abkommen kam unter anderem deshalb zustande, weil die USA, die seit 2017 umfassende wirtschaftlichen Sanktionen gegen das Land verhängt hatten, seit Beginn des Ukraine-Krieges wieder ein Interesse an venezolanischem Erdöl haben. Unmittelbar nach der Unterzeichnung genehmigte die US-Regierung sowohl den Handel mit als auch Investitionen in Erdöl, Gas und Gold, solange sich die venezolanische Regierung an die vereinbarten Schritte hält. Im Gegenzug erhielt sie die Erlaubnis, Abschiebeflüge aus den USA nach Venezuela durchzuführen – ein aufgrund gestiegener Migrationszahlen für Präsident Joe Biden wichtiges Wahlkampfthema. Andere Themen, wie die juristischen Eingriffe in die Führung mehrerer rechter wie linker Parteien (darunter auch die Kommunistische Partei Venezuelas), thematisierte das Abkommen nicht. Dennoch handelt es sich um die weitreichendste Übereinkunft zwischen Regierung und Opposition seit dem Amtsantritt von Maduro 2013.

Trotzdem sehen viele das Abkommen als bereits überwiegend gescheitert an. Die Regierung selbst bezeichnet es mittlerweile als Vorstufe eines breiteren Dialogs, der im Februar angestoßen wurde.
Zwar gab es zunächst zaghafte Fortschritte bei der Umsetzung, so einen Gefangenentausch mit den USA. Das für die Opposition entscheidende Thema war und ist aber das Antrittsverbot für ihre Wunschkandidatin María Corina Machado. Sie zählt seit über 20 Jahren zum rechten Rand der Opposition, hat sich in den vergangenen Jahren offen für eine US-Militärintervention ausgesprochen und will Staatsunternehmen privatisieren. Am 22. Oktober gewann Machado eine Vorwahl der Opposition ohne ernstzunehmende Kon­kurrenz. Die Regierung tolerierte die Abstimmung zunächst, erkannte sie anschließend aber nicht an. Wegen angeblichen Betrugs ging die Justiz gegen die Organisator*innen der Vorwahl und das direkte Umfeld von Machado vor.

Im Abkommen von Barbados heißt es, dass alle Kandidat*innen, die „die rechtlichen Voraussetzungen erfüllen“, an den kommenden Wahlen teilnehmen dürften. Regierung und Opposition einigten sich daher Ende November auf ein Verfahren, um die Antrittsverbote jeweils auf Antrag vor dem Obersten Gericht (TSJ) prüfen zu lassen. Entgegen vorheriger Ankündigungen erschien Ma­chado am 15. Dezember aber vor dem Obersten Gericht, das Ende Januar die Antrittsverbote für sie und den ebenfalls prominenten Oppositionspolitiker Henrique Capriles bestätigte. Die USA setzten als Reaktion darauf die Sanktionen im Goldsektor wieder ein und drohten damit, auch die im Erdölsektor zu erneuern, sollte es bis April keine Fortschritte zu transparenten Wahlen geben. Die venezolanische Regierung zog daraufhin die Erlaubnis für Abschiebeflüge zurück.

Ohne Wirkung blieb die Reaktion der US-Regierung nicht. Anfang Februar rief Parlamentspräsident Rodríguez alle Sektoren des Landes dazu auf, sich an einem breiten Dialog zu beteiligen, um einen konkreten Fahrplan für die Präsidentschaftswahl auszuarbeiten. Tatsächlich kam es in den folgenden Wochen zu zahlreichen Treffen mit moderaten Teilen der Opposition, die teilweise in dem alternativen Oppositionsbündnis Alianza Democrática organisiert sind und bereits zu früheren Zeitpunkten Parallelverhandlungen mit der Regierung geführt haben. Die größere Plataforma Unitaria Democrática, der die traditionelle rechte Opposition angehört, traf sich am 20. Februar mit der Regierung, unterzeichnete das Abkommen jedoch nicht. Die moderateren Akteur*innen betrachtet sie überwiegend als „gekauft“. Die Regierung hingegen betont, dass sie mit allen Teilen der Opposition rede. Dadurch versucht sie nicht zuletzt, die Anzahl der potenziellen Präsidentschaftskandidat*innen in die Höhe zu treiben.

