„Strukturelle Veränderungen von der Basis vorangetrieben”

Du bist nun seit einigen Monaten im Exil in Spanien. Warum bist du ins Exil gegangen?

Gemeinsam mit meinem Sohn sind wir in einem Schutzprogramm für Menschenrechtsverteidiger*innen, um für eine gewisse Zeit unsere Heimat zu verlassen. Im März 2022 wurde mein Partner, José Miller Correa, ermordet. Er war eine wichtige politische Autorität in der indigenen Autonomie und hatte verschiedene politische Posten inne. Seine Ermordung hatte schlimme Folgen für uns als Familie, aber auch für unsere gesamte Gemeinschaft, aufgrund der Verantwortung, die er für die Gemeinschaft getragen hatte. Wir mussten unsere Heimat verlassen und wollten aus dem Exil für Gerechtigkeit und Aufklärung kämpfen.

Wenn man aus solchen Gründen die Heimat verlassen muss, ist das extrem schwierig. Ganz anders, als wenn man ins Ausland geht, um zu studieren, zu arbeiten oder einen Austausch zu machen. Trotzdem habe ich hier viel gelernt und konnte Kollektive kennenlernen, die Verbündete sind und mit denen wir gemeinsam auf die Situation im Cauca aufmerksam machen und uns für die Aufklärung des Mordes an Miller einsetzen. Es ist aber auch wichtig, im Blick zu haben, dass er nicht die einzige Person von uns ist, die ermordet worden ist, sondern einer von vielen. In keinem dieser Fälle hat es wirklich Aufklärung und Gerechtigkeit gegeben. Deswegen geht es darum, einen Schritt in Richtung Ende der Straflosigkeit zu machen und dafür zu sorgen, dass sich diese Gewalt nicht fortsetzt.

Darüber habe ich hier viel gelernt und hoffe, dieses Wissen bei der Rückkehr in meine Heimat mit anderen zu teilen. Zudem bin ich dankbar für die Ruhe, mit der mein Sohn und ich hier leben und diese schwierige Zeit gemeinsam durchstehen konnten.

Wie ist der aktuelle Stand bei der Aufklärung des Mordes an José Miller Correa?

Aktuell ermittelt die Staatsanwaltschaft in Popayán, Cauca. Unser Eindruck als Familie ist, dass es kaum Fortschritte gegeben hat. Wir erhalten kaum Informationen darüber, welche Schritte die Ermittlungsbehörden unternehmen.

Es gab zwei Festnahmen, aber die verdächtigten Personen sind erst einmal wieder frei, auch wenn wohl weiter gegen sie ermittelt wird. Zwei Jahre später ist der Mord immer noch unaufgeklärt. Dazu kommen einige Unregelmäßigkeiten, zum Beispiel wurde die zuständige Staatsanwältin zwischenzeitlich ausgetauscht. Darüber wurden wir als Familie auch nicht informiert.

Wir fordern, dass die Ermittlung an eine spezialisierte Staatsanwaltschaft auf nationaler Ebene übergeben wird, die dafür gegründet wurde, Morde an Aktivist*innen aufzuklären. Die Behörden im Cauca erwecken kaum Vertrauen und nur mit viel Druck aus der Bewegung und aus dem Ausland scheint sich überhaupt etwas zu bewegen.

Der Mord an Miller ist Teil einer sich seit Jahren intensivierenden Gewalt gegen die indigene Bewegung im Cauca. Wie würdest du den heutigen Moment, den aktuellen Zustand der Bewegung beschreiben?

Es ist ein sehr schwieriger Moment für den indigenen Autonomieprozess im Cauca. Die Mayores, die Älteren, erzählen, dass der Kampf der indigenen Bewegung nie einfach gewesen ist und immer viele Leben gekostet hat. Es gab immer wieder Phasen in der 500-jährigen Geschichte des Widerstands, in der die Repression und Gewalt besonders heftig waren und ich glaube, jetzt gerade erlebt die indigene Bewegung wieder eine solche Phase.

Im Prinzip haben sich die Verhältnisse nach dem Friedensvertrag mit den FARC 2016 nicht wesentlich verändert. Mit immenser Gewalt versuchen legale und illegale bewaffnete Gruppen bestimmte Gebiete unter ihre Kontrolle zu bringen, um die dortigen Ressourcen ausbeuten zu können. Diese Gewalt richtet sich aber eben auch gegen die indigene Bewegung, die – im Gegensatz zu den bewaffneten Gruppen – die Natur nicht als eine Ware, als Teil eines Marktes, betrachtet.

Für uns ist die Natur eine Mutter, ein großes Zuhause, letztlich der Existenzgrund unserer Gemeinschaften. Wir sollten sie schützen und gegen extraktivistische Politik verteidigen, gegen jede Gier – sei es von Einzelpersonen, von Firmen oder von staatlicher Politik.

Wegen unserer Haltung sind wir mit einer alltäglichen Gewalt diverser bewaffneter Gruppen konfrontiert, mit Zwangsrekrutierungen, Bedrohun­gen oder der Ermordung unserer traditionellen Autoritäten, Aktivist*innen, Mitgliedern der Guardia Indígena oder Menschen, die eine wichtige spirituelle Rolle innehaben. Die Zwangsrekrutierung von Jugendlichen ist besonders gefährlich, weil sie auf unsere Zukunft zielt. Sie sind es, die unseren Kampf und Widerstand in Zukunft weiterführen müssten.
Was mich sehr besorgt ist, dass kaum Alternativen greifbar sind, die etwas an diesen gewaltvollen Strukturen ändern könnten. Wir haben viel versucht, interne Dialoge und Debatten geführt, unsere Autonomie und unsere Selbstverwaltung verstärkt. Das hat letztlich zu noch mehr Gewalt gegen unsere Führungspersönlichkeiten geführt.

Du sprichst – aus der Perspektive der indigenen Gemeinschaft – von internen und externen Gründen für die Gewalt.

Ja, ich glaube, das sind im Prinzip externe Faktoren, die mittlerweile zu internen Problemen geworden sind. Zum Beispiel die Denkweise, dass die Reichtümer der Mutter Erde ausgebeutet werden sollten. Dass das Gute Leben sich lediglich durch wirtschaftliche Aspekte auszeichnet.

Diese Denkweise wurde von außen in die Gemeinden getragen und einige Leute verlieren damit unsere eigenen Prinzipien. Dabei spielt natürlich eine große Rolle, dass unsere Gemeinden kaum eigenes Land zur Selbstversorgung haben und es somit eigentlich keine Existenzgarantie gibt, wie unsere Älteren sagen. Die Familien wachsen, aber das verfügbare Land nicht. Dass noch nicht einmal Grundbedürfnisse befriedigt werden können, sorgt für Unruhe in der Gemeinschaft. Der Anbau von Koka oder Marihuana oder die Verwicklung in den Drogenhandel erscheint dann als ökonomische Alternative. Das ist aber keine Lösung, sondern schafft viele Probleme.

Neben der Gewalt der bewaffneten Gruppen sorgt so auch der Drogenkonsum, Alkoholismus, der Besitz von Waffen und interfamiliäre Gewalt zum Verlust unserer Werte. Das ist eine Folge von Extraktivismus, ob Goldbergbau im Cauca, der Bau von Staudämmen, die Monokulturforstwirtschaft mit Kiefern und Eukalyptus oder Zuckerrohrplantagen. Die Umweltverschmutzung, die Konzentration von Land in den Händen einiger Weniger und die ökonomische Abhängigkeit der anderen, all das dringt mit großer Gewalt in indigene Territorien ein.

Nun gibt es seit einem Jahr in Kolumbien eine progressive Regierung, die sich kritisch gegenüber dem Extraktivismus positioniert. Sie hat ihre Wurzeln in den sozialen Bewegungen, die entscheidenden Anteil am Wahlerfolg hatten. Auch die indigene Bewegung unterstützte sie. Wie ist aktuell das Verhältnis zur neuen Regierung?

Ein großer Teil der indigenen Bewegung unterstützt die Regierung von Gustavo Petro. Wir sind jetzt stärker eingebunden in den Institutionen, auf kommunaler Ebene, auf Landes- oder auf nationaler Ebene. Wir haben eigene Kandidat*innen im Regierungsbündnis Pacto Histórico aufgestellt, um so als indigene Bewegung auch diese Räume zu besetzen, in denen Entscheidungen getroffen werden.

Wir stehen der Regierung sicher näher als allen vorherigen. Trotzdem hat es bisher noch keine strukturellen Veränderungen gegeben. Vielleicht ist es auch noch zu früh dafür. Im ersten Jahr hat die Regierung von Gustavo Petro wichtige Reformen angestoßen, aber vieles scheitert im Kongress, wo sie keine Mehrheit hat. Wir sehen die Bemühungen der Regierung, aber wir wissen auch, dass es sehr schwierig ist, in vier Jahren eine lange Geschichte des Kriegs, der Ungleichheit zu überwinden. Unsere Lehre daraus ist, dass die strukturellen Veränderungen von der Basis vorangetrieben werden müssen und die Selbstorganisation im Lokalen gestärkt werden muss. Dort liegt die Macht des Volkes.

Du berichtest von vielen Problemen, Gewalt und Trauer. Was macht dir in diesem Moment Hoffnung?

Was wir uns immer erhalten haben, ist unsere Bereitschaft zu kämpfen, das Leben zu verteidigen, obwohl um uns herum viele Tode gestorben werden. Eine der Formen unseres Kampfes, die Hoffnung macht, ist die Guardia Indígena, die Organisationen von Jugendlichen, von Frauen, im Gesundheitsbereich, unser eigenes Bildungssystem, unsere eigenen Medien und die Stärkung unserer kulturellen Identität, das Wiederbeleben unserer Sprache und die Liberación de la Madre Tierra (dt.: Befreiung der Mutter Erde) als ein Prozess der Selbstorganisation, der sich wieder auf den Ursprung der Bewegung besinnt und Landbesetzungen initiiert.

Auch unser traditionelles Wissen und unsere Spiritualität geben uns Hoffnung. Wir indigenen Völker waren trotz der Repression immer widerständig, im Kampf für die Würde und wir ziehen unsere Kraft aus der Mutter Erde.

Ohne Gerechtigkeit kein Frieden

Allan, du bist ein ehemaliger politischer Gefangener. Kannst du uns etwas über die Umstände deiner Gefangennahme und die Haftbedingungen erzählen?

Ich wurde am 27. Dezember 2018 im Haus meiner Mutter von der Polizei und Paramilitärs verhaftet und ins Gefängnis El Chipote gebracht. Dort verbrachte ich 44 Tage in einer dunklen Zelle ohne Kleidung. Ich wurde gefoltert und war sexueller und körperlicher Gewalt ausgesetzt. Dann wurde ich ins Gefängnis Sistema Penitenciario verlegt. Auch in diesem Gefängnis erlitt ich Gewalt. Am 27. Februar 2019 wurde ich im Rahmen des sogenannten Amnestiegesetzes freigelassen. Zwischen 2019 bis 2021 war ich weiterhin polizeilichen Schikanen ausgesetzt und wurde in meinem Zuhause von Sicherheitskräften belagert.

Als ehemalige politische Gefangene seid ihr in der Vereinigung der politischen Gefangenen Nicaraguas (UPPN) organisiert. Wie kam es zur Gründung der UPPN und welche Ziele verfolgt sie?

Die UPPN wurde am 19. März 2019 in den Gefängnissen La Esperanza und La Modelo von politischen Gefangenen formell gegründet und der nicaraguanischen Öffentlichkeit und anderen Organisationen vorgestellt. Unsere Arbeitsschwerpunkte sind das Streben nach Gerechtigkeit und Wahrheit; die Aufrechterhaltung der Erinnerung, damit sich das nicht wiederholt, und die Wiedergutmachung für alle Opfer.

Als Organisation der unmittelbaren Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit sind wir der Meinung, dass der Wandel in Nicaragua einen wirklichen und beständigen Gerechtigkeitsprozess braucht. Denn es ist notwendig, das historische Gedächtnis zu bewahren, daran müssen wir arbeiten. Dies sind die wichtigsten Arbeitsbereiche unserer Organisation.

Von wie vielen politischen Gefangenen geht ihr derzeit aus?

Es gibt mehr als 100 politische Gefangene. Manche sind nicht in der Liste aufgeführt, weil sie sich nicht im Gefängnis befinden. Aber sie sind de facto Gefangene – nur eben in ihrem eigenen Zuhause. Es gibt mehr als dreißig Personen, die sich jede Woche bei der Polizei melden müssen. Sie werden so kontrolliert, als ob sie Gefangene wären. Andere werden überwacht oder unterliegen Arbeits- und sonstigen Beschäftigungsverboten.

Die Diktatur übt über alle Oppositionsgruppen ein hohes Maß an Kontrolle aus, damit es keine Bewegung mehr gibt, die sie nicht vorhersehen kann. Sie handelt mit Kalkül und spielt auf Zeit, da sie weiß, wie mit der internationalen Diplomatie umzugehen ist.

