Lyrik aus Lateinamerika

Hermana

Haremos el viaje.
Caminaremos juntas atravesando la cordillera.
El recorrido lo haremos sincronizadas
como si fuera una coreografía
de dos bailarinas guerrilleras
en medio de las montañas.

Hablaremos con los ojos,
sabremos qué camino tomar en cada encrucijada.
No le tendremos miedo a los abismos,
hemos saltado un par y nadado en medio del río caudaloso
donde varias piedras se tropiezan unas con otras.
Ahí descansaremos,
miraremos como el río sigue su camino y fluye en el medio del cañón.
Beberemos su agua transparente,
nos reflejaremos en el río y lloraremos caudales de mares.
Haremos el camino real que va del cielo a la tierra
y nos inventaremos la cima.
Acumularemos cristales unos sobre otros,
le rezaremos a la madre de nuestras madres,
a la que se aisló
por una justa causa,
si una causa es justa.
Respiraremos ese aire nítido que llena los pulmones
que viene desde las raíces de los árboles
para limpiar cada bronquio.
Recogeremos flores y haremos un ramo que dibujaremos en medio de una hoguera.
Dormiremos a la intemperie
en medio de la noche salvaje.
Hermana, ese camino lo debemos hacer pronto
antes de que no sea posible,
antes de que se convierta en otro país
y nosotras
en otras.

Schwester

Wir werden auf Reise gehen.
Gemeinsam wandern, die Kordilleren überqueren.
Die Strecke synchron laufen
als wäre es die Choreografie
zweier Guerilla-Tänzerinnen
mitten in den Bergen.

Wir werden mit den Augen sprechen,
an jeder Abzweigung wissen, welchen Weg wir nehmen.
Wir werden keine Angst vor den Abgründen haben,
über ein paar sind wir schon gesprungen und im schäumenden Fluss geschwommen
wo die Steine übereinander kullern.
Dort werden wir rasten,
schauen, wie der Fluss seinem Lauf folgt und durch den Canyon fließt.
Wir werden sein klares Wasser trinken,
uns in dem Fluss spiegeln und Meeresströme weinen.
Den Königsweg werden wir nehmen, der vom Himmel zur Erde führt
und seinen Gipfel erfinden.
Wir werden Kristalle aufeinander türmen,
zur Mutter unserer Mütter beten,
die fortging,
für einen gerechten Zweck,
wenn denn ein Zweck gerecht ist.
Wir werden unsere Lungen füllen, mit dieser klaren Luft
die den Wurzeln der Bäume entströmt
und uns die Bronchien reinigt.
Wir werden Blumen pflücken und einen Strauß binden, den wir zeichnen, mitten in einem Feuer.
Wir werden unter freiem Himmel schlafen
irgendwo in der wilden Nacht.
Schwester, diesen Weg werden wir bald gehen müssen
bevor es unmöglich wird,
bevor dies sich in ein anderes Land verwandelt
und wir uns
in andere.

Wo sind die Mäuse?

Als treue LN-Leser*in weißt du es bereits: Das vergangene Jahr war für uns kein gewöhnliches. Die Lateinamerika Nachrichten wurden 50 Jahre alt! Für uns war das Anlass, viel auf die Beine zu stellen: Wir haben Veranstaltungen organisiert, unseren Geburtstag gefeiert, den Film über fünf Jahrzehnte LN-Redaktion Donnerstags, 19 Uhr fertiggestellt und öffentlich aufgeführt sowie eine besondere Jubiläumsausgabe herausgegeben. In unserer Januar-Ausgabe resümierten wir: „Ein wenig erschöpft, aber ziemlich zufrieden blicken wir dieser Tage auf unser Jubiläumsjahr zurück.“

Erschöpft zeigt sich leider auch unser Kontostand. Denn natürlich bedarf ein außergewöhnliches Jahr außergewöhnlicher Finanzaufwendungen. Diese konnten wir zwar zu Teilen aus gesonderten Fördermitteln decken, trotzdem haben wir 2023 wohl so viel Geld investiert wie noch nie in der langen Geschichte der LN. Das Ergebnis: Zum Jahreswechsel hatten wir deutlich weniger Geld auf dem Konto als ein Jahr zuvor.

Damit hatten wir teilweise gerechnet. Auch deshalb haben wir im vergangenen Jahr besondere Anstrengungen unternommen und noch aktiver für Spenden geworben als sonst – neben der Werbung für unsere Zeitschrift, die natürlich weiterhin im Zentrum der ehrenamtlichen Arbeit des LN-Kollektivs steht.

Diesbezüglich können wir erst einmal gute Nachrichten verkünden: Die auf unserem jährlichen Redaktions- und Vereinstreffen, der traditionell im Februar stattfindenden Halbzeitreflexion, vorgestellten Statistiken haben ergeben, dass wir die Spendeneingänge im LN-Jubiläumsjahr steigern konnten. Auf den Cent genau kam eine Summe von 10.692,59 Euro zusammen, was einer Steigerung um zehn Prozent entspricht. Und das, obwohl wir im letzten Jahr keine einzelne Großspende über mehrere tausend Euro hatten, wie noch 2022. Die Summe des letzten Jahres ist über 163 Einzelspenden zustande gekommen – rund 100 mehr als im Jahr zuvor. Allen Spender*innen danken wir herzlich! Insgesamt sieben Personen haben sich dazu bereit erklärt, uns monatlich einen Betrag zukommen zu lassen, der meist zwischen zehn und 20 Euro liegt. Derlei Dauerspenden geben uns die Möglichkeit, auch etwas längerfristiger zu planen.

Wir haben auch 2024 einen Kraftakt vor uns

Das wird auch in Zukunft wichtig sein. Die Halbzeitreflexion im Februar zeigte nämlich auch, dass unsere Anstrengungen in diesem Jahr – auch ohne Jubiläumstätigkeiten – ganz schön groß sein müssen, wenn wir wollen, dass das Projekt Lateinamerika Nachrichten in seiner jetzigen Form finanziell überlebt. Preissteigerungen, unter anderem bei der Miete, dem Versand und dem Druck, werden uns auch 2024 zu schaffen machen. Laut unserer Finanzprognose ist es sehr wahrscheinlich, dass wir zum Ende des Jahres bei einem Kontostand von null Euro herauskommen.

Wir haben also einen Kraftakt vor uns. Um diesen zu stemmen, wollen wir unsere Aboeinnahmen steigern. Schon 100 neue Abos wären ein riesiger Erfolg! Außerdem gibt es die Möglichkeit, von einem normalen auf ein Förderabo umzusteigen. Zusätzlich wollen wir jedoch an die erfolgreiche Spendenkampagne aus dem vergangenen Jahr anknüpfen. Die Zahlen der ersten Monate 2024 sind positiv. Das stimmt uns zuversichtlich. Trotzdem brauchen wir weiter Deine Hilfe!

Liebe*r LN-Leser*in, überleg’ Dir doch bitte, ob du nicht zehn Euro im Monat an uns spenden könntest. Die Planungssicherheit, die sich für uns dadurch ergibt, hilft uns, die Lateinamerika Nachrichten weiterhin am Leben zu erhalten. Denn eins steht fest: Wir haben weiterhin große Lust, kritischen, solidarischen und unabhängigen Journalismus zu machen!

Applaus für die Filme, nicht fürs Drumherum

Jung und innovativ, frech und kritisch: Die lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2024 zeigten wieder einmal deutlich, in welcher Hochphase sich aktuell das Kino des Subkontinents befindet. Ob gut beobachtete Dokumentationen wie Oasis über die Proteste in Chile, einfühlsame Jugendfilme wie Raíz oder frische und unbekümmerte Kurzbeiträge wie Aguacuario oder Lapso – auf allen Ebenen konnten die Filmemacher*innen von Mexiko bis Argentinien punkten. Das schlug sich auch in der Preisvergabe nieder.