Es ist unklar, was hinter den Kulissen passiert

Unklar ist, was hinter den Kulissen passiert. Laut Gerüchten drängen Teile innerhalb der Regierung auf einen zeitnahen Wahltermin, um die Chancen der Opposition auf eine gemeinsame Kandidatur zu verringern. Andere setzen hingegen auf einen späteren Termin, damit sich die Wirtschaft ein wenig erholen kann. Dafür allerdings müsste gewährleistet sein, dass die USA die Sanktionen im Erdölsektor nicht wieder verschärfen.

Zeitgleich zu den Gesprächen geht die Regierung zunehmend gegen Oppositionelle vor. Am 9.Februar wurde etwa die bekannte Menschenrechtsaktivistin Rocío San Miguel am Flughafen von Maiquetía nahe Caracas verhaftet. Auch fünf ihrer Angehörigen wurden vorübergehend festgenommen. Weil drei Tage lang keinerlei Infor­mationen über ihren Verbleib nach außen drangen, berichteten Menschenrechtsaktivist*­innen bald schon von einem Fall gewaltsamen Verschwindenlassens.

Die venezolanische Regierung sowie Generalstaatsanwalt Tarek William Saab widersprachen den Vorwürfen vehement. San Miguel, die auch die spanische Staatsbürgerschaft besitzt, sei einem Haftrichter vorgeführt und ihre Rechte jederzeit respektiert worden. Ihre Anwält*innen ließen allerdings verlauten, keinen Zugang zu ihrer Mandantin zu haben. Erst zehn Tage nach ihrer Verhaftung konnte San Miguel im Geheim­dienstgefängnis El Helicoide von ihrer Tochter besucht werden. Die Anwältin und Menschenrechtsaktivistin leitet die Nichtregierungsorganisation Control Ciudadano und arbeitet vor allem zum Militär. Die Behörden werfen ihr vor, Teil einer mutmaßlichen Verschwörung zu sein. Demnach sollten Präsident Maduro und weitere staatliche Funktionäre ermordet werden. Im Zuge der Ermittlungen wurden seit Januar dutzende Personen verhaftet, darunter zahlreiche Militärs. San Miguel und ihr Umfeld bestreiten die Vorwürfe. Nachdem die Mission des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte ebenfalls von einem „möglichen Fall gewaltsamen Verschwindenlassens“ gesprochen hatte, kündigte die venezolanische Regierung die Schließung ihrer lokalen Büros an und gab den zwölf Mitarbeiter*innen 72 Stunden Zeit, das Land zu verlassen. Für das Wahljahr deutet all das auf zunehmende Konfrontation hin. Wie die Bedingungen für die Abstimmung letztlich aussehen werden, ist nach wie vor offen. Das neue Abkommen vom 28. Februar enthält keine konkreten Beschlüsse in Bezug auf Transparenz oder internationale Wahl­beobachtung. In der Frage der Antrittsverbote gibt es aus Sicht der Regierung keinerlei Diskussionsbedarf mehr. Die „Plataforma Unitaria Democrática“ hält dennoch bisher an Machado als Kan­didatin fest. Tatsächlich befürchten aber nicht wenige, dass die Regierungsgegner*innen am Ende ohne aussichtsreiche Kandidatur dastehen könnten.

Die Opposition müsste daher die gemeinsame Aufstellung einer weniger prominenten Kandidatur planen. Mit dieser Strategie gewann sie bei den letzten Regionalwahlen 2021 den Gouverneursposten im für den Chavismus symbolisch wichtigen Bundesstaat Barinas. Im Falle eines Teil­boykotts der Wahl würde Maduro ziemlich sicher wiedergewählt. Die oppositionelle und internationale Strategie, die Präsidentschaftswahlen zu delegitimieren und im Anschluss daran eine US-gestützte Parallelregierung einzusetzen, schei­terte bereits in den Jahren nach 2018. Machado lässt sich derweil nicht beirren. „Wir haben eine starke Einheit gebildet, alle politischen Parteien unterstützen mich öffentlich, und sogar von der chavistischen Basis treten Leute an mich heran“, erklärte sie auf einer Konferenz in den USA Ende Februar. Bisher wirkt das eher wie Wunschdenken.