Ihr lebt alle im Exil. Es ist sicher schwer, unter diesen Bedingungen für eure Organisation zu arbeiten…

Ja, und dabei ist die größte Herausforderung im Exil für soziale Aktivisten oder Menschenrechtsverteidiger der Lebensunterhalt. Außerdem findet eine gewisse Abkopplung von der Realität in unserem Land statt. Daher müssen wir eine kontinuierliche Kommunikation mit den Menschen vor Ort aufrechterhalten, um zu erfahren und zu verstehen, was im Land vor sich geht.

Wenn man sein Land verlässt, ist man einer anderen Realität ausgesetzt, die einen dazu zwingt, sich in einer anderen Zeit und in einer anderen Kultur zurechtzufinden. Das ist die größte Schwierigkeit: den Bezug zum eigenen Land zu verlieren und trotz dieser Abkopplung weiter zu verfolgen, was im Staat passiert. Eine große Herausforderung ist zum Beispiel, mit den Menschen vor Ort zusammenzuarbeiten, ohne sie dabei in Gefahr zu bringen. Hinzu kommt, dass die Diktatur auch Menschen bestraft, die sich außerhalb Nicaraguas sozial engagieren. Das zwingt viele Personen dazu, sich zum Beispiel nicht zu zeigen, oder in den Medien keine Menschenrechtsverletzungen anzuprangern, weil sie Angst haben, dass ihre Familien in Nicaragua Repressalien seitens der Diktatur erleiden. Das ist etwas, das die Bedingungen im Exil natürlich verschärft und die Arbeit zusätzlich erschwert. Trotzdem kann ich nicht aufhören, aktiv zu sein und mich an Initiativen zu beteiligen, um Gerechtigkeit zu fordern. Denn ich habe Freunde, die immer noch im Gefängnis sitzen, und Freunde, die ermordet wurden.

Du bist Teil der LGBTIQ-Gemeinschaft innerhalb der UPPN. Welche sind eure wichtigsten Forderungen an die nicaraguanische Zivilgesellschaft bezüglich der Bürger*innenrechte?

Nicaragua braucht viele Veränderungen, aber die wichtigste Veränderung ist systemisch, es braucht nicht einfach nur einen Regierungswechsel. Ein neues Nicaragua erfordert eine vollständige Umstrukturierung der staatlichen Institutionen sowie der Art und Weise, wie Politik gemacht wird. Es muss ein vollständiger Wandel erfolgen, der auf dem Weg zur Demokratie einen Prozess zur Bewahrung der Erinnerung und der Wahrheitssuche miteinschließt.

Als Person aus der LGBTIQ*-Gemeinschaft denke ich, dass wir ein System der Fairness und Gleichheit anstreben müssen, in dem die Menschenrechte jeder einzelnen Person nie mehr verletzt werden. Als Organisation sind wir der Meinung, dass es keinen politischen Gefangenen, keinen Gewissensgefangenen, keine Person geben darf, die inhaftiert, gefoltert wird oder Gewalt erleidet, weil sie ihre politische Meinung geäußert hat oder weil sie anders über das Regierungssystem oder die Regierungspartei denkt. Und genau dafür werden wir von der UPPN kämpfen.

In der nicaraguanischen Opposition finden sich verschiedene Interessen und politische Strömungen, gemeinsamer Nenner ist die Forderung nach Demokratie. Gibt es denn konkrete Ideen, was nach Ortega kommen soll?

Innerhalb der nicaraguanischen Opposition hat es bisher keinen aufrichtigen Dialog gegeben. Jede Gruppe verteidigt ihre eigene Agenda. Zumindest wir, die Opfer, glauben, dass der Weg zu einem neuen Nicaragua nicht möglich ist, ohne dass wir uns als Opposition zusammensetzen, ehrlich miteinander reden und eine gemeinsame Basis finden, statt immer nur die Unterschiede zu sehen. Es gibt außerdem keine klare Strategie der Abstimmung darüber, wie dieses neue Nicaragua aussehen soll, sondern lediglich verschiedene Vorschläge. Wir als Opferorganisation − und ich als unmittelbares Opfer von Verbrechen gegen die Menschlichkeit − meinen jedoch, dass wir nicht in der Lage sein werden, Demokratie zu erreichen, wenn die Frage der Gerechtigkeit nicht in die Agenda aufgenommen wird. Das ist für uns von grundlegender Bedeutung.

Wie habt ihr euch in diesem politischen Szenario verortet?

Als wir 2019 aus dem Gefängnis kamen, wurde uns klar, dass wir uns in die politische Agenda einmischen müssen. Von daher haben wir uns als Personen und Organisation das Ziel gesetzt, Teil der politischen Debattenräume zu sein, aber nicht mit einem parteipolitischen Ziel, sondern um unsere Gerechtigkeitsagenda zu fördern. Dafür haben wir uns die Aufgabe gestellt, in verschiedenen Organisationen wie dem Oppositionsbündnis UNAB, der Alianza Cívica (Bürgerallianz) oder anderen Plattformen mitzuwirken, die damals in der Opposition noch stärker waren. Wir stellten jedoch fest, dass viele dieser Organisationen weder eine soziale Basis noch eine klare Strategie für ihr weiteres Vorgehen hatten. Viele waren nur flüchtig, ihre Agenda war vor allem auf den Moment ausgerichtet, nicht auf die Zukunft. Wir haben unseren Vorschlag zum Thema Gerechtigkeit eingebracht, aber viele Organisationen der Opposition sind der Meinung, dass diese Frage erst nach dem Übergang zur Demokratie behandelt werden sollte. Aber das kann nicht sein: Die Übergangsphase muss auch das Thema der Gerechtigkeit auf die Tagesordnung setzen. Dazu muss man sich mit Opferorganisationen zusammensetzen, über ihre Ziele und Wege sprechen. Wir als Organisation haben konkrete Ideen, wie wir unter den rechtlichen Rahmenbedingungen Gerechtigkeit erreichen können, was erarbeitet werden muss und was dazu nötig ist.

Stattdessen handelten viele Oppositionsorganisationen aus ihrer Ohnmachtsposition gegenüber Ortega jedoch Quoten für Straffreiheit aus. Das geht gar nicht. Man kann den Opfern doch nicht sagen: „Diesen lassen wir laufen, jenen nicht”. Diese Entscheidung steht einer Oppositionsorganisation gar nicht zu.

Straffreiheit für wen?

Das war 2019: Es kam zu einer Dialogrunde (zwischen Opposition und Ortega-Regierung, Anm. d. Red.), in der die Opposition über Quoten für Straffreiheit für politische Gefangene verhandelte. Da zog die Diktatur die Amnestie aus dem Ärmel, aber es war keine echte Amnestie. Im Übrigen bedeutet eine Amnestie für die von der Freilassung begünstigten Gefangenen zu vergessen, was ihnen widerfahren ist. Anders gesagt: Bei einer Amnestie ist das Opfer insofern am stärksten betroffen, da die Gesellschaft die Gerechtigkeit, die eigentlich den Opfern zusteht, dem Wohlergehen der Gesellschaft opfert. Wenn ich also von Quoten der Straffreiheit spreche, dann beziehe ich mich genau darauf: Die nicaraguanische Opposition, die machtlos ist, verhandelt mit der Justiz, aber das Verhandeln über Quoten oder Gerechtigkeit ist nicht ihre Aufgabe oder die irgendeiner Gruppe. Denn du kannst einer Mutter nicht sagen, dass sie aufhören soll, Gerechtigkeit zu fordern, weil ihr Kind ermordet wurde. Man kann einem ehemaligen politischen Gefangenen nicht sagen, dass er aufhören soll, Gerechtigkeit für die Folter oder Vergewaltigung zu fordern, die er im Gefängnis erlitten hat. Ohne Gerechtigkeit wird es keinen Frieden im Land geben.

Raus aus dem Teufelskreis

Flucht im Innland Zurück bleiben Häuser, die von Kriminellen genutzt werden – Rückkehr ausgeschlossen (Foto: Peg Hunter via Flickr, CC BY-NC 2.0 Deed)

„Meine Tochter war ein glückliches 15-jähriges Mädchen, bis es vom Bürgermeister der Nachbarstadt vergewaltigt wurde.“ So nüchtern wie krude beginnt der Bericht von Sofía Sánchez (Name geändert). Sofía lebte mit ihrem Partner und fünf Kindern in einem Dorf in den Bergen im Osten von Honduras, über drei Stunden mit dem Bus bis zur nächstgrößeren Stadt.

„Wir besaßen ein kleines Haus aus Lehmsteinen und ein Feld, auf dem wir Zwiebeln, Tomaten und Chili anbauten. Manchmal ernteten wir auch Kaffee auf verschiedenen Plantagen. Meine Tochter war in der fünften Klasse, als eine Bekannte sie bat, ihr Kind in der Stadt zu hüten: Eine Woche für 4.500 Lempiras, knapp 170 Euro. Das ist viel Geld für uns, deshalb war ich einverstanden. Aber als meine Tochter – ohne Geld – zurückkam, weinte sie oft und war sehr schweigsam. Erst einige Zeit später vertraute sie einer Freundin an, dass sie von der Bekannten gezwungen wurde, Medikamente einzunehmen und danach vom Bürgermeister in einem Stundenhotel mehrfach vergewaltigt wurde.“

Sexuelle Gewalt ist nur ein Grund für die Binnenflucht. Dazu kommen weitere Gründe, wie Schutzgelderpressung, Zwangsrekrutierungen durch kriminelle Banden, Klima- und Wetterereignisse, Vertreibung durch Landinvasion und Morddrohungen. Dass es oft nicht bei Drohungen bleibt, zeigt die aktuelle Statistik der nationalen Universität UNAH am Beispiel der Femizide. Alle 22 Stunden wird in Honduras eine Frau umgebracht, 95 Prozent dieser Morde bleiben straffrei.

Sofía wollte nicht, dass der Vergewaltiger ihrer Tochter, eine einflussreiche und wohlhabende Person der Nationalpartei, straffrei bleibt. „Ich möchte verhindern, dass weitere Mädchen Opfer dieses Perversen werden. Einige Wochen später rief mich die Bekannte an und sagte, meine Tochter solle in die Stadt kommen, um ihren Lohn abzuholen. Als ich mich weigerte und erklärte, ich würde den Bürgermeister anzeigen, lachte sie mich aus. Nach einiger Zeit ging ich zur Polizei und schließlich zur Staatsanwaltschaft. Kurz darauf begannen die telefonischen Drohungen nach dem Muster ‘Wir werden euer Haus anzünden und euch alle erschießen.‘ Daraufhin flohen wir im Morgengrauen nach Tegucigalpa, ins Haus eines Cousins. Wir konnten nichts mitnehmen außer unseren Kleidern.“

Binnengeflüchtete stehen oft ganz plötzlich vor dem Nichts. Karen Valladares ist die nationale Koordinatorin von Cristosal Honduras, einer Nichtregierungsorganisation, die sich für die Rechte der internen Vertriebenen einsetzt und sie bei Behördengängen, aber auch ganz praktisch mit Lebensmitteln, Kleidern und einer Unterkunft unterstützt. „Oft werden intern Vertriebene in ihrem neuen Umfeld mit Argwohn betrachtet und ausgestoßen, was ihre Lage zusätzlich erschwert“, erläutert Karen Valladares. Binnenflucht bedeutet, dass der Kontakt zum gewohnten Umfeld abbricht, der Bildungsprozess oft für lange Zeit unterbrochen wird und, dass Kinder und Erwachsene dringend psychologische Unterstützung benötigen, um ihre Traumata zu behandeln.

Sofía wohnt jetzt in einem Stadtviertel Tegucigalpas mit einer hohen Kriminalitätsrate. „Wir sind hier praktisch gefangen. Als ich zum ersten Mal die Sonderstaatsanwaltschaft für Kinder und Jugendliche suchte, verirrte ich mich, aber ich gab nie auf. Besonders als klar wurde, dass meine Tochter schwanger war. Durch die Kinderschutzbehörde wurde sie gegen meinen Willen in ein Heim eingewiesen, als ich dort die Vergewaltigung anzeigte. Sechs Wochen lang wusste ich nicht, wo sie war. Als das Baby auf die Welt kam, sah ich sie im Krankenhaus wieder. Aber erst nach der Festnahme des Bürgermeisters wurde sie aus dem Kinderheim entlassen, mit der Auflage, das Haus nicht zu verlassen.“

Nach einigen Tagen in einer Militärbasis kam der Bürgermeister jedoch auf Kaution frei. Seine Komplizin, Sofías Bekannte, ist wegen Menschenhandels noch im Gefängnis, denn sie soll Geld für Sofías Tochter erhalten haben. Sofía glaubt, dass drei weitere Mädchen aus ihrem Dorf Opfer des Bürgermeisters wurden, ihre Eltern jedoch aus Furcht schweigen – oder Geld erhalten. Sofía erzählt, dass auch ihr ein Unbekannter Geld für ein neues Haus angeboten habe, um im Gegenzug die Anzeige zurückzuziehen. Das habe sie abgelehnt.