Den Goldenen Bären für den besten Kurzfilm schnappte sich der Argentinier Francisco Lezama mit Un movimiento extraño (An Odd Turn), in dem er die Suche einer jungen Frau nach Glück in der Liebe und im Beruf mithilfe eines Pendels verfolgt. Das zweite Preis-Highlight war der Silberne Bär für die beste Regie des Wettbewerbs für den Film Pepe. Der dominikanische Regisseur Nelson De Los Santos Arias verleiht in diesem mutigen und wilden cineastischen Stilmix den Flusspferden des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobar eine antikoloniale Stimme. Auch in der Sektion Encounters ging der Preis für die beste Regie nach Lateinamerika: Juliana Rojas (Brasilien) gewann mit ihrem wunderschön warmherzigen Episodenfilm Cidade; Campo die Herzen der Jury und der Zuschauer*innen. Gezeigt werden dort Außenseiter*innen, die unter schwierigen Bedingungen vom Land in die Stadt und umgekehrt migrieren und sich dabei gegen Widerstände durchsetzen. Begeistern konnte auch Antonella Sudasassi Furniss (Costa Rica) mit der Doku-Fiction Memories of a Burning Body. Ihre poetische und berührende Visualisierung der Lebens- und Liebesgeschichten älterer lateinamerikanischer Frauen gewann völlig zu Recht den Panorama Publikumspreis.

Zum Glück schafften es die Filme der Berlinale so wieder einmal, die Misstöne in der Organisation des Festivals zu überdecken. Und davon gab es leider einige: Die Arbeitsbedingungen für Journalist*innen wurden durch eine Erhöhung der Akkreditierungsgebühr und vor allem durch eine völlig unverständliche Zugangseinschränkung für die Pressevorführungen erschwert. Seit diesem Jahr dürfen nur noch akkreditierte Journalist*innen vorab die Filme im Kino sehen. Das macht die Arbeit für ein Redaktionskollektiv wie LN nicht einfacher.

Schockierend war auch, dass Vertreter*innen der AfD offizielle Einladungsschreiben für die Berlinale erhielten und erst heftige Proteste von Filmschaffenden und der Zivilgesellschaft nötig waren, damit sie wieder ausgeladen wurden. Eine Partei, die Abschiebungen, Queerfeindlichkeit und offenen Rassismus propagiert, hat nichts zu suchen auf einem Festival, das sich Vielfalt und Akzeptanz diverser Lebensrealitäten auf die Fahne schreiben möchte.

Dieser Anspruch darf allerdings beim Blick auf die Preisvergabe zum wiederholten Male in Zweifel gezogen werden: Wenn ein Film wie L’Empire (Frankreich) nicht nur für den Wettbewerb ausgewählt wird, sondern dort auch noch einen wichtigen Preis gewinnen darf, schadet das dem Ansehen der Berlinale. So hat Schauspielstar Adèle Haenel (Porträt einer jungen Frau in Flammen) den Film mit dem durchaus berechtigten Verweis auf dessen „dunklen, sexistischen und rassistischen“ Inhalt kritisiert. Daher war sie auch während des Drehs ausstiegen.

Vielleicht ist es deshalb gut, dass sich etwas ändert. Ab nächstem Jahr wird die Amerikanerin Tricia Tuttle als erste Frau die alleinige Leitung des Festivals übernehmen und mit dem Blick von außen hoffentlich notwendige Verbesserungen anstoßen.

Von Nonnen und Nilpferden

La piel en primavera (Monociclo Cine)

Raul Briones (Schauspieler, Mexiko, Hauptrolle in La Cocina) über toxische Männlichkeit:

Für mich als nicht-binäre Person ist das ein besonders wichtiges Thema. Ich habe meine Transition vor fünf Jahren begonnen. Das ist meine erste männliche Figur, die ich seitdem spiele. Seit einer Weile schon hinterfrage ich die Charaktere, die ich spiele. Ich wurde ja oft als Auftragskiller oder Bösewicht gecastet, wegen der Energie, die ich ausstrahle. Für La Cocina habe ich zum ersten Mal eine männliche Figur, Pedro, konstruiert, die scheitert. Sie rutscht in eine Katastrophe, weil sie sich ihre Trauer nicht eingestehen kann. Oft habe ich mich gefragt, ob für Männer unter diesen toxischen und gewaltvollen sozialen Umständen überhaupt ein anderes Schicksal als ein tragisches möglich ist. Denn sie zerstören sich selbst. Ich habe mir bei den Dreharbeiten einen Finger gebrochen. Und ich habe mich gefragt, warum ich diesen Schmerz ertragen muss. Warum Männer sich in dieser Weise verteidigen müssen. Ob dieser Schmerz wirklich die Konsequenz davon war, dass ich mich in Pedros Lage versetzt habe. In jemanden, der versucht, ein „echter Mann“ zu sein. Ich denke, es muss sich an der momentanen Konstruktion von Männlichkeit etwas ändern. Wir müssen diese Vorstellungen hinter uns lassen. Denn andernfalls werden wir selbst zu unseren schlimmsten Feinden werden.

Juliana Rojas (Regisseurin Cidade, Campo, Brasilien, Gewinnerin des Preises für die beste Regie in der Sektion Encounters) über die Inspiration für die Geschichten und die Figuren ihrer Filme:

Ich arbeite viel mit Beobachtung. Es gibt ein Universum von Themen, die mich interessieren. Einige sind auch in meinen anderen Filmen präsent. Zum Beispiel Arbeitsverhältnisse, Klassen­­ver­hältnisse, weibliche Figuren, Liebes­beziehungen. Außerdem beeinflusst mich norma­ler­weise die Realität stark, zum Beispiel Nach­richten oder Erzählungen. Die Figur der Joana in meinem Film basiert auf einer wirklichen Person, die ich in einem Shoppingcenter getroffen habe. Dort habe ich einige Reinigungskräfte bei der Arbeit gesehen. Eine Frau sprach darüber, dass sie das Leben auf dem Land, die Beziehung zur Natur, die Gemeinschaft und die Gespräche mit den anderen Menschen dort vermisst. Das hat mich sehr berührt und mich zur Figur im Film inspiriert. Genau wie die Berichte, die ich über die Katastrophen beim Bruch der Staudämme Brumadinho und Mariana in Minas Gerais gelesen habe, durch die Dörfer zerstört und die Umwelt verseucht wurden. Für diese Katastrophen waren multinationale Firmen aus verschiedenen Län­dern verantwortlich, unter anderem aus Deutsch­land. Die Berichte der Betroffenen haben mich sehr berührt. Nicht nur wegen der Tragödie und der Traumata, die sie erlebt haben. Sondern auch wegen der Schwierigkeit, nun vorüber­gehend an einem anderen Ort, in der Stadt, leben zu müssen. Ohne die Routinen, die sie auf dem Land hatten. Das Hauptthema des Films sollte aber nicht diese Tragödie sein. Da müsste man einen eigenen Film darüber drehen, um die Komplexität der Kata­strophe aus verschiedenen Perspektiven zu zeigen.

… über Migrationsprozesse innerhalb Brasiliens:

Der Bevölkerungsfluss vom Land in die Stadt ist in Brasilien viel stärker als umgekehrt. Denn es gibt im ländlichen Raum das Problem des Anbaus von Monokulturen. Hier werden Kleinbäuer*innen und Dorfgemeinschaften mit Gewalt vertrieben, damit die großen Agrarfirmen Land für die Pflanzung von Soja, Mais oder Zuckerrohr besetzen können. Es ist deshalb nicht so üblich, aus der Stadt aufs Land zu ziehen. Aber auch hier basiert die Geschichte im Film auf echten Erzählungen von Menschen, die diese gegenläufige Bewegung gemacht haben. Die eine andere Art von Leben, eine andere Lebensqualität auf dem Land gesucht haben. Und auf ihren Schwierigkeiten mit dem Kulturschock in einer Umgebung, die gegenüber bestimmten Personen­gruppen feindseliger eingestellt ist. Und der täglichen, harten Arbeit auf dem Bauernhof.

… über die Ausblendung der aggressiven Diskurse der Bolsonaro-Zeit in Cidade, Campo:

Die Idee zum Film ist schon vor der Amtszeit von Bolsonaro entstanden. Der Film ist aber nicht komplett konfliktfrei, es gibt nur nicht diese Polarisierung. Die zentralen Themen sind auch nicht Frauenfeindlichkeit, Homophobie oder Rassismus – Phänomene, die während der Regierungszeit Bolsonaros viele Spannungen verursacht haben und auch immer noch sehr präsent in der Gesellschaft sind. Dennoch werden komplexe Fragen angesprochen. Joana ist eine verletzliche Person. Es geht bei ihr um die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, sie wird von diesem System unterdrückt. Und auch im zweiten Teil auf dem Land liegt von Anfang an Spannung in der Luft. Der Verwalter des Landguts bietet den beiden Frauen bei ihrer Ankunft eine Waffe an, damit sie sich verteidigen können. Und dann gibt es noch den Sojaanbau, der ihre Farm umzingelt.