„Nahrung für die Seele und den Magen“

Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft Afrodiverso bietet einen afrofeministischen Raum in Havanna (Foto: Andrea Schmidt)

Ein älteres Ehepaar steht in der Küche und singt. „Seit über 40 Jahren singe ich ihr jeden Tag ein Liebeslied“, erzählt der Ehemann. Sie lächelt und stimmt mit ein. Neben ihnen trinkt Argelia Fellove Hernández aus einer kleinen Tasse Kaffee. Immer sonntags bringt Argelia ihnen eine nahrhafte Mahlzeit. Diese hat Argelia zusammen mit Oyantay in ihrer Küche einige Straßen entfernt gekocht. Auch die beiden verbindet Liebe, neben der romantischen auch die zur Community. Das nicht-binäre Paar hat die Organisation Afrodiverso gegründet.

„Kunst, Gesundheit, Gemeinschaft“ sind die drei Grundsätze der zivilgesellschaftlichen Initiative in dem Wohnviertel Lawton in Havanna. Argelia und Oyantay verfolgen mit der antirassistischen und afrofeministischen Initiative das Ziel, Schwarze Angehörige der LGBTIQ-Community sichtbarer zu machen und zu empowern. Sie organisieren Drag-Performances, klären über sexuelle Gesundheit auf, machen Bildungsarbeit für Kinder und verteilen umsonst Essen an bedürftige Personen. So auch an diesem Sonntag: Argelia verabschiedet sich und geht zur nächsten Adresse. Die Essensübergabe an der Tür ist routiniert, aber freundlich. Während ein älterer Herr seine Portion in der Küche umfüllt und die Dosen zurückbringt, zückt Argelia ein Notizbuch und trägt ein, wer heute versorgt wurde. Inzwischen haben sich 58 Menschen mit Bitten um Unterstützung bei Afrodiverso gemeldet. Weil nicht immer alle da sind, versorgt Afrodiverso jeden Sonntag etwa 50 bis 55 Menschen mit einer gesunden und reichhaltigen Mahlzeit.

Auf der Straße wird Argelia von Nachbar*innen gegrüßt, das Vertrauen und der Respekt sind spürbar. Wie von dem älteren Ehepaar wird Argelia bei einer weiteren Essensübergabe ins Haus hineingebeten. In dem Zimmer sitzt eine ältere Frau auf ihrem Bett und schildert ihre Schmerzen. Argelia erkundigt sich bei der jüngeren Frau, die sie pflegt, welche Medikamente ihnen fehlen. In den staatlichen Apotheken herrscht Mangel und aus den privaten Läden können sich die meisten Menschen nicht einmal normale Schmerzmittel leisten. Von Tür zu Tür zeichnet sich ein immer deutlicheres Bild ab: Die Menschen, die Afrodiverso um Unterstützung gebeten haben, sind vor allem Rentner*innen.

Als alle Portionen verteilt sind, läuft Argelia zurück zum Haus. Oyantay ist dabei, Töpfe zu spülen. Mittags haben sie mithilfe von Unter­stützer*innen aus der queeren Community bereits vor dem Haus Essen ausgegeben. Die Essenslieferung machen sie nur für die 23 bis 25 Menschen, die den Weg durch die Nachbarschaft nicht mehr selbst laufen können. Sie nennen ihr Projekt La Caldoza Diversa (die diverse Caldoza-Suppe), in Anlehnung an das Suppengericht Caldoza Cubana.

Queeres Empowerment trifft Küche für Alle

Es begann 2019 mit einer Art „Küche für alle“. Während der Coronapandemie änderte sich die Funktion ihrer Arbeit und Afrodiverso leistete zudem soziale Hilfe. Allerdings verschlechtert sich die ökonomische Situation in Kuba seit dem Ende der Pandemie weiter. So entschieden Argelia und Oyantay, weiterhin Menschen, die vulnerablen Gruppen angehören, zu unterstützten. Es kommen auch alleinerziehende Mütter oder Menschen mit Krankheiten oder Behinderungen. Doch ob in der Hauptstadt Havanna oder einem Dorf im Osten Kubas – wenn Menschen auf Kuba von vulnerablen Gruppen sprechen, geht es oft um Rentner*innen.