Sofías Mut ist groß, reicht jedoch für die Rückkehr in ihr Dorf nicht aus. Die Gefahr, dass sie oder ihre Familie erneut Gewalt erfahren, ist zu groß. Ihr Haus verfällt, das Feld ist schon verdorrt. Jetzt lebt die Familie vom bescheidenen Gehalt von Sofías Partner und der Hilfe einiger Angehöriger. In der Zukunft möchte die 41-Jährige zu Hause Tortillas und Mittagessen verkaufen und ihrer Tochter eine Lehre als Kosmetikerin ermöglichen.

Kathryn Lo, Repräsentantin des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen in Honduras, ist nicht überrascht, dass die Binnengeflüchteten in erster Linie Hilfe bei ihren Familien suchen. „Viele sind auch nach der Flucht im Inland in Gefahr und wollen möglichst unsichtbar bleiben. Sie sind traumatisiert von Gewalt und brauchen Zeit und Unterstützung für einen Neuanfang.“

Dabei soll den Betroffenen das „Gesetz zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten“ helfen. Dieses wurde bereits im Dezember 2022 vom Nationalkongress verabschiedet und befindet sich jetzt in der Umsetzungsphase. In einem breit angelegten Konsultationsprozess arbeiten 28 staatliche Stellen mit der Zivilgesellschaft zusammen, um die Gewalt, die der Hauptgrund der Binnenflucht ist, zu bekämpfen. Der Schutz und die Betreuung von Opfern ist ein weiteres Ziel. Eine riesige Aufgabe, denn Honduras gehört trotz einer signifikanten Verringerung der Mordrate noch immer zu den gefährlichsten Ländern Lateinamerikas. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen zählte zwischen 2004 und 2018 über 247.000 Binnenvertriebene in Honduras. Das entspricht fast fünf Prozent aller Haushalte.

Familien, die wegen der Bandengewalt fliehen müssen, hinterlassen Stadtbezirke, in denen leere Häuser und geschlossene Geschäfte das Straßenbild prägen. Die wenigen Bewohner*innen sind Alte und Kinder, ständig beobachtet von jungen Spähern der Gangs, die an strategischen Stellen sitzen und per Handy alles melden, was auf den Straßen passiert. Die leerstehenden Häuser werden von den Kriminellen besetzt und im schlimmsten Fall als casas locas (verrückte Häuser) benutzt, in denen die Banden foltern und morden. Die Polizei beschränkt sich darauf die Fälle in den Medien öffentlich zu machen. Strafverfolgung gibt es praktisch nicht. Schließlich leben viele Polizist*innen selbst in Gegenden mit Gang-Präsenz. Kinder ab 10 Jahren sind in Gefahr schleichend in Banden rekrutiert zu werden und junge Erwachsene aus diesen Stadtbezirken bekommen oft keine Arbeit, weil sie wegen ihres Wohnorts stigmatisiert sind. Ein Teufelskreis, aus dem oft nur die Flucht hilft.

Im Rahmen des 81 Artikel umfassenden Gesetzes wurde das Nationale Auffangsystem für Binnenflucht gebildet. Es soll sicherstellen, dass die Betroffenen einen rechtlich abgesicherten Weg finden, um Schutz und Unterstützung durch den honduranischen Staat zu erhalten. Binnenvertriebene haben explizit das Recht auf Vorzugsbehandlung in Bereichen wie Gesundheit, Bildung, Unterkunft und Arbeit sowie auf die Rückgabe ihres Eigentums und die Verlängerung von Kreditlaufzeiten. Das Auffangsystem verfügt laut Gesetz über ein jährliches Budget von umgerechnet sechs Millionen Euro. Bisher wurde jedoch kein Cent davon ausgegeben. Wie so oft fehlt es am politischen Willen.

„Leider lässt der Staat bisher seine Bürger allein, das Gesetz muss dringend umgesetzt werden“, bringt es Clarissa Caballero auf den Punkt. Sie ist Anwältin und Sachbearbeiterin für intern Vertriebene von Conadeh, der staatlichen Menschrechtskommission von Honduras. „Allein 2021 erhielten wir 917 Anzeigen wegen interner Vertreibung, welche 2.529 Personen betraf. Viele von ihnen stammen aus Gebieten mit hoher Banden-Präsenz. Mithilfe von Nichtregierungsorganisationen und den Vereinten Nationen helfen wir ihnen mit einer temporären Unterkunft, Jobs und juristischer Beratung.“

Sofía Sánchez kennt den Prozess um das neue Gesetz nicht. Sie glaubt aber, dass der Staat die Aufgabe hat, vertriebene Personen wie sie zu schützen und ihnen zu helfen, ein neues Leben in Honduras zu beginnen. Illegal Honduras zu verlassen ist bisher keine Option für sie, aber sie kann sich vorstellen, im Ausland Asyl zu beantragen. „Die Perspektivlosigkeit der Binnengeflüchteten und die komplizierten Prozesse führen dazu, dass ein Teil von ihnen die Hoffnung verliert und illegal emigriert“, fasst Karen Valladares von Cristosal Honduras zusammen.

Sind Binnengeflüchtete Kandidat*innen für Asyl im Ausland? Ja, sagt Clarissa Caballero von Conadeh, die Gewaltopfer beim Asylgesuch in Ländern wie Guatemala, Mexiko und den USA begleitet und Notpässe beantragt. Mittlerweile ist Honduras das Land mit den meisten Asylsuchenden in Mexiko, über 40.000. Der Vorteil dabei ist, dass sie während des Verfahrens nicht ausgewiesen werden können. Das Ziel der meisten bleiben die USA.

Die Gewalt ist in Honduras auf kriegsähnlichem Niveau. Mädchen, Frauen, Familien in Gebieten unter der Kontrolle von kriminellen Banden, Menschenrechtsaktivist*innen und Journalist*innen leben besonders gefährlich. Die Dynamik der Flucht vor der Gewalt – sei es im Inland oder ins Ausland – ist unaufhaltsam. Die Umsetzung des Gesetzes zur Prävention, Betreuung und Schutz der Binnengeflüchteten wird ein wichtiger Schritt sein, um Tausenden von Gewaltopfern eine Perspektive in Honduras zu geben und zu zeigen, dass sich der Staat um die Menschenwürde seiner verletzlichsten Bürger*innen sorgt.

Ein Fall zivilen Ungehorsams

Foto: privat

Am letzten Tag des alten Jahres 2023 starb der nicaraguanische Soziologe Jose Luis Rocha mit 57 Jahren völlig überraschend in einem Krankenhaus in Guatemala-Stadt. Warum er so vorzeitig mitten aus einem erfüllten und höchst kreativen Leben gerissen wurde, ist sicher auch auf die extremen Belastungen seines erzwungenen Exils in Guatemala zurückzuführen.

Nach seiner Parteinahme für die Protestbewegung vom April 2018 gegen das autoritäre Regime von Daniel Ortega lebte Jose Luis zunächst weiter in Managua. Als seine Situation 2022 immer bedrohlicher wurde, verschaffte ihm ein Stipendium der Heinrich-Böll-Stiftung in Deutschland eine Atempause. Er konnte im Böll-Haus arbeiten, einer Zufluchtsstätte für verfolgte Autor*innen und Künstler*innen. Im Frühjahr 2023 kehrte er zu seiner Familie in Managua zurück. Doch nach einem Arbeitsaufenthalt in Guatemala Anfang Juni erging es ihm wie vielen anderen Oppositionellen: Am Schalter des Flughafens musste er erfahren, dass er aus seinem Land ausgesperrt war.

Damit war er auf unbestimmte Zeit den Belastungen eines Exilanten ausgesetzt: der Trennung von seiner Familie, dem Hickhack um seinen Aufenthaltsstatus, dem Arbeitsdruck eines Intellekuellen, der zwar international hoch angesehen war, aber keine Aussicht auf eine feste Anstellung hatte. Ein weiterer Schlag folgte mit der behördlichen Schließung der Zentralamerika­nischen Universität UCA in Managua im Juli 2023, wodurch seine Frau ihre leitende Stellung dort verlor und sich ebenfalls ins Ausland retten musste.

Jose Luis hatte sich nach seinem Universitätsstudium zunächst für die Ausbildung zum Priester entschieden. Er trat dem Jesuitenorden bei und wirkte viele Jahre als Seelsorger in Honduras. Später legte er die Priesterwürde nieder und entschied sich für die sozialwissenschaftliche Forschungsarbeit an der UCA in Managua. Dort war er an der Gründung des Flüchtlingsdienstes des Jesuitenordens für Zentralamerika beteiligt, und eines seiner wichtigsten Arbeitsgebiete wurde die Migrationsforschung. Den Exodus der Zentralamerikaner in die USA interpretierte er in einer umfassenden Untersuchung mit einem höchst originellen Ansatz als „zivilen Ungehorsam“. Diese Arbeit wurde 2016 von der Philipps-Universität in Marburg für die Promotion im Fach Soziologie angenommen und erschien als Buch mit dem spanischen Titel La Desobediencia de las Masas (Der Ungehorsam der Massen). Seine bekannte Studie zur Politisierung der nicaraguanischen Jugend im Vorfeld der Protestbewegung von 2018 und die Darstellung der grausamen Repression, die auf den Protest folgte, konnten 2019 und 2021 nur noch in Guatemala veröffentlicht werden.

Es gibt eine lange Liste von akademischen Ehrungen sowie eine unübersehbare Menge von Artikeln in allen einschlägigen Zeitschriften der Wissenschaft und Politik. Er hat dazu beigetragen, dass Nicaragua trotz seines Absturzes in die Tyrannei ein Thema in Amerika und Europa geblieben ist.

Mit Jose Luis Rocha verliert Nicaragua einen unabhängigen Denker. Wenn es eines Tages an den Neuaufbau des Landes geht, werden hochbegabte und unbestechliche Intellektuelle wie er schmerzlich fehlen.

Einfacher Zugang zu schwerem Stoff

Lobby für Geschichtsrelativierung Dank dieser Herren erwarten Diktaturverbrecher in Chile oft nur milde Strafen (Bild aus Anticristo)

Bis heute ist die Vergangenheit der Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre in Südamerika keinesfalls passé. So auch die zivil-militärische Diktatur in Chile zwischen 1973 und 1990: Viele Verbrechen, die in dieser Zeit begangen wurden, bleiben bis heute straflos. Der chilenische Zeichner Javier Rodríguez stellt in seinem Werk Anticristo heraus, wie unfassbar und verstörend es ist, dass viele Täter bis heute unbehelligt bleiben oder mit milden Strafen davonkommen. „Mit einem verzerrten und relativierenden Menschenrechts- und Geschichtsverständnis sowie unablässiger Lobbyarbeit im Kongress haben militärnahe Interessensgruppen versucht, es vielen der für Verbrechen gegen die Menschlichkeit inhaftierten Terroristen zu ermöglichen, ihre Strafe im Pflegeheim, im Krankenhaus und sogar bei sich zuhause zu verbüßen“, berichtet Rodríguez.

Die Aufarbeitung bleibt schwierig, denn die heutigen Gesellschaften sind nach wie vor gespalten. Filme und literarische Werke haben sich den schmerzlichen Geschichtskapiteln angenommen, manche fiktional, andere dokumentarisch. Auch in Comics machen sich Autor*innen und Zeichner*innen seit einigen Jahren erfolgreich daran, die Erinnerung an die Menschenrechtsverbrechen der Militärdiktaturen aufrecht zu erhalten.

Von Menschen, die sich damals nicht den Zuständen beugten, handelt die chilenische Graphic Novel Historias clandestinas. Was bedeutete es vor und nach dem Putsch 1973 gegen Allende, das eigene Leben für das Projekt eines anderen, gerechteren Chile zu riskieren? Um diese Frage dreht sich der Comic, der von den Geschwistern Sol und Ariel Rojas geschrieben und gezeichnet wurde. Sie schildern eindrucksvoll, wie sie als Schulkinder nach außen hin einer ganz normalen Familie anzugehören schienen – während ihre Eltern unter dem Schuppen im Garten verfolgte Mitstreiter*innen versteckten und Flugblätter und linke Schriften herstellten. Auf der Comicmesse 2023 in San Diego erzählt Ariel Rojas: „In dieser Graphic Novel sind wir beides: Autor*innen und Protagonist*innen unserer eigenen Geschichte. Und darum hat diese nichts von Fantasy, von Hollywood. Nichts von einer kühlen akademischen Intellektualisierung. Es ist die wahre Geschichte einer Familie, die während Pinochets Diktatur im Untergrund lebte, in einem sogenannten sicheren Haus, zehn Jahre lang.“ Das Haus habe Normalität vorgetäuscht. Für die Familienmitglieder habe das bedeutet, von vielen Dingen nichts mitzubekommen – aus Sicherheitsgründen. „Unsere individuellen oder persönlichen Erfahrungen sind wie eine Blaupause für die politischen und historischen Ereignisse in Chile und Lateinamerika in der Zeit der Militärdiktaturen. Unsere Erlebnisse und Stimmen stehen für tausende von Chilen*innen und Lateinamerikaner*innen.“

Die Perspektive von Kindern, die zwischen 1976 und 1983 in Argentinien Opfer der Militärdiktatur wurden, vermittelt der dokumentarische Comicband La niña comunista, el niño guerrillero von María Giuffra. Damit keine Zweifel aufkommen, steht „100 % Testimonial“ („100 Prozent Zeugenaussage“) im Untertitel des Bandes. Er versammelt erschütternde Berichte von zehn Interviewpartner*innen, die noch Kinder waren, als die Militärs Gräueltaten an ihren Familien verübten. „Ich erinnere mich, dass mir eine Flüssigkeit ins Gesicht spritzte, aber ich erinnere mich nicht, ob der Schuss ins Bein mir wehtat. Mein Gesicht blieb auf das Kinderbett vor mir gerichtet, ich sah Marcela und Adolfo schreien und heulen. Dann: ein Poltern gegen die Tür und hineinstürmten … ‚Soldaten‘, so dachte ich“, erzählt eine Zeitzeugin darin, sie war die Älteste von mehreren Geschwistern.