Nelson De Los Santos Arias (Regisseur des Films Pepe, Dominikanische Republik, Gewinner des Silbernen Bären für die beste Regie) über postkoloniales Kino in Lateinamerika:

Als ich 24 Jahre alt war, habe ich begonnen, mich als Filmemacher mit postkolonialer Theorie zu beschäftigen. Ich habe gefühlt, dass ich Dinge kombinieren und vermischen musste, um Geschichten zu erzählen. Die lateinamerikanischen Länder sind stark US-amerikanisiert. Das ist durch die Produktion von Subjektivität, die Homoge­nisierung von Menschen passiert. Durch die Kämpfe um Pluralität und Diversität sehen wir aber, dass die Welt sehr heterogen ist. Und diese Heterogenität wird auch neue Formen und Bilder produzieren.

Das Nilpferd Pepe habe ich ausgewählt, weil es das erste Tier war, das außerhalb seines Heimatkontinents Afrika eine wilde Herde gegründet hat. Pablo Escobar hat viele Tiere auf seine Finca in Kolumbien gebracht. Leoparden oder Geparde zum Beispiel. Aber alle diese Tiere blieben in seinem Zoo und starben irgendwann einfach, weil sie menschliche Unterstützung brauchten. Aber die Flusspferde haben sich an ihre Umgebung angepasst. Und das war für mich der Anlass, es als Parabel für die historische Migration zwischen Afrika und den Amerikas zu benutzen.

… über ideologische Emanzipationsprozesse in Lateinamerika:

Ich nutze Pepe auch als Fabel, als Mittel zur Produktion von Vorstellungskraft. Ich mag das Spielerische, das Fantastische. Und ein Nilpferd erschien mir perfekt für die Personifizierung. Aber US-Produzenten haben dieses Universum für Kinder in Lateinamerika für sich in Beschlag genommen: Disney, Cartoon Network, die Feuersteins. Das hat für mich auch eine politische Bedeutung. Denn für mich besteht die gegenwärtige politische und philosophische Krise in einem Mangel an Vorstellungskraft. Dem Unvermögen, über den Eurozentrismus, den Kapitalismus oder auch sein Gegenstück, Sozialismus und Kommunismus, hinauszudenken. Stattdessen könnten wir uns auch indigene oder afro-indigene gemeinschaftliche Organisations­formen vorstellen.

…über den Einfluss von Netflix auf die lateinamerikanische Kinolandschaft:

Netflix zerstört mit seiner Arbeitsweise die nationalen Kinolandschaften. Ein Beispiel: Verglichen mit den USA zahlt es in manchen Ländern Lateinamerikas extrem wenig Lohn – aber nicht wenig für lateinamerikanische Verhältnisse. Das ist auch eine Form von Kolonialismus: Ein großes Unternehmen kommt in arme Länder auf der Suche nach billiger Arbeitskraft. Genau das macht Netflix. Und mit unserer Filmkommission kämpfen wir dagegen an. Denn die Regierungen in Lateinamerika bekommen eine Menge Geld von Netflix – für Filme wie Pepe bekommen sie dagegen kein Geld. Dann macht vielleicht der Botschafter hier auf dem Festival ein Foto mit mir. Aber das war’s dann. Netflix verdrängt die nationalen Filmindustrien. Zum Beispiel kommen sie in die Dominikanische Republik und machen eine Menge Fernsehshows. Und wir haben dann keine Leute mehr, die mit uns arbeiten wollen. Die sagen dann zu mir: „Hey Nelson, tut mir leid, dein Dreh dauert vier Wochen und die geben mir einen Vertrag für sieben Monate und ich habe Familie.“ Was soll ich da denn sagen?

Antonella Sudasassi (Regisseurin Memories of a Burning Body, Costa Rica, Gewinnerin des Panorama Publikumspreises) über das Brechen von Tabus in ihrem Film:

Das Filmprojekt hat beim letzten Gespräch mit meiner Großmutter mütterlicherseits begonnen. Bevor sie gestorben ist. Nach meinem letzten Film blieben mir viele Fragen darüber, wie ihre Generation von Frauen aufgewachsen ist: in einem viel repressiveren Umfeld als ich. Viele Sachen, die sie erzählte, kamen mir bekannt vor. Zugleich gab es nach wie vor eine Tabuisierung rund um diese Themen. Diese Tabuisierung wollte ich auflösen.

Im Film erzählen insgesamt acht ältere Frauen ihre Geschichten. Alle wollten anonym bleiben, das haben sie mir von Anfang an gesagt. Aber sie sagten auch: „Wenn mich niemand sieht, dann erzähle ich gerne.“ Am meisten Angst hatten sie davor, ihren Angehörigen zu schaden. Gar nicht einmal so sehr ihren Kindern, sondern vor allem ihren Enkeln. Es wäre ihnen peinlich gewesen, dass ihre Enkel diese Geschichten hören und schlecht von ihren Großmüttern denken könnten. Denn die Großmutter sehen wir immer noch als etwas Heiliges, als eine Art Jungfrau. Das ist zum Beispiel immer noch ein enormes Tabu. Eine ältere Frau zu zeigen, die ihre Sexualität voll und bewusst auslebt – niemals! Einige wussten bis spät in ihrem Leben nicht, was ein Orgasmus ist. Bis sie einen zweiten oder dritten Ehemann hatten. Mein Film gibt mir aber auch Hoffnung, dass sich etwas zum Guten verändert. Diese Frauen, die durch die Hölle gegangen sind, sind jetzt empowert. Mit 70 Jahren nehmen sie jetzt ihre Sexualität an und leben sie aus.

… über die weiblich dominierte Filmindustrie Costa Ricas:

Zum Glück gibt es in Costa Rica sehr viele Frauen, die Kino machen. Ich bin Mitglied in der Gewerkschaft der Regisseurinnen von Costa Rica. Wir sind über 27 Frauen, die alle schon mindestens einen Langfilm veröffentlicht haben. Für eine kleine Filmindustrie wie die in Costa Rica ist das eine ungeheure Leistung. Ich glaube, es hängt damit zusammen, dass es eine sehr neue Industrie ist. Sie wächst ohne die Laster einer älteren Industrie. Eine männlich dominierte Filmindustrie ist in Costa Rica nie entstanden. Sie wurde von uns Frauen erfunden. Weil wir so viele sind, die Kino machen, haben wir uns einen Raum erobert. Das Kino aus Costa Rica ist Kino, das von Frauen gemacht wird. Man sieht es auf den großen Festivals. Es repräsentiert das Land und erschafft sein Bild. Deswegen gibt es in der Filmindustrie in Costa Rica keinen Widerstand gegenüber Frauen. Im Gegenteil besteht eine große Offenheit für sie, wenn sie ihre eigenen Geschichten erzählen wollen.

Poesie für Fortgeschrittene

© Películas mirando el techo

Einfach macht es Matías Piñeiro seinen Zuschauer*innen meistens nicht. Die Werke des argentinischen Independent-Filmemachers sind mit ihren verschachtelten Narrativen und oft außerhalb des lateinamerikanischen Kontextes stehenden Leitmotiven nicht einfach zu entschlüsseln. Bislang standen oft Shakespeare oder auch mal asiatische Philosophie im Zentrum von Piñeiros Schaffen. In Tú me abrasas ist Lateinamerika nun bis auf Regisseur und Schauspieler*innen komplett außen vor. In seinem Berlinale-Beitrag verfilmt der Regisseur einen literarischen Dialog der antiken, griechischen Lyrikerin Sappho mit dem 2.500 Jahre später geborenen italienischen Schriftsteller Cesare Pavese.