Die Rente auf Kuba beträgt in der Regel 150 Pesos pro Monat. Nach dem staatlichen Wechselkurs sind das etwa zwölf Euro, nach dem weit verbreiteten Straßenwechselkurs etwa fünf Euro. Die Rentner*innen leiden besonders unter der Inflation, die vergangenes Jahr 30 Prozent betrug, und den kleiner werdenden Mengen an Lebensmitteln, die über das staatliche System der Verteilung, auch libreta genannt, zur Verfügung stehen. Die Situation verschärft sich zusätzlich dadurch, dass immer mehr junge Menschen das Land verlassen. Zurück bleiben die Älteren. Doch in dem Land, das für seine medizinischen Fachkräfte bekannt ist, mangelt es an Pflegeangeboten und -kräften.

Für noch mobile und gesunde Senior*innen bietet der Staat in den „Häusern der Großeltern“ Tagesbetreuung an. Wer jedoch krank ist und Pflege bedarf, lebt zuhause. Das im Jahr 2022 verabschiedete neue Familiengesetz nimmt für die Pflegearbeit Familienangehörige in die Pflicht. Nur wenn es keine Familie gibt, leistet der Staat Sozialhilfe.

„Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie” Mit Küche für Alle gegen Altersarmut (Foto: Andrea Schmidt)

Oyantay und Argelia sitzen in ihrem Wohnzimmer. Auf einem Sticker in Regenbogenfarben, der am Kühlschrank klebt, steht: „Christus liebt mich.“ Sie erzählen begeistert vom Familiengesetz, denn es legalisiert die gleichgeschlechtliche Ehe, stärkt die Rechte von Frauen und erhöht den Schutz bei Gewalt. Das Gesetz stärkt auch die Rechte von älteren Menschen und Pflegekräften. Die beiden erklären, dass die pflegende Person oft mit im Haus lebt. Die pflegebedürftige Person habe jetzt das Recht zu entscheiden, wer sie pflegt und auch die Möglichkeit, ihr Haus an die pflegenden Angehörigen zu vererben.

Neues Gesetz bringt teils Verbesserungen für ältere Menschen

Mit dem Gesetz delegiert der Staat allerdings auch die Verantwortung für die Pflegearbeit an die Familien. Das heißt angesichts patriarchaler und sexistischer Arbeitsteilung und Rollenbilder: an Frauen. Das Gesetz habe mit Blick auf die Pflegeverhältnisse nicht groß etwas geändert, sondern vielmehr eine bestehende Situation reguliert. Oyantay und Argelia problematisieren, dass die Verantwortung für die Pflegearbeit viele Frauen dazu zwinge, ihren Beruf aufzugeben. Mit dem Einbruch der Einnahmen steigt auch ihre Vulnerabilität. Die Feminisierung der Fürsorgearbeit erhöht so die Feminisierung der Armut.

Armut trifft afro-kubanische LGBTIQ-Personen besonders stark: Queerfeindlichkeit zwinge viele zum Schulabbruch oder Arbeitsverlust. „Sie werden als Travesti und als Schwarze diskriminiert“, sagt Oyantay. „Der Afrofeminismus hat sichtbar gemacht, dass es auf Kuba Rassismus und Sexismus gibt.“ Argelia und Oyantay diskutieren kritisch die Verantwortung des Staates. Auch mit Blick auf die Bekämpfung von Altersarmut sehen sie grundsätzlich den Staat in der Verantwortung. Sie verstehen die Arbeit von Afrodiverso als Hilfe für den Staat, nicht als Ersatz: „Eigentlich ist es nicht Aufgabe der Zivilgesellschaft, aber wir machen es trotzdem, aus Empathie.“ „Wir machen das aus Liebe“, bekräftigt Argelia. Trotz ihrer kritischen Perspektiven ist ihnen wichtig, dass die regierungskritische Opposition die Arbeit von Afrodiverso nicht für deren Regierungskritik instrumentalisiert.