Unkommentiert dokumentiert Giuffra das Erlebte und findet in einer freien, drastischen wie poetischen Bildsprache in schwarz-weiß eine Form der Darstellung des Grauens. Doch auch letzte schöne Erinnerungen an die früh verlorenen Eltern hält der Comicband fest, denn sie sind essenziell für die Identität der Betroffenen. Viele Kinder von Desaparecidos – den gewaltsam Verschwundengelassenen – wurden zur Erziehung in Familien von Militärs gegeben.

Viele Oppositionelle wurden im Geheimgefängnis in der Marineschule ESMA in Buenos Aires gefoltert und ermordet. Juan Carrá und Iñaki Echeverría versuchen mit ihrer gleichnamigen Graphic Novel ESMA der jüngeren Generation die Geschehnisse der argentinischen Diktatur zu vermitteln. Dieser Comic wird in argentinischen Schulen im Unterricht verwendet.
Was Comics für die Vermittlung komplexer historischer Ereignisse so stark macht, liegt im Vorführen von dokumentarischem Material, persönlichen Erfahrungen und Alltagsgeschichten, die durch die visuelle Komponente anschaulich werden. Die realitätsnahen Figuren oder historischen Persönlichkeiten, die in den Zeichnungen lebendig werden, ermöglichen den Lesenden einen leichten Zugang zu den meist schweren Stoffen. So auch bei dem Comic ¡Ese maldito Allende! von Olivier Bras und Jorge González, das sich mit der chilenischen Militärdiktatur befasst und im Original auf Französisch erschien. Ein Einblick, Santiago de Chile im Jahr 2000: Victoria, französische Journalistin und Olivier, Exilchilene der zweiten Generation sowie Ich-Erzähler, nehmen ein Taxi. Beim Small Talk mit dem Fahrer Eduardo stellt sich heraus, dass seine Passagiere nicht als gewöhnliche Urlauber*innen im Land sind, sondern aus Interesse an Geschichtsaufarbeitung. Ihr Fazit: „Wir konnten spüren, dass das Thema noch immer das Land spaltet. Bei den Opfern des Putsches bleiben offene Wunden.“ Der Fahrer zögert, bevor er erwidert: „Nicht nur bei den Opfern.“ Er vertraut ihnen an, dass er 1973 gerade seinen Wehrdienst machte, als es zum Putsch kam. Er war Krankenwagenfahrer und musste Leichen zum Mapocho-Fluss bringen. „Es waren Männer, Frauen, Kinder. Viele Leichen wurden nie gefunden. Die Angehörigen haben nie erfahren, was mit ihnen passiert ist“. Die Ampel ist rot. Ein Bild bleibt weiß. Es wird grün, doch das Auto fährt nicht. Eduardo weint am Steuer. „Die Toten verfolgen mich. Ich lebe mit der Angst, irgendwann für das alles belangt zu werden. Aber ich musste es unbedingt einmal jemandem sagen.“

Die Szene geht unter die Haut. Sie zeigt auch, dass das Erinnern kollektiver Traumata wie den Militärdiktaturen Südamerikas ein heikles Thema ist. Gerade daher gehört die Beschäftigung mit memoria histórica – dem historischen Gedächtnis – und Menschenrechten in Chile inzwischen landesweit zum Schullehrplan.

Rodrigo Elgueta ist Kunstlehrer, Comiczeichner und jemand, der genau dafür in chilenische Schulen eingeladen wird. Im Interview mit npla erzählt er: „Die Lehrer*innen leisten wichtige Arbeit, was die Vermittlung unseres historischen Gedächtnisses angeht.“ Die Lehrkräfte brächten den Kindern bei, wie wichtig es ist, über die entscheidenden Momente der chilenischen Geschichte Bescheid zu wissen. Graphic Novels als zugängliche Lehrmittel spielten dabei eine wichtige Rolle, meint Elgueta, „denn den Lehrenden ist klar, dass es an ihnen hängt, eine Brücke von den Ereignissen von vor drei bis fünf Jahrzehnten für die heutige Generation zu schlagen, die von den eigenen Eltern oft nichts davon erfährt.“
Denn je mehr Zeit vergeht, desto weniger verankert ist das Wissen über die sozialistische Regierung Salvador Allendes und den Putsch 1973 in der Bevölkerung. Gemeinsam mit dem Comicautor Carlos Reyes schuf Rodrigo Elgueta die Graphic Novel Los años de Allende über die Ereignisse Anfang der 1970er Jahre in Chile (Die Jahre von Allende). Sie erzählen aus Sicht des US-amerikanischen Journalisten John und seiner chilenischen Freundin Claudia. Farblich ist der Comic in schwarz-weiß gehalten, mit Graustufen. Die Zeichnungen sind realistisch, sie greifen Pressefotos und Filmmaterial auf. Das Buch steht als einzige Graphic Novel auf der Liste der empfohlenen Schullektüren, freut sich Elgueta. Ob sie im Unterricht tatsächlich genutzt werde, sei jedoch sehr abhängig von der jeweiligen Lehrkraft.

Eine weitere Graphic Novel zum Putsch 1973 und den Folgen ist El Golpe von Nicolás Cruz und Quique Palomo. Sie beginnt mit Szenen der studentischen Proteste in Santiago 2011, auf die mit brutaler Polizeigewalt reagiert wurde. Über die Konfrontation der jungen Chilen*innen mit der Elterngeneration, die sie für die Misere verantwortlich machen und denen sie Konformismus vorwerfen, schlagen die Autoren eine Brücke zu den Erlebnissen der Eltern in den 1970er Jahren. Cruz und Palomo arbeiten ebenfalls mit Zeichnungen in Graustufen und bringen Originalzitate und historisches Material, wie collageartig in die Bilder eingearbeitete politische Plakate und Fotos. Allerdings: El Golpe hebt den Aktivismus hervor, den gesellschaftlicher Wandel braucht – damals wie heute. Dass solche Erfahrungen im Medium Comic Ausdruck finden und diese in der Bildungsarbeit aufgegriffen werden, ist eine positive Entwicklung. Denn nicht zuletzt ist Aufklärung extrem wichtig, um den aktuellen ultrarechten Tendenzen mit ihrer Geschichtsverzerrung entgegenwirken zu können.

Reizvoller Querschnitt

Yo vi tres luces negras (Kolumbien) (Foto: Natalia Burbano / Contravía Films)

Brasilien kehrt zurück: Das ist eine der guten Nachrichten beim Blick auf das Programm der lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2024. Nachdem die Regierung Bolsonaro mit der Abschaffung der staatlichen Filmförderung für einen cineastischen Kahlschlag gesorgt hatte, läuft die zusammen mit Mexiko größte Filmindustrie in Lateinamerika nun langsam wieder an. Ein Zeichen dafür sind gleich drei Filme in den wichtigen Festival-Sektionen Encounters und Panorama. Besonders gespannt darf man auf Cidade; Campo (Stadt; Land), den neuen Beitrag der renommierten Regisseurin Juliana Rojas (Good manners) sein, der sich mit Migrationsgeschichten vom Land in die Stadt und umgekehrt beschäftigt. Auch in Betânia wagt eine Hebamme nach 65 Jahren einen Wohnortwechsel von ihrem Dorf in die Nähe der spektakulären Sanddünen Lençois Maranhenses. Die Komödie Dormir de olhos abertos (Mit offenen Augen schlafen) ist eine deutsch-brasilianisch-argentinisch-taiwanesische Co-Produktion, die in einer chinesischen Exil-Community in Recife spielt.

Im Wettbewerb der Berlinale ist Brasilien noch nicht wieder vertreten. Dafür wurde dort schon zum dritten Mal ein Film des mexikanischen Regisseurs Alonso Ruizpalacios ausgewählt, dessen vorherige Filme jeweils einen Silbernen Bären gewinnen konnten. La Cocina (Die Küche) beobachtet die Geschehnisse in einem Restaurant in New York, das illegale Migrant*innen beschäftigt. In der Hauptrolle ist US-Schauspielerin Rooney Mara zu sehen. Mit einer skurrilen Story wartet Pepe, der Wettbewerbsbeitrag des dominikanischen Regisseurs Nelson Carlos de los Santos Arias, auf: Dort fungiert eines der Flusspferde aus dem Privatzoo des kolumbianischen Drogenbarons Pablo Escobar als filmischer Erzähler und berichtet aus seinem Leben. Zudem ist im Wettbewerb auch noch der mexikanische Superstar Gael García Bernal vertreten: Er ist der Protagonist in der italienischen Dystopie Another End.

Reas (Argentinien) (Foto: Gema Films)

Ein weiterer Film, auf den man gespannt sein darf, ist das neueste Werk des argentinischen Regisseurs Matias Piñeiro, der für seine cleveren, oft literarisch inspirierten Drehbücher bekannt ist. Tú me abrasas (Du umarmst mich, Sektion Encounters) interpretiert locker und modern einen Text über das Leben der antiken griechischen Dichterin Sappho. Und auch der kolumbianische Beitrag Yo vi tres luces negras (Ich sah drei schwarze Lichter, Sektion Panorama) könnte beachtenswert sein. Dort geht ein Mann auf der Suche nach einem friedlichen Tod in den Dschungel, wird jedoch von illegalen bewaffneten Gruppen gestört.

In den vergangenen Jahren lohnte es sich in besonderem Maße, ein Auge auf die lateinamerikanischen Filme in der Berlinale-Jugendfilmsektion Generation zu werfen. Alleine in den letzten beiden Jahren konnten Produktionen aus Mexiko, Kolumbien und Brasilien hier vier wichtige Preise gewinnen. Und auch 2024 sind wieder mindestens sieben Beiträge aus Lateinamerika am Start. Insgesamt zeigt die Auswahl dieses Jahr ein thematisch und auch geografisch breit gefächertes Bild: Die bislang 24 bestätigten Filme aus Lateinamerika kommen aus neun verschiedenen Ländern. Von der Hollywoodproduktion bis zum künstlerischen Independentstreifen sollte hier für alle Fans des Cine Latino etwas dabei sein.

Lyrik aus Lateinamerika

Una curva peligrosa

Vivo enfrente de una curva peligrosa,
la gente se pone nerviosa porque los autos son grandes y nadie sabe muy bien quién es
y qué merece.

Por ahí caminaban dos hombres, hablando,
sus manos sueltas, colgadas hacia ellos mismos.
Los imaginé tomados de las manos,
todo se veía diferente.

Qué frágil la distancia entre esos hombres que ahora están enamorados
y la forma en la que esa curva podría atropellarnos a todos,

o peor aún,

atropellar al recuerdo de ti girando hacia los dos lados de la calle,
entrando sin llave a esta casa donde se teje sin herramientas para unir la nada,
donde los pájaros solo pasan una vez al día,
sin entrar, sin quedarse.

Un recuerdo tan estable como el cemento que sostiene esta casa a punto de caer,
y como el amor entre estos dos hombres que acaban de bifurcar en direcciones contrarias.

Eine gefährliche Kurve

Ich lebe an einer gefährlichen Kurve,
die Menschen werden nervös, weil die Autos groß sind und niemand so wirklich weiß, wer darin ist und was sie verdienen.

Dort entlang gingen zwei Männer, redend, ihre Hände lose neben ihren Körpern hängend, zueinander gerichtet.
Ich stellte mir vor, wie sie Händchen halten,
alles sah anders aus.

Wie zerbrechlich ist der Abstand zwischen diesen beiden Männern, die jetzt verliebt sind,
und die Art und Weise, wie diese Kurve uns alle umwerfen könnte,

oder noch schlimmer,

die Erinnerung an dich umwerfen könnte, wie du dich umdrehst in beide Richtungen der Straße,
ohne Schlüssel in das Haus trittst, wo man ohne Werkzeuge strickt, um das Nichts zu vereinen,
wo die Vögel nur einmal am Tag vorbeikommen,
ohne einzutreten, ohne zu bleiben.

Eine Erinnerung, die so stabil ist, wie der Zement, der dieses Haus am Rande des Einsturzes hält,
und wie die Liebe zwischen diesen beiden Männern, die gerade in entgegengesetzte Richtungen abgebogen sind.