Klingt kompliziert? Ist es auch und Piñeiros Herangehensweise macht den Einstieg in den Film nicht unbedingt leichter. Aneinandergereiht werden sich wiederholende Bildkompositionen gezeigt: Blumen, Äpfel, Gebäude, eine Spüle, eine Türklingel und immer wieder das Meer. Einige Bilder werden als visuelle Entsprechungen für einzelne Begriffe etabliert, zum Beispiel für die drei Wörter des Filmtitels. Wer sich darauf einlässt, dem erschließt sich – wie so oft bei Piñeiro – die narrative Struktur dann nach einer Weile. Stück für Stück fließen biographische Informationen zu Pavese und Sappho ein, Parallelen werden klar: Unerfüllte Liebe und die Frage nach Akzeptanz oder Lenkung des eigenen Schicksals waren bei beiden Schriftsteller*innen präsent. Gedichte Sapphos und Paveses Text „Meeresschaum“ werden zitiert und auf Buchseiten eingeblendet – Letzteres sehr ausführlich und deutlich. Für das Verständnis ist das von großem Vorteil, man kann Matías Piñeiro also nicht vorwerfen, dass er gar nicht an seine Zuschauer*innen denkt. Elliptisch werden zentrale Themen, Begriffe, Namen (vor allem aus der griechischen Mythologie) und Bilder akustisch und visuell wiederholt. Es stellt sich ein Rhythmus ein und langsam auch ein Verständnis für den philosophischen Dialog über die Jahrtausende, den Pavese mit Sappho führt. Dazu sind Piñeiros Bilder in körnigen 16-Millimeter-Aufnahmen geschickt und poetisch komponiert. Gerade die häufigen Aufnahmen von Meer, Felsen und Wellen fügen sich sehr harmonisch in die akustische Erzählung ein. Auch einige Schauspielerinnen dürfen ab und zu durch Städte, Gärten oder Museen laufen und Tiere wie Vögel, Krebse oder Schildkröten sorgen für Vitalität in der visuellen Sprache. Die ausgewählten Texte thematisieren dagegen meist verzweifeltes Begehren und die Unmöglichkeit glücklicher Liebe und durchziehen Tú me abrasas so mitmelancholischer Stimmung, passend zum traurigen Ende Paveses, der sich selbst das Leben nahm – genau wie der Legende nach auch Sappho, was allerdings historisch nicht gesichert ist.

Tú me abrasasfordert viel von seinem Publikum: Das exotische Thema, die sperrige, nicht-lineare Erzählweise und eine collagenartige, repetitive Bildsprache machen den Film zu einem sehr speziellen Kinoerlebnis, das nicht alle Kinogänger*innen in gleichem Maße ansprechen wird. Wer sich aber nach den ersten Minuten nicht abschrecken lässt und der intellektuellen und ästhetischen Reise des Films weiter folgt, wird mit einer interessanten audiovisuellen Erfahrung, einem Erkenntnisgewinn zum Dialog zweier Dichter*innen und einem überraschend guten Gefühl beim Verlassen des Kinos belohnt.

LN-Bewertung: 3 / 5 Lamas

Stadt, Land, Kuss

© Cris Lyra / Dezenove Som e Imagens

As boas maneiras (Gute Manieren), der Überraschungserfolg über ein Werwolfbaby in São Paulo gilt bis heute über Brasilien hinaus als Kultfilm im Horrorgenre. Nicht nur das ungewöhnliche Narrativ, auch die gelungenen Schockmomente, der überraschende Stilmix und die warmherzige Darstellung der Protagonist*innen sorgten für Aufsehen und einen Preisregen auf internationalen Festivals. Nun ist Juliana Rojas, die Co-Regisseurin von As boas maneiras, mit dem Episodenfilm Cidade; Campo (Stadt; Land) zum ersten Mal auf der Berlinale zu Gast. Diesmal ist sie allein verantwortlich für Regie und Drehbuch. Und auch wenn Cidade; Campo thematisch eine ganz andere Richtung einschlägt als sein Vorgänger – Rojas’ Handschrift ist unverwechselbar und macht die 42-jährige aktuell zu einer der aufregendsten Stimmen im lateinamerikanischen Kino.

Dabei klingt das Konzept des Films zunächst etwas sperrig: Cidade; Campo besteht aus zwei einstündigen Episoden, die sich inhaltlich nicht überschneiden. Dabei geht es um Migrationsgeschichten vom Land in die Stadt und umgekehrt. Die erste Episode folgt Joana (Fernanda Vianna), die durch den Bruch des Staudamms Brumadinho und den nachfolgenden Erdrutsch ihre Farm und ihre Tiere verloren hat. Nun zieht sie in die Millionenmetropole São Paulo zu ihrer Schwester Tânia (Andrea Marquee), die sie herzlich aufnimmt. Obwohl Joana nach wie vor traumatisiert ist, schafft sie es schnell, Arbeit bei einem Putzdienst zu finden, was ihr findiger Großneffe Jaime (Kalleb Oliveira) für sie per App organisiert. Dort freundet sie sich mit ihren Kolleginnen an und kämpft mit ihnen gegen die fortschreitende Prekarisierung ihrer Arbeitsverhältnisse. Weil Rojas es schafft, der eigentlich unspektakulär verlaufenden Geschichte durch einen genauen Blick auf ihre Hauptfiguren und liebevoll inszenierte Details einen Spannungsbogen zu geben, fällt Abschied von der ersten Episode nach einer Stunde schwer. Doch auch die zweite Episode hat es in sich. Hier zieht Flavia (Mirella Façanha) gemeinsam mit ihrer Partnerin Mara (wie immer großartig: Bruna Linzmeyer) aus der Stadt auf die verlassene kleine Farm ihres verstorbenen Vaters. Von Beginn an werfen sich die beiden Frauen voll ins Land- und Liebesleben (die ästhetisch inszenierten und choreografierten Liebesszenen sind ein Highlight des Films). Dabei herrscht klare Arbeitsteilung: Mara ist Tierärztin und kümmert sich vor allem um das Vieh, Flavia übernimmt die Knochenarbeit auf dem Feld. Nach und nach wird allerdings klar, dass mit der Farm etwas nicht stimmt. Und ohne zu viel zu verraten, zeigt die Regisseurin spät im Film, aber dafür umso gekonnter, dass sie auch an der Klaviatur des Horrorgenres nichts verlernt hat.

Es ist die Mischung aus originellen Inszenierungen, Stilsicherheit in den verschiedenen Genres (Joanas fiktive Putz-App möchte man sich nach den Werbe-Jingles im Film am liebsten sofort herunterladen) und dem Gefühl für Stimmungen, die Cidade; Campo sehr sehenswert macht. Ganz besonders fällt aber immer wieder auf, wie sehr Juliana Rojas ihre Figuren liebt: Oft sind es Außenseiter*innen, die nicht gesellschaftlichen oder körperlichen Idealbildern entsprechen, aber durch ihr Handeln und ihren ehrlichen, liebevollen Umgang miteinander im Handumdrehen das Herz des Publikums gewinnen. Figuren, die das Land Brasilien nach den polarisierenden und auch für die Außenwirkung verheerenden Bolsonaro-Jahren dringend gebrauchen kann. Man wünscht allen, die ihnen zusehen, dass sie sich von ihrer Empathie und Aufrichtigkeit eine Scheibe abschneiden. Und natürlich, dass es bald wieder mehr solcher wunderbaren brasilianischen Filme wie Cidade; Campo gibt.

LN-Bewertung: 5 / 5 Lamas

Moby Dick im Río Magdalena

© Monte & Culebra

In den späten 1970er-Jahren brachte der Drogenbaron Pablo Escobar auf illegale Weise drei Flusspferde aus Namibia nach Kolumbien in seinen Privatzoo. Nach seinem Tod flohen sie aus seiner Finca Nápoles zwischen Bogotá und Medellín in den nahe gelegenen Río Magdalena, wo sie sich unter tropischen Bedingungen seither prächtig vermehren: Aus dem ursprünglichen Trio sind mittlerweile geschätzt 160 Tiere geworden. In einigen Jahren könnten es Tausende sein, was zu unvorhersehbaren Folgen für Mensch und Ökosystem führen würde. Das Erbe von Escobar macht der Region auch so bis heute zu schaffen. Aktuell plant die kolumbianische Regierung, die Tiere entweder zu sterilisieren oder in ein anderes Land umzusiedeln.

Der dominikanische Regisseur Nelson Carlos De Los Santos Arias stolperte als Rucksacktourist in Kolumbien über die Geschichte und beschloss, einen Film darüber zu machen – die Idee zu Pepe war geboren und hat es in den Wettbewerb der Berlinale geschafft. Seinen Titel gibt dem Film dabei das wohl bekannteste Exemplar der Flusspferdherde: Pepe, ein Bulle, der von der Gemeinschaft ausgestoßen wurde und sich deshalb als erster daran machte, das Territorium um den Río Magdalena auf eigene Faust zu erkunden. Da die kolumbianischen Flusspferde schon einige Spuren in der Popkultur hinterlassen haben – es gibt Podcasts und sogar eine Doku-Soap des National Geographic Channel mit dem reißerischen Titel Cocaine Hippos über sie – musste ein frischer Ansatz her. Der vom experimentellen Film kommende De Los Santos Arias entschied sich dafür, ihre Geschichte aus ihrer eigenen Perspektive zu erzählen, mit dezidiert antikolonialer Perspektive.