Es scheint, dass sich angesichts der sich zuspitzenden sozialen Krisen auf Kuba Räume für sozialen Aktivismus öffnen. Dort wird nicht nur Suppe gekocht, sondern auch antirassistische und feministische Arbeit geleistet. Diese muss sich allerdings in einem Rahmen bewegen, der nach den Protesten gegen die Regierung und die Kommunistische Partei Kubas im Juli 2021 mit Repression gewaltsam abgesteckt wurde.

Afrodiverso hat sich entschieden, Räume der Solidarität und des Empowerments zu schaffen und ist landesweit mit anderen afrofeministischen Gruppen vernetzt. Sie teilen ihre Erfahrungen, damit auch andere Initiativen entstehen. Auch in ihrem Stadtviertel würden sie die Essensausgabe gerne auf zwei bis drei Male die Woche ausweiten. Aus der queeren Community haben sie ein Netzwerk aus Menschen, die sich abwechselnd engagieren. Doch noch fehlen ihnen die Ressourcen. Oyantay zeigt auf einen kleinen Kiosk, der auf der Küchentheke neben der Haustür aufgebaut ist: „Alles, was wir aus dem Erlös nicht selbst zum Leben brauchen, nutzen wir für die Arbeit von Afrodiverso.“ Auch Nachbar*innen spenden manchmal oder sie organisieren Sachspenden.

Doch ihnen geht es immer um mehr als nur um praktische Unterstützung. „Wir wollen auch die Seele ernähren, nicht nur den Magen. Liebe zu spüren, erfüllt die Seele“, sagt Oyantay. Die Menschen im Viertel wüssten, dass sie ein nicht-binäres Paar sind, und sie begegnen bei der Essensausgabe anderen LGBTIQ-Personen. Das seien für viele Menschen neue Begegnungen.

Bisher hätten sie keine Ablehnung erfahren, unter Umständen vorhandene Vorurteile wurden ihnen gegenüber nicht geäußert. Oyantay und Argelia erzählen außerdem, dass einige der Menschen in fundamentalistischen Kirchengemeinden sind, die Homofeindlichkeit predigten. Wer Vorurteile habe, komme nicht zu ihnen. Für die Menschen zähle die Praxis, die positiven Erlebnisse mit Afrodiverso, mehr als die Diskurse aus der Kirche. Und so kommen einige ältere Nachbar*innen nicht nur zur Essensausgabe, sondern auch zu Drag-Shows, die sie anlässlich von Geburtstagsfeiern in der Nachbarschaft organisieren.

Zeugnisse eines gezeichneten Arbeiters

Der hier veröffentlichte Comicstrip gibt zeichnerisch ein Interview mit Carlos Alberto Francisco, bekannt als Betinho, wieder. Betinho war als Arbeiter am Bau des höchsten Gebäudes der brasilianischen Stadt Porto Alegre beteiligt und arbeitet dort noch heute als Portier. Der in einer zweimonatigen Arbeit entstandene Comic wurde mit weiteren Interviews im Buch Conversas em Porto Alegre („Gespräche in Porto Alegre“) vom Autor unabhängig veröffentlicht. Die Idee des Künstlers, ein Interview in einen Comic umzuwandeln, ist großartig detailliert umgesetzt. Alles hatte mit Aguiars Neugierde darüber begonnen, wie wohl der Blick von der Terrasse des 107 Meter hohen Santa-Cruz-Gebäudes sei. Die Aufzugführerin des Hauses stellte ihm schließlich Betinho vor: einen Menschen, der für seine Freundlichkeit und Kenntniss der Geschichte des Hochhauses bekannt ist.

Neben der Recherche von Fachvokabular aus dem Bauwesen setzten Anna-Lena Goetze und ich uns als Übersetzerinnen sprachlich mit den Widersprüchen zwischen liebevollen persönlichen Anreden und höflichem Professionalismus auseinander, aber auch mit rassistischen Machtstrukturen in der Lebensgeschichte derer, die in Südbrasilien arbeiten, kämpfen und es aufbauen.

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