Editorial für LN 594

Keine zwei Jahre ist es her, dass unser Editorial die Überschrift “Es herrscht Krieg” trug. Zu dem Krieg in der Ukraine, auf den wir in der April-Ausgabe 2022 Bezug nahmen, ist vergangenen Monat nun eine weitere militärische Eskalation hinzugekommen, die hier, in Lateinamerika sowie weltweit heftige Wellen schlägt: Auf das brutale Massaker mit 1.200 israelischen Opfern sowie die Entführung von mindestens 239 Zivilist*innen durch die radikal-islamistische Hamas, folgte eine erneute Bombardierung des abgeriegelten Gaza-Streifens durch die israelischen Streitkräfte. Die Zahlen sind erschreckend: Die massive Bombardierung Gazas tötete über 10.000 Menschen, fast die Hälfte davon Kinder.

Als Lateinamerika Nachrichten stehen wir in Solidarität mit allen Opfern dieses Krieges und jenen, die sich für Frieden einsetzen. Es muss einen Waffenstillstand geben, die Bombardierung von Zivilist*innen muss aufhören, und eine langfristige politische Lösung muss gefunden werden.

In Deutschland ist die Diskussion um die aktuelle humanitäre Katastrophe in Gaza und den Konflikt von Uneinigkeit und teilweise verhärteten Perspektiven geprägt. Auch in unserer Redaktion haben wir das Thema viel und stark diskutiert.

Es gibt einen klaren Anstieg antisemitischer Angriffe auf Jüd*innen in Deutschland: In den ersten zehn Tagen nach dem 7. Oktober wurden 204 antisemitische Übergriffe registriert, Mitte Oktober gab es einen versuchten Brandanschlag auf eine Berliner Synagoge. Mehrere Berliner Häuser wurden mit Davidsternen beschmiert. Seit der Eskalation ist die Gefahr für jüdisches Leben in Deutschland alarmierend gestiegen: Angriffe auf Jüd*innen und antisemitische Hetze sind nicht zu tolerieren, jüdisches Leben in Deutschland und überall auf der Welt muss geschützt werden.

Der weitere Rechtsruck in der deutschen Migrationsdebatte und die zunehmende Repression gegenüber Migrant*innen, die sich politisch organisieren und mit einer kritischen Perspektive gegenüber der israelischen Regierung auf die Straße gehen, ist inakzeptabel. Das systematische Verbot von Solidaritätsbekundungen und Demos sowie Mahnwachen für die Opfer der Bombardierungen in Gaza seitens der Berliner Polizei in den ersten Wochen nach dem 7. Oktober verstärken den Eindruck, dass kritische Stimmen kriminalisiert werden. 100 jüdische Intellektuelle in Deutschland verurteilten dieses Vorgehen in einem in der taz veröffentlichten Brief: „Als Jüdinnen und Juden lehnen wir diesen Vorwand für rassistische Gewalt ab und bekunden unsere volle Solidarität mit unseren arabischen, muslimischen und insbesondere palästinensischen Nachbarn. Wir weigern uns, in vorurteilsbehafteter Angst zu leben.”

Ein differenzierter Diskurs muss möglich sein. Jüd*innen dürfen nicht für das Handeln des israelischen Staates verantwortlich gemacht werden. Gleichzeitig müssen kritische Stimmen an den Kriegshandlungen der israelischen Armee gehört werden und es muss möglich sein, sich mit der palästinensischen Zivilgesellschaft zu solidarisieren, die von diesen Angriffen getroffen wird.

Antisemitismus von einigen Politiker*innen und Medien derzeit häufig als primär migrantisches Problem dargestellt. Während rassistisch behaftete Integrationsdebatten wieder auf der Tagesordnung stehen, erleben wir in Deutschland einen immer weiter fortschreitenden Rechtsruck. Die AfD fliegt von Wahlerfolg zu Wahlerfolg und Bundeskanzler Scholz möchte „endlich im großen Stil abschieben“. Auch wenn die schrittweise Verschiebung der Migrationspolitik in Richtung der Vorstellungen von Weidel und Co. keine neue Tendenz ist, so ist es doch erschreckend und zynisch, wenn palästinasolidarische Demonstrationen herangezogen werden, um diese zu legitimieren.

Der brutale Angriff der Hamas auf Israel muss ganz klar verurteilt werden. Doch die Hamas steht nicht stellvertretend für alle Araber*innen oder die Palästinenser*innen: Die Gleichsetzung der palästinensischen Bevölkerung mit den Aktionen und Gesinnung einer Terrororganisation auch nur anzudeuten, ist entmenschlichend.

Die Erfahrung zeigt, dass derartige politische Veränderungen oftmals zunächst anhand konkreter Ereignisse und in Bezug auf spezifische Gruppen eingeführt, später aber verfestigt und auf andere ausgeweitet werden, etwa durch eine weitere Restriktion von Migration oder ein repressiver werdendes Vorgehen der Polizei gegen Demonstrationsrechte.

Lateinamerikanische Regierungen haben sich anders positioniert: Bolivien hat die diplomatischen Beziehungen zu Israel gekappt. Auch die kolumbianischen und chilenischen Regierungen distanzierten sich von Israel und haben ihre Botschafter zurückgerufen. Argentinien und Mexiko verurteilten das Vorgehen des Staates. Bekannte soziale Bewegungen haben öffentlich ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk bekundet: Feministische Kollektive aus der gesamten Region, wie Lastesis aus Chile und Ni Una Menos aus Argentinien, unterschrieben eine gemeinsame Erklärung u. a. gegen die „kollektive Bestrafung“ des palästinensischen Volkes, einem Kriegsverbrechen nach der Genfer Konvention. Sie verurteilten ebenfalls die Gewalt der Hamas. Lateinamerikanische Kollektive in Berlin positionierten sich auch gegen die Kriegshandlungen der israelischen Regierung, wie etwa die Kollektive Bloque Latinoamericano und Perrxs del Futuro.

Wir als Linke in Deutschland können es nicht erlauben, dass unsere Mitmenschen von jüdischer, arabischer, muslimischer oder allgemein migrantischer Herkunft wegen der Verschiebung und Instrumentalisierung der Debatte unter Bedrohung und in Angst leben müssen. In diesem Gesamtszenario können wir uns nur behaupten, wenn wir unseren Zielsetzungen und unserem Tun dem allgegenwärtigen menschenverachtenden und nationalistischen Diskurs eine internationalistische, inklusive Perspektive entgegensetzen – unabhängig von Herkunft oder Religion und mit der notwendigen Sensibilität.

Anmerkung der Redaktion: Nicht alle Mitglieder der Lateinamerika Nachrichten teilen alle Positionen und Argumente der erwähnten Kollektive und politischen Akteure.

// Lateinamerika positioniert sich neu

Mit der Amtsübernahme des neoliberalen Fundamentalisten Milei erwartet Argentinien den Einsatz der „Motorsäge“. Aber auch geopolitisch wird gesägt. Zwei Tage nach dem Wahlsieg Mileis warnte die chinesische Regierung, die Beziehungen abzubrechen wäre ein „großer Fehler“. Milei hatte „keine Geschäfte mit China“ angekündigt, das sei „keine makroökonomische Tragödie“. Das chinesische Außenministerium wies nun darauf hin, dass die Volksrepublik die zweitgrößte Handelspartnerin Argentiniens sei. China hatte auch mit einem „Swap“-Abkommen ermöglicht, bilateralen Handel in Yuan und nicht in US-Dollar abzuwickeln. Das hilft, den Druck des IWF auf das in Dollar höchst verschuldete Land zu mildern.

Jetzt wurde schon vor der Regierungsübernahme ein weiterer Ast gekappt: Die künftige Außenministerin Mondino verkündete, das Land habe sich gegen eine Aufnahme in die BRICS entschieden. BRICS steht für eine Gemeinschaft wirtschaftlich aufstrebender Schwellenländer (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika), die ein Gegengewicht zur G7 des globalen Nordens bilden wollen. Noch auf dem Gipfel in Johannesburg im August hatte Argentinien sich in die Warteschlange der Länder des Globalen Südens eingereiht, die Mitglieder werden wollten. Und es hatte geklappt: Zum 1. Januar 2024 sollte Argentinien zusammen mit Ägypten, Äthiopien, Iran, Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Emiraten beitreten. Das ist jetzt vorbei. Die BRICS-Länder wollen ihre gegenseitige wirtschaftliche Entwicklung fördern, ihre Stimme in globalen Angelegenheiten stärken und die globale Finanzarchitektur und das Währungssystem reformieren, um es fairer zu gestalten.

Die Forderung nach einer fairen Weltwirtschaftsordnung ist nicht neu. Vor fast 50 Jahren, am 1. Mai 1974, verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Resolution, in der sich die Völkergemeinschaft zur Errichtung einer „Neuen Weltwirtschaftsordnung“ (NWWO) verpflichtete. Diese sollte den Ländern des Südens Souveränität über ihre Rohstoffe, faire Preise und Austauschbeziehungen, Kontrolle multinationaler Konzerne und Industrialisierung ihrer Länder ermöglichen. Die Hoffnungen haben sich weltweit nicht erfüllt. Mit der neoliberalen Globalisierung sind die globalen Abhängigkeiten größer geworden und soziale Ungleichheiten haben zugenommen. 200 Jahre nach der Unabhängigkeit und 50 Jahre nach NWWO hat sich an der Rolle Lateinamerikas als abhängiger Rohstoffproduzent wenig geändert.

Gleichwohl sind die übrigen Schwellenländer Lateinamerikas angetreten, sich geopolitisch neu zu positionieren. Allen voran Brasilien. Lula war mit einer der größten Delegationen zur COP 28 in Dubai angereist, um dort die Stimme des globalen Südens gegen den Klimawandel zu erheben. Seit dem 1. Dezember hat Brasilen den Vorsitz in der G20 inne. Brasilien bleibt engagiert in den BRICS und für deren Erweiterung um neue Mitglieder. Bei seinem Besuch in Berlin warb Lula nun auch noch für einem baldigen Abschluss des Freihandelsabkommens EU-Mercosur. Dieses war in über 20 Jahren bisher nicht zum Abschluss gekommen, gerade auch aufgrund des gewachsenen Selbstbewusstseins Lateinamerikas und der Sorge, dass es neokoloniale Abhängigkeiten reproduziert. Europa, insbesondere Deutschland, braucht Ressourcen aus Lateinamerika für die Aufrechterhaltung seiner industriellen Führungsrolle und die grüne Transformation seiner Industrie: „grüner“ Wasserstoff, Lithium für Autobatterien, Fachkräfte. Lula hingegen scheint die Erwartung zu haben, dass Beziehungen zu allen zumindest den Einfluss der ehemals einzigen Hegemonialmacht USA reduzieren. Dort wo Lula Brücken baut, will Milei nun sägen: Auch der Mercosur und Lulas Brasilien stehen auf seiner Liste.

Die Schöne und die Bestien

Strahlende Propagandashow Bukele bei der Miss Universe-Wahl im November (Fotos: Kellys Portillo für Alharaca)

Die ersten Kandidatinnen trafen am 1. November 2023 in El Salvador ein: Miss Kamerun, Miss Thailand, Miss Norwegen und Miss Panama. Von diesem Tag an beherrschte ihre Anwesenheit die Titelseiten aller salvadorianischen Zeitungen sowie die sozialen Medien. Miss Universe 2023 übernahm die Aufmerksamkeit des ganzen Landes.

Auf diese vier jungen Frauen folgten 84 weitere aus der ganzen Welt. Ihr Besuchsprogramm wurde von der nationalen Presse konstant verfolgt: Die Schönheitsköniginnen besuchten Maya-Ruinen, tanzten Cumbia im historischen Zentrum und feierten das Lieblingsprojekt der Krypto-Enthusiast*innen, das Stranddorf El Zonte, auch „Bitcoin Beach” genannt. Zu den Ausflügen hinzu kamen Abendessen in den teuersten Restaurants des Landes sowie Übernachtungen in verschiedenen Luxushotels. Es wurden Fotos einiger Misses mit „Nayib Bukele 2024“-Kappen in den sozialen Netzwerken sowie über Propagandamedien der Regierung gestreut: illegale Propaganda für den verfassungswidrigen Wiederwahlversuch des Präsidenten. Obwohl die salvadorianische Regierung die genauen Kosten für die Durchführung des Schönheitswettbewerbs nicht bekanntgegeben hat, gab die ehemalige Miss El Salvador, Milena Mayorga, die mittlerweile Botschafterin El Salvadors in den Vereinigten Staaten ist, in einem Interview an, dass sich die Kosten allein für die Durchführung der Veranstaltung auf über 100 Millionen Dollar belaufen.

Während die Miss-Universe-Kandidatinnen an den salvadorianischen Stränden Fotoshootings machten, erreichte eine schockierende Meldung aus den USA die Bevölkerung: Am 7. November wurde Élmer Canales, „Crook“, einer der führenden Köpfe der Mara Salvatrucha-13, an die Vereinigten Staaten ausgeliefert. In den Wochen des Schönheitswettbewerbs stand Canales in New York vor Gericht. Seine Aussage bestätigte, dass es einen Pakt zwischen den Gangs und der Bukele-Regierung gab. Der Zeitpunkt für eine ansonsten schwerwiegende Enthüllung über Korruption in der salvadorianischen Regierung war für Nayib Bukele perfekt: Das Hauptthema in der nationalen Öffentlichkeit blieb weiterhin Miss Universe. Das Finale am 18. November war der Höhepunkt der Euphorie. Die Karten für die Show kosteten 500 bis 2.000 Euro – in einem Land, in dem der Mindestlohn nicht einmal 400 Dollar beträgt. Während sich die Kandidatinnen auf die Show vorbereiteten, waren einige Kilometer entfernt wütende Schreie zu hören. Eine Demonstration war auf dem Weg zum Hotel Intercontinental, in dem die Misses untergebracht waren, um die Scheinwelt von Präsident Bukele zu durchbrechen. Der Protestzug, initiiert durch die Bewegung der Opfer des Regimes (MOVIR), versuchte, die internationale Presse zu erreichen, um auf die Menschenrechtsverletzungen im Land aufmerksam zu machen. Die Demonstrant*innen und sogar die Presse wurden von der Polizei blockiert.