Den Tieren eine glaubwürdige Stimme zu geben, war dabei eine der wichtigsten Aufgaben. Pepe löst diese auf interessante Weise, indem professionelle Sprecher in verschiedenen Sprachen (Spanisch, Afrikaans, Mbukushu) eingesetzt werden, die ihre von banal bis philosophisch reichenden Monologe häufig mit Tierlauten untermalen. Geschickt zieht der Film so mit antikolonialem Dreh eine Parallele zum hunderte Jahre zuvor erfolgten Sklavenhandel: Wie damals Menschen, so wurden hier Tiere gegen ihren Willen von ihrem Heimatkontinent auf einen neuen verschleppt, an den sie sich anpassen mussten. Die Monologe der Flusspferde sind vor allem in der ersten Hälfte des Films zu hören und drehen sich nur am Rand um die Beteiligung Escobars an ihrer Zwangsumsiedlung. Stattdessen geht es mehr um Rangkämpfe, Beschreibung der Umwelt und die Erinnerung und Bedeutung der eigenen Herkunft.

Doch Pepe belässt es nicht nur bei der Flusspferd-Nabelschau, sondern begibt sich ab etwa der Hälfte der Laufzeit auf das Territorium der menschlichen Bewohner*innen am Río Magdalena. Die Szenen dort sehen dokumentarisch aus, sind aber komplett fiktionalisiert. Dieser Abschnitt des Films beginnt mit einer lustigen Episode über zwei junge Handlanger Escobars, die die undankbare Aufgabe haben, die ersten Flusspferde ihres patrón mit einem Lastwagen zu ihrem Bestimmungsort zu bringen. Im weiteren Verlauf kümmert sich der Film dann vor allem um den Fischer Candelario und seine Familie. Candelario stolpert als erstes über einen der nun frei im Fluss herumstreunenden Dickhäuter und wird nicht müde, allen die es interessiert (oder auch nicht), immer wieder seine Geschichte von dem „Baumstamm, Krokodil oder Ungeheuer“, das ihn fast aus dem Boot geworfen hätte, zu erzählen. In seinem Eifer, die Tiere vertreiben zu wollen, wirkt er fast wie ein kolumbianischer Käpt’n Ahab, der Moby Dick aus seinem Fluss jagen möchte. Die Polizei ist daran jedoch eher weniger interessiert und seine Frau Betania hält ihn gar für einen Spinner, was Candelario natürlich nur noch weiter auf die Palme bringt.

Pepe besteht aus einem bunten Sammelsurium aus Themen und filmischen Stilrichtungen (auch Cartoons werden ab und zu eingespielt), die ihre Höhen und Tiefen haben. Manchmal ist das etwas anstrengend. Denn eine durchgehende Handlung soll der Film gar nicht haben und ohne einiges an Insider*innen-Vorwissen besteht die Gefahr, an einigen Stellen den Faden zu verlieren. Zum Glück wird aber alles durch wunderschöne Naturaufnahmen der Flusslandschaften in Südwestafrika und Kolumbien zusammengehalten, was auch für so manche erzählerische Länge oder Merkwürdigkeit entschädigt.

LN-Bewertung: 3 /5 Lamas

Freiheit hinter Gittern

© Gema Films

Zwischen Gesang und Tanz fesselt Reas (Verurteilte), ein Gefängnis-Musical, das die Erfahrungen von Frauen und Transpersonen behandelt, die in verschiedenen argentinischen Gefängnissen inhaftiert waren. Der Dokumentarfilm vermittelt ihre Lebensgeschichten über einen theatralen Ansatz. Die Protagonist*innen rekonstruieren Anekdoten und Fantasien durch Inszenierungen. Die Bühne: Das ehemalige Gefängnis von Caseros, ein verlassener Ort, der nach dem panoptischen Modell (kreisrunde Anordnung mit Wachturm in der Mitte) gebaut wurde und Insass*innen und Zuschauer*innen in einen klaustrophobischen Raum versetzt, der harte Erfahrungen zwischen seinen Mauern birgt.

Die argentinische Regisseurin Lola Arias ist auch interdisziplinäre Künstlerin. Schon mit ihrem Erstlingswerk Teatro de Guerra (Kriegstheater, 2018) hat sie ihr virtuoses Talent gezeigt. Dort verwischte sie die Grenze zwischen Fiktion und Dokumentation und nahm das Leben ehemaliger argentinischer und britischer Soldaten, die am Falklandkrieg teilgenommen hatten, unter die Lupe. Und auch in Reas verkommt die Frage “Fiktion oder Dokumentarfilm” zur Nebensache, sobald die Zuschauer*innen in die Geschichten der Protagonist*innen von “Reas” eintauchen. In einem Interview im letzten Jahr auf dem Filmfestival von San Sebastián erzählte Arias, dass die meisten von ihnen bei Theaterworkshops ausgewählt worden waren, die sie selbst im Frauengefängnis Ezeiza geleitet hatte. Dies zeigt, dass der Dokumentarfilm aus einem langen Arbeits- und Annäherungsprozess mit seinen Protagonist*innen entstanden ist.

Das foucaultsche Element der Schaffung utopischer Orte, die Machtverhältnisse umkehren, ist in Arias’ Werk wiederkehrend. In Reas verwendet sie künstlerische Ausdrucksformen, die mit Körperlichkeit verbunden sind, wie Theater und Tanz, um über eine Institution zu sprechen, die paradoxerweise auf der Entwicklung von Mechanismen zur Kontrolle des Körpers basiert. In einer der denkwürdigsten Szenen tanzen die Protagonist*innen Vogue vor den Wärtern des Gefängnisses, die als Jury fungieren. Vogue ist ein Tanzstil, der in den letzten Jahren populär geworden ist und seine Ursprünge in randständigen Gruppen der LGBTQ+-, afroamerikanischen und lateinamerikanischen Gemeinschaft hat.

Ein weiteres bemerkenswertes Merkmal der filmischen Erzählung in Reas ist die Schaffung einer Mikrowelt: Außerhalb der Gefängnismauern existiert für die Insass*innen für die Zeit ihrer Inhaftierung nichts. Auch wenn sich die Protagonist*innen eine Zukunft dort vorstellen, können sie doch für lange Zeit nicht in Kontakt mit der Außenwelt treten. Die Probleme der sozialen Wiedereingliederung von Personen, die inhaftiert waren und nach ihrer Rückkehr in die Freiheit in ihrem Leben mit Stigmatisierung zu kämpfen haben, lassen sich für sie nur schwer erahnen.

Reas feierte seine Weltpremiere auf der Berlinale in der Sektion Forum. Es ist zweifellos ein Film, der Beachtung verdient hat. Nicht nur, weil er sich von den ästhetischen und erzählerischen Konventionen des Dokumentarfilms entfernt, sondern auch wegen seines Humanismus und seiner Sensibilität, mit der er die Inhaftierten porträtiert.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Living la vida de Barrio

© Monociclo Cine

Die Busstrecke ist neu für Sandra, ihre neue Arbeitsstelle liegt außerhalb ihres Wohnviertels in der kolumbianischen Metropole Medellín. Den Ausstieg muss sie deshalb beim Busfahrer in Erfahrung bringen. Mit ungeahntem Erfolg: Die Nachfrage bringt ihr zuerst ein Gratisbonbon und später einen Sitzplatz neben dem Motorista ein. Ein guter Start in ihren neuen Job als Security-Mitarbeiterin in einem Shopping-Center.

Sandra (Alba Liliana Agudelo Posada) ist die Protagonistin in La piel en primavera (Die Haut im Frühling), dem ersten Spielfilm der kolumbianischen Regisseurin Yennifer Uribe Alzate. Wie der Titel verspricht, herrscht Frühling in Medellín, was für die Charaktere des Films bedeutet: Überall ertönt Musik, Arbeit wird dem Vergnügen untergeordnet und es wird geflirtet, was das Zeug hält. Zu Beginn will Sandra dabei zwar nicht mitmachen. Aber irgendwann wird es einfach zu viel: Der halbwüchsige Sohn knutscht mit seiner neuen Freundin auf der Terrasse, die Kolleginnen tratschen über ihre Ausschweifungen beim Betriebsausflug und die Putzfrau preist in den höchsten Tönen die neuen Dildos aus ihrem Nebenerwerb, einem Online-Sex-Shop an. Also Lippenstift aufgetragen, Outfit aufgefrischt und rein ins Dating-Leben!