2023 wie 1975: Fotoshootings auf der einen Seite, Repression auf der anderen

Diese Konfrontation wirkt wie ein Déjà-vu. Denn es ist nicht das erste Mal, dass Miss Universe in El Salvador stattfindet und auch nicht das erste Mal, dass dies im autoritären Kontext geschieht. Im Jahr 1975, inmitten der Militärdiktatur, gelang es der Regierung von El Salvador, den Wettbewerb in das Land zu holen. Die Veranstaltung war Teil einer Strategie zur Vermarktung El Salvadors als Reiseziel unter dem Slogan „Das Land des Lächelns“. Doch hinter dem Lächeln verbarg sich ein zutiefst ungleiches Land, das seit Jahrzehnten unter der Herrschaft einer Militärdiktatur mit wechselndem Führungspersonal stand. Die absolute Unterdrückung der Opposition und der sozialen Bewegungen verwandelte das Land in einen Druckkochtopf, der wenige Jahre später zum Bürgerkrieg führen sollte. Zwei Wochen nach dem Finale von Miss Universe 1975 ordnete der damalige Präsident, Oberst Arturo Armando Molina, eine gewaltsame Niederschlagung einer Demonstration von Studierenden an, die auf der Straße die Verwendung öffentlicher Mittel für den Schönheitswettbewerb kritisierten. Es wird geschätzt, dass Hunderte von Menschen starben oder von staatlichen Sicherheitskräften entführt, gefoltert und ermordet wurden. Die genaue Zahl ist jedoch unbekannt, da die Aufklärung des Falls ausblieb.

“Magisches” El Salvador Proteste gegen den Schönheitswettbewerb wurden von bewaffneten Sicherheitskräften blockiert

Wie damals versucht die aktuelle Regierung El Salvadors, die überwältigende Armut und Repression zu vertuschen. Seit März 2022, also seit fast zwei Jahren, herrscht Ausnahmezustand im Land. Der Ausnahmezustand, der eigentlich nur für 30 Tage gelten sollte, wurde bereits 20-mal verlängert. Im Rahmen der Offensive gegen Straßengangs haben die Polizei und das Militär über 70.000 Personen verhaftet: Zwei Prozent der salvadorianischen, erwachsenen Bevölkerung sitzen im Gefängnis. Seit März 2022 sind mindestens 180 Menschen in den überfüllten Gefängnissen gestorben, viele davon, ohne jemals vor Gericht gestellt zu werden. Die Rede von Nayib Bukele beim großen Finale des Schönheitswettbewerbs präsentierte allerdings ein ganz anderes Land: „Für alle, die in Freiheit leben wollen, können wir Botschafter werden und der Welt mitteilen, dass El Salvador der Ort ist, an dem man seine Träume leben kann”, feierte der salvadorianische Präsident.

Überraschende Krönung

Die Verkündung des Ergebnisses der Miss-Wahl am 18. November brachte für viele eine Überraschung: Die Krone ging an Miss Nicaragua, Sheynnis Palacios. Die erste zentralamerikanische Gewinnerin in der Geschichte des Wettbewerbs wurde in ihrer eigenen Region gekrönt. Der Sieg von Miss Nicaragua bedeutete die Rückkehr vieler Nicaraguaner*innen auf die Straßen, nach Jahren der Angst vor der verheerenden Repression durch den Regierungsapparat. Zum ersten Mal seit Jahren waren öffentliche Plätze und Straßen in Managua voll von euphorischen Menschen, die blau-weiße Fahnen schwenkten, welche im Jahr 2018 zum Symbol der Opposition gegen die Regierung Ortega geworden waren.

Das wiederum stellte ein Dilemma für den nicaraguanischen Präsidenten Daniel Ortega und die Vizepräsidentin Rosario Murillo dar: Auf der einen Seite war es vielleicht das erste Mal seit Jahren, dass Nicaragua einen wichtigen Platz in der internationalen Presse einnahm, ohne dass es sich um eine seiner vielen Repressionsmaßnahmen handelte. Allerdings ist Sheynnis Palacios keine genehme Miss-Universe-Gewinnerin für die Ortega-Murillo-Propaganda: In den Medien hat sie sich bei der nicaraguanischen Regierung nicht bedankt. Sie widmete den Preis ihrer Familie und der nicaraguanischen Bevölkerung und erwähnte das Regierungspaar dabei nicht einmal. Bei einer Pressekonferenz machte sie die Andeutung, dass ihr Land sich verändern werde, ohne dabei jedoch konkret auf die politische Situation Nicaraguas einzugehen. Minuten nach ihrer Krönung wurden außerdem in den sozialen Netzwerken Fotos der Schönheitskönigin auf Demonstrationen gegen die nicaraguanische Diktatur bei den Aufständen von 2018 massiv geteilt.

„Nicaragua feiert mit seiner Königin!”, erklärte die Regierung zunächst am Tag nach der Miss-Universe-Wahl in einem Statement, das allerdings weder von Ortega noch von Murillo unterschrieben wurde. Drei Tage später war die Stimmung in der Regierung deutlich weniger festlich. Rosario Murillo schrieb im von der Regierung kontrollierten Nachrichtenportal El 19 Digital, dass die „eitlen, verrückten Menschen”, womit die politische Opposition und die kritische Zivilbevölkerung gemeint waren, aufhören sollten „Schönheit, Freude und Talent” von Palacios zu missbrauchen. Zwei Wochen nach dem Gewinn wurde Karen Celebertti, Leiterin des Miss-Nicaragua-Wettbewerbs, am Flughafen in Managua der Eintritt in das Land verweigert. Das Haus der Familie von Martín Argüello Leiva, dem Ehemann von Celebertti, wurde durchsucht. Seit dem 27. November wird Argüello Leiva dort unter Polizeibewachung in Isolationshaft gehalten.

Wie viele Regierungen in der Vergangenheit haben zwei autoritäre zentralamerikanische Präsidenten versucht, die Miss-Universe-Wahl zu ihrem Vorteil zu nutzen. Für Bukele, der Umfragen zufolge den Rückhalt der Mehrheit der Bevölkerung genießt und dessen Beliebtheit weder durch Korruption noch durch Repression beeinträchtigt wurde, war die Veranstaltung ein Schub medialer Aufmerksamkeit und eine willkommene Ablenkung. Für Ortega bedeutete der Sieg einer nicaraguanischen Frau, die nicht regierungsnah zu sein scheint, ein symbolischer Schlag und ein weiterer Riss im staatlichen Sandinismus, während die Unzufriedenheit immer weiterwächst. Was beide autoritäre Regierungen gemeinsam haben: Eine mutige und widerständige Zivilgesellschaft, die sich trotz der Repression nicht komplett davon abhalten lässt, auf die Straßen zu gehen und für das eigene Land zu kämpfen.

Warten auf das Schockprogramm

„Es gibt kein Geld“ Javier Milei setzt auf neoliberalen Kahlschlag (Foto: Martin Ling)

„Machen Sie sich Sorgen, dass Milei die Motorsäge ansetzt?“ Die Antwort seines Rivalen Sergio Massa um die Präsidentschaft Argentiniens in einem Meme fiel lakonisch aus: „Mit welchem Benzin denn?“ Diese Frage stellte sich jedoch nur während der kurzzeitigen Versorgungskrise mit Benzin auf der Zielgeraden zur Stichwahl am 19. November. Inzwischen haben sich die Schlangen an den Tankstellen längst wieder gelichtet und es gibt wieder hoch subventioniertes Benzin für rund 30 Eurocent den Liter bei Super. Selbst der Liter Milch ist mit rund 35 Eurocent ein wenig teurer, bei den von der Mitte-links-Regierung vorgegebenen subventionierten Mindestkontingenten, mit denen die Grundversorgung der ärmeren Bevölkerung zu tragbaren Preisen gesichert werden soll. Kaufen kann diese Milch freilich jeder und jede, solange die Vorräte reichen. Auch die hoch subventionierten Strom-, Gas- und Wassertarife und der preisgünstige öffentliche Nahverkehr kommen bisher allen Argentinier*innen zu Gute. Den Ärmeren hilft das, mit der hohen Inflation von über 140 Prozent im Jahr 2023 halbwegs klarzukommen, wenn wenigstens ein Teil der Grundbedürfnisse vom Staat subventioniert wird. Und Arme gibt es in Argentinien mehr als genug: Laut der jüngsten Anfang Dezember veröffentlichten Erhebung des Observatorio de la Deuda Social (ODSA-UCA) der katholischen Universität von Buenos Aires leben mehr als 44,7 Prozent der Gesamtbevölkerung entlang oder unterhalb der Armutsgrenze – und unter den Kindern unter 17 Jahren sind es gar 62,9 Prozent.

An Benzin wird es Milei sicher nicht fehlen, um mit seiner „Motorsäge“, mit der er seine Strukturanpassungspolitik symbolisiert, an den Subventionen anzusetzen oder auch an den Ministerien, wo er im Wahlkampf getönt hatte, acht von 18 Ministerien zu streichen, nicht zuletzt progressive wie das Ministerium für Umwelt und nachhaltige Entwicklung oder das Ministerium für Frauen, Gender und Diversität. Wie radikal er seine Ankündigungen versuchen wird, umzusetzen, ist die offene Frage, auf deren Antwort die Argentinier*innen gespannt, aber bisher noch weitgehend gelassen, warten. Schließlich hat Milei sein Amt zum Redaktionsschluss noch gar nicht angetreten. Die Präsidentenschärpe bekam er erst am 10. Dezember – am Tag der Menschenrechte – umgelegt.

Am 11. Dezember 2023 wollte Milei dann loslegen. Einen seiner Vorsätze, der ihm viel Zuspruch gebracht hat, hat er schon gebrochen: Aufzuräumen mit dem politischen Establishment, mit der Kaste. Längst kursieren Memes mit „Die Kaste hat einen Job“, die Mileis Wahlkampfslogan „Die Kaste hat Angst“ verspotten. Und auch diese Memes beruhen auf Tatsachen: Milei hat bei der Bildung seines Kabinetts auf jede Menge etablierte Politiker*innen zurückgegriffen. So nominierte er als Sicherheitsministerin mit Patricia Bullrich seine Konkurrentin aus der ersten Runde der Präsidentschaftswahl. Die längst rechtsgewendete Bullrich war in den 1970er Jahren Mitglied der peronistischen Jugendbewegung, was Milei im Wahlkampf zum Anlass nahm, sie als Montonera-Mörderin, die Bomben in Kindergärten gelegt hätte, zu verunglimpfen. Die Montoneros waren eine linksperonistische Stadtguerilla. Es gibt bisher keinen Beleg, dass Bullrich da mitgemischt hätte, sie selbst dementiert den Vorwurf. Bomben in Kindergärten waren auch nicht der Ansatz der militanten Montoneros. Von der „Bombenlegerin“ zur Sicherheitsministerin ist ein steiler Aufstieg in der Wertschätzung des künftigen Präsidenten. Auch mit der Wahl des Wirtschaftsministers zeigte Milei, wie wenig ernst es ihm mit seinem angeblichen Ansinnen ist, mit dem politischen Establishment aufzuräumen. Seine Wahl fiel auf Luis Caputo, der genau wie Bullrich zur Kaste, aber entscheidender zur neoliberalen PRO-Partei von Expräsident Mauricio Macri (2015-2019) gehört. Der bekommt seine Unterstützung in der Stichwahl nun vergolten, indem Milei Macri-Parteigänger in wichtige Kabinettspositionen hievt.

Seit 2021 läuft eine Klage gegen den Exbanker von JP Morgan und Deutsche Bank, der in der Ära Macri zuerst Finanzminister und später kurz Chef der argentinischen Zentralbank war. Die Gerichte untersuchen, ob es unter seiner Führung im Finanzministerium bei dem 2018 beim IWF beantragten Rekordkredit über 57 Milliarden Dollar „betrügerische Verwaltung und Betrug an der öffentlichen Verwaltung“ gegeben habe. Eine interne Untersuchungskommission des IWF kam Ende 2021 zu dem Schluss, dass der Kredit gemessen an den eigenen, üblichen Vergabekriterien eine Fehlentscheidung gewesen sei. Dasselbe lässt sich über Caputos Wahl zum Finanzminister sagen.

An Benzin wird es Milei sicher nicht fehlen

Es war Caputo, der der Begleichung der illegitimen Schulden gegenüber den Geier-Investitionsfonds zustimmte, die im Stile von Geiern nach der Staatspleite 2002 auf dem Sekundärmarkt Schuldentitel zum Schrottwert von teils zehn Cent pro Dollar aufgekauft und dann nach US-amerikanischem Recht auf den vollen Nominalwert geklagt hatten: auf Renditeansprüche von teils mehr als 1.600 Prozent! Caputo stimmte der Begleichung der Schulden gegenüber den Geierfonds zu, um die Tür für internationale Kredite wieder zu öffnen und damit nichts anderes als einen neuen Verschuldungszyklus einzuleiten. Allein die neoliberale Regierung Macri hatte 2015 bis 2019 rund 100 Milliarden Dollar an neuen Auslandsschulden aufgenommen, die sich Ende 2022 auf 277 Milliarden Dollar beliefen. Und um den Staatshaushalt zu finanzieren, gab Caputo neue, über 100 Jahre laufende Staatsanleihen aus. Ausgerechnet Caputo soll nun die Staatsfinanzen sanieren, wie Milei es versprochen hat.

Stagflation ist das Schlimmste aller Wirtschaftsszenarien

Milei hat Anfang Dezember ein wenig konkreter gemacht, woran er ansetzen will. Sicher ist, dass die Abschaffung des argentinischen Pesos zugunsten des Dollars erstmal auf die lange Bank geschoben wird. Auch dafür bedürfte es als Voraussetzung hunderter Milliarden US-Dollars, die das Land nicht hat. „Es gibt kein Geld“, bringt es Milei, der erste Ökonom, der in Argentinien zum Präsidenten gewählt wurde, auf den Punkt.

Der ultrarechte Milei setzt offensichtlich auf die neoliberalen Rezepte aus dem Washington Consensus, den die US-Regierung, der Internationale Währungsfonds und die Weltbank Ende der 1980er Jahre den verschuldeten Ländern des Globalen Südens als Entwicklungsblaupause auferlegten: Privatisierung, Liberalisierung und Defizitreduzierung.

Zu Entwicklung im Sinne von Armutsbekämpfung und sozialem Ausgleich hat der Washington Consensus nirgendwo geführt, sondern stattdessen die Krisen verschärft, weshalb er inzwischen selbst von IWF und Co. nicht mehr offen propagiert wird. Milei hat dennoch vor, die Staatsausgaben massiv zu senken und beispielsweise das öffentliche Bauwesen auf Null herunterzufahren und ansonsten zu privatisieren, was zu privatisieren geht.

Direkt am Tag nach seinem Wahlsieg vom 19. November kündigte er die Privatisierung von Staatsbetrieben und dem öffentlichen Rundfunk an. „Alles, was in den Händen des privaten Sektors sein kann, wird in den Händen des privaten Sektors sein.“ Unter anderem will er den staatlichen Energiekonzern YPF, das öffentliche Fernsehen und Radio sowie die amtliche Nachrichtenagentur Télam privatisieren. Dass der Aktienkurs von YPF daraufhin um 43 Prozent in die Höhe schoss, kam nicht von ungefähr, der Konzern ist wertvolles Tafelsilber, das einst schon von Carlos Menem (1989-1999) an den spanischen Konzern Repsol verscherbelt und später von der Regierung Cristina Kirchner 2008 teuer rückverstaatlicht wurde. YPF verfügt über die Rohstoffe der Vaca Muerta (Tote Kuh), eine Region, die sich über die Provinzen Neuquén, Río Negro, La Pampa und Mendoza erstreckt. Dort befindet sich eines der weltweit größten Vorkommen von nicht-konventionellem Öl und Gas. Gefördert werden sie seit 2013 mit der aus Umweltgründen hoch umstrittenen Fracking-Methode. „Wenn Exportbeschränkungen, Kapitalkontrollen, Energiepreiskontrollen und Infrastrukturbeschränkungen vollständig aufgehoben werden, könnte Vaca Muerta bis 2030 zusätzliche 40 Prozent bei den Rohöl- und 30 Prozent bei den Erdgasvolumina produzieren“, schreiben die Analysten Ford Tanner und Pedro Martínez von der Kreditrating-Agentur S&P_Global Ratings. Die Gläubiger*innen sind sich sicher, dass sich in Argentinien somit weiter Schulden zu Lasten der Bevölkerung eintreiben lassen.

Milei hat auch in Aussicht gestellt, die staatlichen Subventionen für öffentliche Verkehrsmittel, Gas, Wasser und Strom zu kürzen. Wie tief die Einschnitte werden, lässt er noch offen. Direkte soziale Hilfen für die armen argentinischen Haushalte bekundete er inzwischen, will er nicht antasten. Rund 36 Prozent der argentinischen Haushalte sind auf irgendeine Art von Unterstützung vom Staat angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse decken zu können. 2010 lag die Zahl bei 24,4 Prozent. Ohne die Hilfsprogramme würden heute 49 Prozent der Bevölkerung in Argentinien arm sein, heißt es in dem ODSA-UCA Bericht.

Milei stellt den Argentinier*innen eine harte Zeit des Übergangs in Aussicht: „Es wird zu einer Stagflation kommen, denn die Umstrukturierung der Finanzen wird sich negativ auf die Wirtschaftstätigkeit auswirken.“ Stagflation ist das schlimmste aller denkbaren Wirtschaftsszenarien, die Preise steigen weiter, die Wirtschaftsleistung geht zurück und damit die Arbeitslosigkeit hoch, die derzeit offiziell nur bei gut sechs Prozent liegt.

„Wir werden uns gegen Milei wehren müssen“

Für ein wenig Entlastung könnte die Landwirtschaft sorgen. Nach der katastrophalen Dürre in der vergangenen Saison steht nun eine gute Ernte bei Soja, Mais und Weizen bevor, die Milliarden Dollar in die schwindsüchtigen Kassen spülen könnte. Doch viel mehr als ein Tropfen auf den heißen Stein wird es nicht sein, nachdem 2023 ein Einnahmenausfall von 20 Milliarden Dollar in der Agrarwirtschaft verzeichnet werden musste. Der Agrarsektor steht für rund zwei Drittel der Deviseneinnahmen, während die Petrochemie rund um das Fracking bisher nur auf zehn Prozent kommt. Auf diese beiden Säulen weiter zu setzen, ist einer der wenigen Punkte, in denen sich Massa und Milei einig waren, letzterer freilich will nicht nur dort die rohen Marktkräfte walten lassen.

„Wir werden uns gegen Milei wehren müssen“, sagt Dorián am Wahlabend sichtlich konsterniert, als Sergio Massa noch vor der Bekanntgabe des offiziellen Wahlergebnisses seine Niederlage eingesteht. Über 14,5 Millionen Argentinier*innen und damit 56 Prozent haben für den Wandel und somit für den ultrarechten Javier Milei votiert. Dorían und seine Freundin Alejandra gehörten nicht dazu. Sie gehören zu den vielen Millionen nicht reicher Argentinier*innen, die am stärksten unter der kommenden Strukturanpassung zu leiden haben werden.

Argentinien steht ein Experiment mit großen Risiken für den Zusammenhalt der Gesellschaft bevor. Milei, der sich selbst in seiner Siegesrede als liberal-libertär bezeichnete, wird die Motorsäge ansetzen. Wie radikal ist die Frage, denn im Parlament ist er selbst mit seinem Bündnispartner, der Macri-Partei PRO, weit von einer absoluten Mehrheit entfernt. Und die Straße weiß, was auf dem Spiel steht und wird sich melden. Wenn Milei seine Vorschläge der sozialen Kürzungen umsetzt, sind eskalierende Armut und soziale Proteste gleichermaßen sicher.

“Diese Verfassung ist schlimmer und gefährlich”

“Für meine Oma, für meine Mama, für meine Schwester” Feministischer Demonstrationszug am 8. März 2022 auf der Alameda in Santiago (Foto: Josefa Jiménez)

Die feministische Bewegung gehörte zu den ersten Akteur*innen, die sich gegen die neue Verfassung ausgesprochen haben. Warum? Was war der entscheidende Moment?
Wir haben von Anfang an kritisch auf bestimmte Aspekte hingewiesen. Zuerst einmal darauf, dass alle sozialen Bewegungen von diesem Ver­fassungs­­­prozess ausgeschlossen waren. Der Prozess wurde von jenen politischen Kräften getragen, die in den vergangenen 30 Jahren das neoliberale System verwaltet und während der sozialen Revolte breite Ablehnung erfahren haben. Er sah keine Geschlechter­parität vor, keine reservierten Sitze für Indigene. Er war in gewisser Weise das Gegenteil des ersten verfassung­gebenden Pro­zesses und eine fast schon strafende Antwort darauf. Das war das erste Alarmsignal. Zum zweiten Mal schlugen wir Alarm, als mit der Republikanischen Partei eine ultrarechte und neoliberale Kraft eine Mehrheit im Verfassungsrat gewann. Das dritte Alarmsignal war für uns das Ergebnis ihrer Arbeit im Verfassungsrat.

Welches sind – aus feministischer Perspektive – die kritischsten Punkte des Textes?
Wir sehen darin Verfassungsnormen, die unsere Leben als Frauen in Gefahr bringen und unsere Lage sogar verschlechtern würden. Zum Beispiel die Norm, die das Recht auf Abtreibung in drei Fällen in Gefahr bringt. Eine weitere Verfassungsnorm könnte das sogenannte Papito Corazón-Gesetz außer Kraft setzen. Das Gesetz ist erst im Mai 2023 in Kraft getreten und ermöglicht es dem Staat, unterhaltspflichtige Personen – in Chile sind das zu 95 Prozent Männer – dazu zu bringen, ihrer Verantwortung nachzukommen. Das Gesetz ist ein historischer Erfolg der Mütter in Chile und steht jetzt auf dem Spiel. Kritisch sehen wir auch den Umgang mit Sorgearbeit in der Verfassung. Sorgear­beit wird darin aus­schließlich auf den familiären Rahmen bezogen, nicht etwa auf die Gesellschaft als Ganzes wie etwa im ersten Verfassungsentwurf. Als feministische Bewegung kämpfen wir seit langem für die Anerkennung einer gesellschaftlichen Verantwortung von Sorgearbeit.

Als Coordinadora 8M konntet ihr nicht aktiv auf die Ausarbeitung dieser Normen einwirken. Wie habt ihr den Prozess von außen begleitet?
Wir haben an diesem Prozess nicht teilgenommen, denn wir waren davon ausgeschlossen. Unsere Rolle bestand vor allem darin, über die Gefahren dieses Verfassungsprojekts zu infor­mieren. Wir sehen das als unsere Pflicht an, denn der Entwurf ist nicht nur eine Gefahr für Frauen, Kinder und Queers, sondern auch für das ganze Land: Er behält die neoliberalen Elemente bei, die wir seit 30 Jahren kritisieren und die unsere Leben arm gemacht haben, oder vertieft sie sogar noch.

Wie sieht eure aktuelle Arbeit aus?
Wir haben die „Kampagne von Frauen und Queers für das Dagegen“ gestartet, die sich vor allem an Frauen und Jugendliche richtet, die noch unentschieden sind. Unter dem Motto „Die Verfassung ist noch schlimmer und gefährlich“ arbeiten wir mit anderen feministischen Organi­sationen zusammen, zum Beispiel ABOFEM, einer Vereinigung feministischer Anwältinnen, oder den compañeras von La Rebelión del Cuerpo. Unsere Arbeit folgt zwei Achsen: erstens die Verbreitung über soziale Netzwerke und Medien, zweitens die Arbeit vor Ort mit Frauen, Nachbar­schaftsgruppen und lokalen gemeinschaftlichen Zusammen-hängen. Letzte Woche waren wir zusammen mit Universitätsstudierenden unter­wegs, denn für sie steht auch das staatliche System für Hochschulbildung auf dem Spiel. Außerdem könnte die Verfassung die jüngsten Fortschritte beim Umgang mit Missbrauch in Bildungs-einrichtungen zunichtemachen.
Es ist eine mühsame Arbeit, aber wir sind überzeugt, dass wir die Ultrarechten nicht gewinnen lassen dürfen, denn das würde eine direkte Gefahr für die Leben von Frauen und Queers bedeuten.

Wie stehen die Chancen für den 17. Dezember?
Im Allgemeinen sehen die Prognosen einen Vorsprung für das „Nein” voraus. Wir haben aber beschlossen, den Umfragen nicht zu vertrauen und uns nicht darauf auszuruhen. Denn es gibt noch immer einen großen Anteil unentschiedener Wähler*innen, der das Ergebnis umdrehen könnte. Wir haben also noch nicht gewonnen, sondern müssen unsere Anstrengungen verdoppeln, um mit der Kampagne noch mehr Menschen zu erreichen.