La piel en primavera ist ein Film, der gar nicht erst versucht, besonders Außergewöhnliches zu präsentieren und vielleicht genau deshalb so gut funktioniert. Das Arbeiter*innenviertel Barrio Belén Las Violetas mit seinen unverputzten Ziegelsteinwänden gibt dazu den passenden Hintergrund ab: Wenig Glamour, aber dafür umso mehr Atmosphäre für eine Geschichte, die so repräsentativ ist für das Leben in einer lateinamerikanischen Großstadt. Die alleinerziehende Sandra lebt selbstbestimmt, ihre Autonomie wird durch das häufige Rauchen auf dem eigenen Balkon visualisiert. Sie holt sich Selbstbewusstsein im Job, trifft sich mit ihren Freundinnen zum Tanzen oder kümmert sich mit wechselndem Erfolg um die Herzensangelegenheiten ihres Teenager-Sohns und um ihr eigenes Liebesleben. Mit Handkamera und häufigen Close-Ups wird den Darsteller*innen auf den Leib gerückt, die Musik spielt unaufhörlich im Hintergrund und die feuchte Hitze der Stadt ist im Kinosaal fast physisch spürbar. Dazu kommt ein ausgefeiltes Surround-Soundmanagement: Im Bus sind die Rufe der Fahrgäste vorne und die Ansagen des Lautsprechers hinten zu hören und auch auf der Straße scheinen Gesprächs- und Geräuschfetzen von überall her zu kommen. Das fühlt sich so gut und mitten aus dem Leben gegriffen an, dass man sogar dem Plot manche klischeehafte Wendung verzeiht. Ohnehin geht es La Piel en Primavera aber offensichtlich mehr um ein Lebensgefühl als um eine ausgefeilte Story: Wer auf verzwickte Drehbuch-Twists hofft, sollte um den Film eher einen Bogen machen. Regisseurin Uribe Alzate ist trotzdem ein locker-vergnüglicher Erstlingsfilm mit Feel-Good-Vibes gelungen, den man einem breiten Publikum als anschauliches Beispiel einer (weiblichen) working-class Lebenswirklichkeit des südamerikanischen Subkontinents empfehlen kann.

LN-Bewertung: 4 / 5 Lamas

Das Fremde bleibt fremd

© Victor Juca

Argentinien, Taiwan, Deutschland, (Nordost-)Brasilien: Die anDormir de olhos abertos (dt.: „Mit offenen Augen schlafen”) beteiligten Produktionsländer lesen sich wie ein buntes Sammelsurium unterschiedlichster (Film-)Kulturen, bei denen nur schwer vorstellbar ist, wie sie in einem gut 90-minütigen Film zusammenzubringen sind. Dieser undankbar klingenden (aber selbstgewählten) Aufgabe hat sich die deutsche Regisseurin Nele Wohlatz (El futuro perfecto) verschrieben und, Spoiler: Wie zu befürchten erweist sich das Projekt als eine Nummer zu groß.

Dormir de olhos abertosspielt in der Küstenmetropole Recife im brasilianischen Nordosten, genauer gesagt am Strand Boa Viagem, der etwas außerhalb des Zentrums liegt. Der Film folgt zunächst der Touristin Kai (Liao Kai Ro), die einen Strandurlaub mit ihrem argentinischen Partner geplant hat, der sie aber am Flughafen versetzt. Warum er dies tut und warum ihr Urlaub ausgerechnet in Boa Viagem stattfindet (auch in Argentinien und China gibt es Strände und in Brasilien sogar ganz in der Nähe weitaus schönere) – es bleibt ein Rätsel, wie so vieles in diesem Film. Kai stolpert dann jedenfalls, zwar höchst sprachgewandt aber touristisch sichtlich unerfahren, schon bald über chinesische Händler*innen, die Saisonware an gemieteten Verkaufsständen anbieten. Dort kommt sie an einen Stapel Postkarten, auf den die chinesischen Exilantin Xiao Xin (Chen Xiao Xin), die Brasilien mittlerweile schon verlassen hat, den Anfang eines Romans geschrieben hat.

Diese ziemlich konstruierte Ausgangslage (Warum in aller Welt nimmt Xiao Xin nicht einfach ein Buch?) soll das Verbindungsstück zwischen den beiden Erzählebenen sein. Tatsächlich ist sie aber nur der Gipfel des Eisbergs eines Plots, der vor Unglaubwürdigkeit und fallengelassenen Erzählsträngen nur so strotzt. Besonders die arme Touristin Kai trifft es immer wieder hart. So muss sie schon am ersten Tag ohne ersichtlichen Grund auf eine Verkehrsinsel urinieren oder läuft lieber bis zur Dunkelheit durch die Peripherie einer der gefährlichsten Städte der Welt, als sich ein Taxi zu rufen. Dadurch muss sie in einem Love Motel (in Brasilien sehr beliebte Stundenhotels mit entsprechender Ausstattung) die Nacht verbringen, wo sie sich – Achtung Culture Clash-Holzhammer! – sichtlich unwohl fühlt. Am nächsten Tag geht es dann plötzlich doch mit dem Moto-Taxi zurück in ihre Unterkunft. Dies (und vieles andere), so hat man den Eindruck, passiert in Dormir de olhos abertos nur, weil einige Drehbuchszenen vom Reißbrett auf Teufel komm raus untergebracht werden oder auch die Filmfördergelder aus den verschiedenen Ländern eingetrieben werden mussten.

Manchmal wird der Film sogar zu einem echten Ärgernis. Was ein interessanter Einblick in ausbeuterische Arbeits- und Lebensbedingungen von chinesischen Wanderarbeiter*innen hätte werden können, gerät nämlich durch den Fokus auf bemüht-lustige kulturelle Verirrungen oft in die Nähe einer Farce mit rassistischen Einschlägen. So werden die Brasilianer*innen fast durchgängig als feierwütig, übergriffig-beleidigend oder korrupt dargestellt, während die Chines*innen weitgehend zurückhaltend und fast schon unterwürfig auftreten. Der Blick von Regisseurin Wohlatz auf die hölzern geschnitzten Charaktere (ein deutscher ist, ein Schelm der Böses denkt, nicht dabei) ist oft kein mitfühlend-interessierter, sondern wirkt klischeehaft und sieht belustigt oder gar besserwisserisch auf ihre vermeintlich durch ihre Herkunft definierten Eigenarten herab. Im Jahr 2024 ist dieses naive Kulturverständnis nicht mehr zeitgemäß, was insgesamt den Eindruck verfestigt, dass Dormir de olhos abertos nicht über genug Substanz verfügt, um einen Langfilm über die volle Distanz zu tragen.

LN-Bewertung: 1/5 Lamas

Das Ende von Scham und Schweigen

© Substance Films

„Solange ich lebe, werde ich niemals alt sein!“ sagt eine der Frauen, und es scheint egal, von welcher der Protagonistinnen der Satz stammt. Denn die 68-jährige Ana, die 69-jährige Patricia und die 71-jährige Mayela erzählen in der costa-ricanischen Doku-Fiktion Memorias de un cuerpo que arde (Erinnerungen an einen Körper, der brennt) zwar jede für sich die Geschichten ihres Lebens und vor allem ihrer Liebe und Sexualität. Regisseurin Antonella Sudasassi Furniss verknüpft diese aber so geschickt, dass es keine Rolle mehr spielt, wer zu welchem Zeitpunkt etwas erlebt hat. Im Vordergrund steht die Erzählung, das Zursprachebringen von jahrzehntelang tabuisierten und verschwiegenen Bedürfnissen.

Memorias de un cuerpo que arde bedient sich dabei des Tricks der visuellen Fiktionalisierung. Denn die drei Frauen aus Costa Rica sind im Film nur mit ihrer Stimme präsent, um ihre Anonymität zu wahren. Im Bild zu sehen sind Schauspielerinnen wie Sol Carballo oder Paulina Bernini. Diese spielen die aus dem Off erzählten Ereignisse in teils echten, teils symbolischen Handlungen nach. Dabei findet das Geschehen ausschließlich in einer extra angemieteten Wohnung statt, schön eingeführt in der Anfangsszene, die den Einzug des Filmteams zeigt.  Kreativ oder sogar poetisch sind auch die weiteren Einfälle zur Inszenierung: Da laufen Hühner durch die Wohnung, Vasen gehen zu Bruch und einmal scheint sogar ein ganzer Jahrmarkt innerhalb der vier Wände stattzufinden.

Doch ebenso verdienen die Lebensgeschichten der Frauen Aufmerksamkeit. Es sind Geschichten, die Frauen nicht nur in Lateinamerika unzählige Male so oder so ähnlich erlebt haben und erleben. Geschichten von romantischen Gefühlen und sexuellem Begehren, aber auch von Unterdrückung, Scham und Missbrauch. Von sexueller Erziehung an der Grenze zur Komik, Frustration und Gewalt im Eheleben und der Befreiung davon erst im Alter. Sex, so sagt eine der Frauen, sei in ihrem Leben gewesen „wie ein Schwarzes Loch: Man sah es nicht und es schien, als würde es nicht existieren, doch am Ende hat es dich verschlungen“. Physische und psychologische Gewalt gegen Mädchen und Frauen, das bestätigt jede der drei Erzählerinnen, waren in ihrem Umfeld allgegenwärtig. Von klein auf sollten sie beispielsweise lernen, ihren Kleidungsstil als „Rüstung“ zu begreifen, um nicht die „Instinkte der Männer zu wecken“ – damit gemeint waren ihre eigenen Verwandten. Über christliche Werte („Ertrage dein Schicksal!“) wurden den Frauen dabei Schuldgefühle eingeimpft, während übergriffige und gewalttätige Männer unbehelligt davonkommen konnten.

Das Verdienst von Memorias de un cuerpo que arde ist es, die Ungerechtigkeit und Unterdrückung, die Frauen erfuhren und noch immer erfahren, aus einer costa-ricanischen bzw. lateinamerikanischen Perspektive zu einem plastischen und kollektiven Narrativ zu verweben. Regisseurin Antonella Sudasassi Furniss hat damit nach ihrem gefeierten Erstlingswerk El despertar de las hormigas (Das Erwachen der Ameisen) erneut einen sehr starken Film abgeliefert. Mit ihrer Dokumentation gibt sie einer ganzen Generation von Frauen eine gemeinsame Stimme, die das Schweigen bricht und gleichzeitig Hoffnung gibt, dass durch die Trennung von gewalttätigen Partnern ein anderes, glücklicheres Leben möglich ist. „Ich verstehe nicht, dass so viele sagen, im Alter ginge es nur noch bergab“, sagt eine der drei Erzählerinnen gegen Ende des Films. „Für mich ist das die beste Zeit meines ganzen Lebens. Endlich habe ich totale Freiheit!“

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

Die Wurzeln verteidigen

© Johan Carrasco

„Peru fährt zur WM nach Russland, du wirst sehen! Weißt du, wo Russland ist?“ fragt der Junge Feliciano sein Alpaka Ronaldo zu Beginn von Raíz vor einer majestätischen Bergkulisse in den peruanischen Anden. Er hütet die Alpakas seiner Familie und hört dabei im Radio die Fußballspiele der peruanischen Nationalmannschaft. Raíz bedeutet Wurzel  ̶  die für die indigene Bevölkerung im Altiplano heiligen Berge und die Alpakas, deren Wolle ihre wichtigste Einnahmequelle ist, stehen im zweiten Spielfilm des Regisseurs Franco García Becerra für diese Wurzeln.

Felicianos Welt wird von Bergbau bedroht: In der Nähe seines Dorfes befindet sich eine Mine, die Weiden und Wasser verschmutzt und die Tiere krank macht. Die Bewohner*innen beschweren sich, werden jedoch nicht gehört. Stattdessen schickt die Mine einen Arbeiter, der sich hilfsbereit gibt und die Leute davon überzeugen will, dass die Mine Fortschritt und Wohlstand bringt. Einige Dorfbewohner*innen beschließen zwar, ihre Tiere zu verkaufen und wegzuziehen, viele wollen jedoch ihr gewohntes Leben fortführen und ihr Land behalten. Schließlich greift das Bergbauunternehmen zu härteren Bandagen. 

Die selbst aus dem Andenhochland stammenden Schauspieler*innen hatten meist ebenfalls Erfahrung mit ähnlichen Situationen, wie der Regisseur berichtet. Felicianos WM-Begeisterung und die gleichzeitig stattfindende neoliberale Ausbeutung von Mensch und Natur um ihn herum sind Themen, bei denen viele Menschen in ganz Lateinamerika mitfühlen können. Der im nahen Cusco aufgewachsene García nimmt sich im Film Zeit dafür, die Träume der Menschen, ihren Alltag und ihre Verbundenheit mit der Umgebung darzustellen: Feliciano spricht mit Ronaldo und seinem Hund Rambo, tollt mit ihnen auf der Wiese herum. Er sammelt besondere Steine oder spielt Fußball mit anderen Jungs. Die Dorfbewohner*innen wollen Bildung für ihre Kinder, sie scheren zusammen die Alpakas oder gehen in die nächste Stadt, um ein Fußballspiel zu sehen.

Der Film vermittelt alltägliche Authentizität ohne Klischees. Dazu trägt auch bei, dass alle im Film ausschließlich Quechua sprechen, die meistgesprochene einheimische Sprache Lateinamerikas. Auch lokale Glaubensvorstellungen sind präsent, wenn immer wieder ein geheimnisvolles Wesen auftaucht, vor dem die Menschen sich fürchten, sich jedoch auch Hilfe erhoffen, während sich der Konflikt mit der Mine zuspitzt.

„Sie nehmen sich immer mehr Reichtümer und lassen uns nichts übrig“, resümiert Felicianos Vater einmal die Lage. Die Schlussfolgerung: „Wenn wir die Straße blockieren, müssen sie uns zuhören. Wir müssen uns vereinen und kämpfen.“ Die mit großartigen Bildern feinfühlig und nahbar erzählte Geschichte von Feliciano und seinem Dorf ist ein Plädoyer für Träume, für kulturelle Vielfalt, den Respekt vor Menschen und Natur und dafür, dass es sich lohnt, solidarisch für diese Dinge zu kämpfen.

Erwachen in Chile

© Felipe Morgado MAFI

„Chile ist aufgewacht“ schreien Aktivist*innen nachdem Chile sich für die Ausarbeitung einer neuen Verfassung gestimmt hat. Sie schwenken Flaggen: die chilenische, die der Mapuche und die Wiphala-Flagge. Die Mehrheit der chilenischen Bevölkerung hat sich gerade entschieden, eine historische Veränderung auf den Weg zu bringen. Doch dass eine neue Verfassung kein punktuelles Event ist, wird klar, wenn man sich die Dokumentation Oasis von Tamara Uribe und Felipe Morgado ansieht. Die angebliche „Oase“ Lateinamerikas, wie Chile wegen seiner lange Zeit relativ stabilen wirtschaftlichen Lage genannt wurde, wurde deswegen jahrelang von heftigen Protesten und Diskussionen erschüttert.

Der Film beginnt mit den Protesten gegen die Fahrpreiserhöhung für U-Bahn-Tickets in der Hauptstadt Santiago. Durch die rasant steigenden Preise angeheizt, schwappen sie von dort bis auf die Straßen Chiles. Die Reaktion des Präsidenten Piñera ist harsch: Erstmals seit der Diktatur Pinochets lässt er das Militär wieder patrouillieren. Es kommt zu vielen Toten und Verletzten. Doch durch die wochenlangen Proteste ist das Undenkbare plötzlich möglich: Ein Referendum für oder gegen eine neuen Verfassung findet statt. Und Chile stimmt dafür.

Oasis folgt diesen Prozessen kommentarlos, lässt Bilder und Akteur*innen für sich selbst sprechen. Auch im bittersten Moment für die Demonstrant*innen: Als die neue Verfassung endlich ausgearbeitet ist, stimmt Chile nochmals ab, über das Inkrafttreten der neuen Gesetzgebung. Die Diskussionen schlagen erneut hoch, Angst und Ungewissheit sind genauso wie Freude und Hoffnung groß. Schließlich wird die neue Verfassung von einer knappen Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Ihre Einführung ist damit vorerst verhindert.

Tamara Uribe und Felipe Morgado nehmen die Zuschauer*innen in Oasis mit mit auf eine Reise über den Zeitraum von drei Jahren, von den Protesten in Santiago 2019 bis zum Scheitern der neuen Verfassung 2022. Sie dokumentieren die Bewegungen in den Metropolen und aus der Peripherie, berichten von feministischen und indigenen bis hin zu konservativen und militanten Kämpfen. Eine Reise, die aus Momentaufnahmen entsteht, so nah, so ungefiltert, so harsch und doch so weich. Die Personen werden porträtiert ohne sie zu protagonisieren. Und gerade wenn man denkt, einen festen Gedanken gefasst zu haben, kommt schon der nächste Moment, die nächste Aufnahme, die sprachlos macht. Manchmal sind es Landschaftsaufnahmen, an anderen Stellen ist es Gewalt. Es gibt keine*n Sprecher*in zur Einordnung, doch trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – erzählen die für sich stehenden Bilder überzeugend ihre eigene Geschichte.

So zeichnet Oasis ein eindrückliches Bild von den Gesichtern des Aktivismus, den Emotionen des Protests, der Gespaltenheit und Verbundenheit innerhalb eines Landes. Und davon, wie ungewiss die Zukunft, die wir zu gestalten versuchen, ist – in Chile und überall.

LN-Bewertung: 5/5 Lamas

Hüter der verlorenen Lieder

© Natalia Burbano / Contravía Films

“Gelobte Seelen des Fegefeuers, zeigt mir den Weg”, betet José de Los Santos inmitten afrokolumbianischer Rituale. In seiner Gemeinde im Regenwald der kolumbianischen Pazifikregion Chocó vereinen und solidarisieren sich die Bewohner durch Gesänge und Gebete, um den Trauerprozess zu bewältigen. Der Protagonist des Films Yo vi tres luces Negras, (“I saw three black lights”), gespielt von Jesús María Mina, lebt unter den Toten, hat die Gabe, sie zu sehen und mit ihnen zu sprechen. Diese Kommunikation mit seinen Vorfahren ermöglicht es ihm, im Hier und Jetzt voranzukommen und seinen eigenen Weg zu gehen.

Yo vi tres luces negras ist die zweite Langfilm-Produktion des kolumbianischen Regisseurs Santiago Lozano und feiert auf der 74. Berlinale in der Panorama-Sektion des Festivals seine Weltpremiere. Wie schon in seinem ersten Film greift Lozano das Thema Tod und Bestattungsrituale des afrokolumbianischen Pazifikraums auf, diesmal anhand der schicksalhaften Reise von José de Los Santos. Der 70-jährigen wird von seinem verstorbenen Sohn Pium besucht, der nun auch ihm seinen Tod ankündigt. Pium teilt seinem Vater mit, dass er seinen letzten Gang in die Tiefen des Dschungels antreten muss. Auf dem Weg dorthin trifft José auf paramilitärische Gruppen, die ihn bei seinem Vorhaben behindern – dieselben, die seinen Sohn Jahre zuvor ermordet haben.

© Christian Velasquez / Contravía Films

Mit großer visueller und symbolischer Reichhaltigkeit zeigt der Film den Synkretismus, der in den Gemeinden des Departamento Chocó, praktiziert wird, wobei der Tod innerhalb dieser Weltanschauung besonders betont wird. Im Verlauf der Geschichte wird klar auf die Bedeutung der mündlichen Überlieferung für das Überleben archaischer spiritueller Praktiken der Pazifikregion hingewiesen. Diese gehen allmählich durch Gewalt verloren, während die dortigen Bewohner zum Schweigen gebracht werden. Und auch die Auswirkungen des Bergbaus auf die Lebensweise der Menschen und die natürlichen Ressourcen werden deutlich. José de Los Santos wird dabei als “Hüter des Landes” dargestellt, der seinen Kampf gegen Zerstörung und Ausbeutung jedoch mit ungleichen Waffen führen muss.

Besonders bemerkenswert an Yo vi tres luces negras ist die Kinematografie, die den Dschungel in seiner ganzen Tiefe eindringlich einfängt, so dass dieser wie ein eigener Charakter wirkt. Der Film beginnt und endet mit der imposanten Präsenz des Rio San Juan, einem der mächtigsten und wichtigsten Flüsse Kolumbiens. Das Wasser als symbolisches Element ist sowohl visuell als auch klanglich in der Geschichte präsent. Darüber hinaus trägt die beeindruckende Filmmusik von Nidia Góngora, einer Komponistin von und Forscherin zu traditioneller kolumbianischer Musik, Yo vi tres luces negras stimmungsvoll durch die Eingeweide des Dschungels.

Lozanos Arbeit als Regisseur ist zweifellos vielversprechend, denn er zeigt Engagement für seine eigene ästhetische Erkundung. Sein Blick ist nach innen gerichtet, aber er spricht universelle Themen an. Yo vi tres luces negras ist ein empfehlenswerter Film, der innerhalb der Panorama-Sektion der Berlinale sicher zu den stärkeren Beiträgen gehören wird.

LN-Bewertung: 4/5 Lamas

Nicht das Gelbe vom Ei

© Juan Pablo Ramírez / Filmadora

Der mexikanische Regisseur Alonso Ruizpalacios ist mittlerweile erfolgreicher Stammgast auf der Berlinale: 2018 gewann sein Film Museo einen Silbernen Bären für das beste Drehbuch, die Doku-Fiktion A Cop Movie 2021 die gleiche Auszeichnung für den besten Schnitt. Nun verlässt Ruizpalacios mit dem auf einem Theaterstück basierenden La Cocina (dt.: Die Küche) erstmals Mexiko und betritt die Räume eines New Yorker Restaurants am Times Square. „The Grill“, so der Name des Etablissements, bietet nicht die ganz exklusiven Gaumenfreuden, sondern eher Massenkost für die touristische Durchgangskundschaft. Schnell und möglichst kosteneffizient soll serviert werden und eine der Zutaten dafür ist der illegale Aufenthaltsstatus des Großteils des Küchenpersonals. Den nutzt der schmierige Restaurantbesitzer Rashid auf ziemlich unappetitliche Weise zu seinem Vorteil aus. Denn Mitarbeiter*innen wie der Hallodri Pedro (Raúl Briones) stehen so nicht nur ständig mit einem Bein vor dem Rauswurf aus dem Restaurant, sondern gleich aus dem ganzen Land. Das hält die Motivation bei der Arbeit quasi von alleine hoch. Pedro hat zudem ein Verhältnis mit der abgebrühten Kellnerin Julia (Rooney Mara), deren Schwangerschaft schmeckt jedoch nicht beiden in gleicher Weise.

La Cocina (aus nicht näher definierten Gründen fast komplett in Schwarz-Weiß gefilmt) gelingt esgut, die quirlige, rastlose Atmosphäre in der im Akkord arbeitenden Restaurantküche einzufangen. Schon zu Beginn des Films verfestigt sich aber der Eindruck, als würde hier zu viel in einen Topf geworfen. Die so zahlreichen wie unterschiedlichen Charaktere sind zwar vordergründig sehr unterhaltsam, was vor allem an den schauspielerischen Leistungen (eine Entdeckung vor allem Anna Diaz als Küchen-Neuling Estela) liegt. Doch das allein macht den Kohl leider nicht fett. Denn das Drehbuch bekommt es nicht gebacken, auch nur einem von ihnen eine vernünftige Hintergrundgeschichte zuzubereiten. Dem Publikum wird so mit interessanten Subplots der Mund wässrig gemacht, nur um diese dann im Nichts verlaufen zu lassen. Ein hartes Brot sind auch die häufigen, unverhohlen sexistisch-anzüglichen Bemerkungen und Gesten der männlichen Mitarbeiter in Richtung der (ausschließlich weiblichen) Kellnerinnen. Da diese meist unwidersprochen bleiben, kommt La Cocina hier in Teufels Küche. Zudem finden sich auch bei der Montage und Erzählweise des Films einige Haare in der Suppe: Manche Szenen sind geradezu schmerzhaft lang ausgedehnt, andere wirken nicht richtig abgeschmeckt oder zum falschen Zeitpunkt in die Geschichte eingesetzt.

Das durchgeknallte Finale ist zwar noch einmal ein gefundenes Fressen für Freund*innen der gepflegten Eskalation. Aber im Prinzip ist die Suppe hier schon versalzen. Denn letztendlich wird in Bezug auf das entscheidende Thema des Films – Wie umgehen mit illegalisierter Migration und Beschäftigung? – nur um den heißen Brei herumgeredet. Den Appetit verdirbt auch so manches abgedroschene Klischee über Lateinamerikaner*innen. Insgesamt ist La Cocina damit sicher kein Gourmetbissen geworden. Was sich der Film in über 2 Stunden mit zu vielen Unausgegorenheiten einbrockt, können auch großartige Einzelleistungen von Kamera und Schauspieler*innen am Ende nicht mehr auslöffeln.

LN-Bewertung: 2/5 Lamas

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