Welche Themen werden gerade am meisten diskutiert?
Die Rechte setzt Themen und Diskurse, die wir widerlegen müssen. Dazu gehört die Behauptung: „Wenn das ‚Ja’ gewinnt, werden wir als Land stabiler.“ Wir vertreten die Ansicht, dass das nicht stimmt. Denn die Probleme, die seit 30 Jahren ungelöst sind, werden damit nicht gelöst. Die Rechte spielt mit der Idee, den Verfassungs­konflikt abzuschließen und bringt viele Leute dazu, für die neue Verfassung zu stimmen – ganz unabhängig von ihrem Inhalt, sondern nur, weil die Leute es müde sind, in ständigem Konflikt zu sein. Wir sagen klar: Dieser Konflikt bleibt ungelöst, denn wir haben als Land noch keine Lösung für die Probleme gefunden, die während der sozialen Revolte, aber auch schon davor eine Rolle spielten: seit 2000 mit der Schüler*innen- und Studierenden­ewegung und mit den sozialen und Umwelt­bewegungen. Denn das ist das Gefährliche an der Verfassung: Sie stärkt das System der Privati­sierung unserer Rechte, die komplette Kontrolle des Marktes.

Ein Nein zur neuen Verfassung ist ein Ja dazu, die Pinochet-Verfassung zu erhalten. Wie geht ihr mit diesem Dilemma um?
Wir stehen vor der Wahl, entweder die Verfassung von Pinochet zu erhalten oder eine Verfassung anzunehmen, die von Pinochetisten geschrieben wurde. Aber diese Verfassung kann 50 Jahre nach dem Putsch nicht die Alternative sein. Sie ist das Ergebnis des Scheiterns der Demokratie in den vergangenen 30 Jahren und zeigt, dass wir es nicht geschafft haben, wiederaufkommenden pinochetistischen Kräften klare Grenzen aufzuzeigen. Dazu gehört es, Diskurse, die Menschenrechtsverletzungen gutheißen, nicht einfach zuzulassen. Es fehlt auch eine Politik gegen die Straflosigkeit, für die Entschädigung der Opfer und Bildung in Sachen Menschenrechte und Erinnerungspolitik. Im jetzigen Moment können wir uns nicht erlauben, Rückschritte zu machen. Wir können keine Verfassung verabschieden, die noch schlimmer ist, wir können die kleinen Fortschritte, die wir als soziale Bewegungen gemacht haben, nicht einbüßen. Aber ja, natürlich ist das eine brutale Entscheidung.

Mit der Arbeit im Verfassungskonvent haben 2021/2022 viele Bewegungen wie die Coordi­nadora aktiv an einem institutionellen Prozess teilgenommen. Wie seht ihr das heute?
Als Coordinadora sind wir eine undogmatische Organisation. Wir haben damals die Möglichkeit erkannt, die Lage analysiert und bereuen es nicht, in die Institution gegangen zu sein, denn es handelte sich beim Verfassungskonvent um eine außerordentliche Institution. Uns war es aber immer wichtig, unseren eigenständigen Charakter nicht zu verlieren: die Unabhängigkeit von politischen Kräften in Machtpositionen, auch linken Parteien. Jetzt gerade sehen wir, dass es keine Möglichkeit gibt, auf die Institutionen einzuwirken. Wir sehen weder kurz- noch langfristig eine Chance darin, wieder in die Institutionen zu gehen. Unsere Anstrengungen werden sich weiterhin auf die Arbeit vor Ort, auf den Dialog und die Eigenständigkeit beziehen, die schon seit langem die Arbeit der femi­nistischen Bewegung in Chile auszeichnet.

In Chile und vielen anderen Ländern gewinnt die Rechte gerade an Kraft. Wie versucht ihr, dieser Entwicklung entgegenzutreten?
Eine der wichtigsten Aufgaben für feministische und andere soziale Bewegungen ist es jetzt, wieder eigene Alternativen zu schaffen und attraktive politische Projekte aufzubauen. Wir haben zu lange nur reagiert, statt selbst die Initiative zu ergreifen. Eine andere unmittelbare Aufgabe ist die des Zuhörens. Wir müssen die Menschen, die Probleme und Nöte, die wir alle erleben, wieder hören, aufmerksam sein und in Dialog darüber treten. Außerdem müssen wir breite Bildungsprozesse von unten schaffen. Darauf konzentrieren wir uns als Coordinadora und wollen ein Ausbildungs­zentrum aufbauen. Es soll nicht darauf ausgelegt sein, dass die Leute nichts wissen und wir schon, sondern zu einem Dialog einladen.
Bei alledem geht es darum, die Rebellion und Frustration der Menschen aufzufangen. Die Rechte hat genau das geschafft: Sie hat der Aufsässigkeit und dem Ärger der Leute einen Sinn gegeben und ihnen eine Alternative angeboten. Wir wissen, dass uns diese Alternative am Ende nicht helfen wird, denn zumindest in Latein­amerika bedeutet sie den Erhalt und Ausbau des neoliberalen Systems. Die Linke und wir soziale Bewegungen scheitern immer nur. Wir müssen dieses Scheitern jetzt als Möglichkeit sehen, als Impuls. Denn noch können wir uns neue Welten, neue Arten des Zusammenlebens miteinander und mit der Umwelt erträumen. Diesen Wunsch nach einer anderen Welt müssen wir uns wieder aneignen. Und dafür ist jetzt ein fruchtbarer Moment.

Biologische Straflosigkeit und dennoch ein Erfolg

Der argentinische Diktaturverbrecher von nebenan Protestaktion gegen Luis Kyburg im Berliner Prenzlauer Berg 2020 (Foto: Ute Löhning)

„In Argentinien wäre er schon verurteilt“, sagt Anahí Marocchi. Ihr Bruder, Omar Marocchi, wurde 1976 als 19-Jähriger zusammen mit seiner schwangeren Partnerin Haydee Susana Valor in Mar del Plata entführt und in die Marinebasis der Stadt in der Provinz Buenos Aires verschleppt, wo ein Gefangenen- und Folterlager eingerichtet worden war. Seitdem gelten sie als Verschwundene. Kyburg war der verantwortliche zweite Kommandant einer Einheit „taktischer Taucher“ auf dem Militärstützpunkt. Er soll persönlich von Folter und Misshandlung gewusst haben und „als Mitglied eines Gremiums entschieden haben, welche Opfer nicht ausnahmsweise freizulassen, sondern zu töten seien“, so die Generalstaatsanwaltschaft. Die meisten dieser Opfer sollen „ahnungslos unter dem Vorwand der ‚Verlegung‘ bei sogenannten Todesflügen umgebracht worden sein“.

Andere ranghohe Offiziere, die in dieser Marinebasis eingesetzt waren, wurden in Argentinien wegen Beteiligung an Mord und Verschwindenlassen verurteilt. Kyburg aber, der wegen seiner deutschen Vorfahren neben der argentinischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß, setzte sich 2013 nach Deutschland ab, entzog sich damit der argentinischen Justiz und lebte seit 2013 straflos in Berlin. Deutschland lehnte einen Auslieferungsantrag ab, da es seine eigenen Staatsbürger grundsätzlich nicht an Staaten außerhalb der EU ausliefert. Damit ist Deutschland inzwischen zum Rückzugsgebiet für in Lateinamerika gesuchte Doppelstaatler geworden. Das zeigt auch der Fall von Hartmut Hopp, dem früheren Krankenhausleiter der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile.

Bereits 2019 hatte Anahí Marocchi zusammen mit dem European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR) in Berlin Anzeige gegen Kyburg erstattet. In Zusammenarbeit mit der argentinischen Justiz vernahm die Generalstaatsanwaltschaft Berlin Zeug*innen in Argentinien und Europa und wertete von Argentinien bereitgestellte Militärakten, Einsatzpläne und frühere Urteile aus. Bei einer Durchsuchung von Kyburgs Wohnung im Berliner Prenzlauer Berg am 31. Januar 2023 wurden Dokumente und Datenträger beschlagnahmt. Am 30. Oktober 2023 wurde die 224-seitige Anklage fertiggestellt und anschließend an das Schwurgericht in Berlin übermittelt, wie Wolfgang Kaleck, Generalsekretär des ECCHR bestätigt. Da Mitte November bekannt wurde, dass Kyburg bereits am 11. Oktober 2023 eines natürlichen Todes verstorben ist, wird das Verfahren nun aber laut Generalstaatsanwaltschaft voraussichtlich eingestellt.

„Für mich als Angehörige von Verschwundenen und auch für die deutsche und die argentinische Gesellschaft ist es sehr bitter, dass Kyburg straflos ausgegangen ist“, sagt Anahí Marocchi. „Es ist auch sehr enttäuschend, dass die Justiz so langsam ist.“ Tatsächlich führen langwierige Justizabläufe in vielen Fällen zu einem Phänomen biologischer Straflosigkeit. „So schwere Verbrechen wie systematische Entführung, Folter und Mord dürfen nicht straflos bleiben“, kritisiert Rodrigo Díaz, Neffe des Verschwundenen Omar Marocchi. „Das ist ein schwerer Affront für die argentinische Gesellschaft und die Welt.“

Straflos, aber zumindest angeklagt

Die Enttäuschung über die Einstellung des Strafverfahrens teilt Wolfgang Kaleck. Dennoch betrachtet der Jurist die Anklage „als einen wichtigen Erfolg. Für Argentinien wird es wichtig sein, um das Rollback zu verhindern, das von der neuen Regierung zu befürchten ist“, so Kaleck, denn „insbesondere die designierte Vizepräsidentin (von Javier Milei, Victoria Villarruel, Anm. d. Autorin) tritt als sogenannte Negationistin in der Öffentlichkeit auf, sie bestreitet und relativiert also die Verbrechen der Militärdiktatur.“

Während der argentinischen Diktatur (1976 bis 1983) verschwanden bis zu 30.000 Menschen gewaltvoll. Argentinische Strafgerichte haben fast 1.500 Personen wegen der Verbrechen der Militärdiktatur verurteilt und damit internationale Standards gesetzt. „Wir verstehen es also auch als unsere Aufgabe, als internationale Experten darauf hinzu­weisen, dass die juristische Aufarbeitung der Diktaturverbrechen in Argentinien dem Goldstandard nach völkerrechtlichen und völkerstrafrechtlichen Maßstäben entspricht“, erklärt Kaleck. Er setzt auch „immer noch darauf, dass das Verschwindenlassen der Gewerkschafter bei Mercedes Benz Argentinien wie geplant im nächsten Jahr vor einem Provinzgericht in Buenos Aires in der Verhandlung gegen den ehemaligen Werksleiter Juan Tasselkraut verhandelt wird.“

Auch Leonardo Fossati hofft darauf, dass die argentinische Justiz in offenen Fällen weiter ermittelt. Seine Eltern sind ebenfalls in Argentinien verschwunden: in der Polizeistation Comisaria 5 von La Plata, wo er selbst geboren wurde. Als Baby wurde er illegalerweise als Kind anderer Eltern ausgegeben und erfuhr erst mit über 20 Jahren mithilfe der Großmütter der Plaza de Mayo, wer seine Eltern waren. „Dass Diktaturverbrecher sterben, ohne verurteilt worden zu sein, trifft uns sehr“, sagt Fossati. „Es ist schmerzlich zu sehen, dass sie ihr Leben so leben konnten, als hätten sie keine Verbrechen begangen.“

Heute ist er selbst bei den Großmüttern der Plaza de Mayo aktiv. Er setzt darauf, das Bewusstsein in der Bevölkerung darüber zu stärken, warum Diktaturen in Lateinamerika an die Macht kamen und welche Interessen dahinter standen. So will er dazu beitragen, die Erinnerung wachzuhalten, damit so etwas nie wieder passiert. „Die neu gewählte Regierung (von Javier Milei, Anm. der Autorin) wurde vor allem aus wirtschaftlichen Gründen gewählt“, meint Fossati. Er glaubt, „dass die Bevölkerung immer noch gegen die Verbrechen der Diktatur eingestellt ist und uns im Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit weiter unterstützen wird.“

Aufgeschoben oder aufgehoben

Protest am Kanzleramt EU-Mercosur-Abkommen stoppen (Foto: Uwe Hiksch, Flickr CC BY 2.0 Deed)

Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva konnte seine Frustration kaum verbergen: „Ich habe mit fast allen Präsidenten der EU gesprochen. Ich habe Macron gedrängt, nicht so protektionistisch zu sein, aber es hat nicht funktioniert“, sagte er als Gastgeber in der Eröffnungsrede des Mercosur-Gipfels in Rio de Janeiro am 7. Dezember. „Der Widerstand in Europa ist wirklich stark.“

Der Mercosur – Mercado Común del Sur (gemeinsamer Markt des Südens) – umfasst die Staaten Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay. Seit dem 7. Dezember gehört auch Bolivien als Vollmitglied dem Bündnis an. Es handelt sich um ein regionales Wirtschaftsbündnis, das 1991 gegründet wurde. Derzeit ist die EU der wichtigste Handels- und Investitionspartner des Mercosur. Bereits 1999 nahmen Mercosur und die EU Verhandlungen auf, mit dem Ziel ein Assoziierungsabkommen zu schließen. Das Abkommen sollte drei Kernelemente beinhalten: „Handel”, „Zusammenarbeit” und „politischer Dialog”. Aufgrund der umfangreichen Themen und ihrer Komplexität wurden die Verhandlungen immer wieder unterbrochen und aufgeschoben. Auch die große Zahl der beteiligten Staaten und ihre unterschiedlichen Positionen zu den Kernelementen des Abkommens erschwerten die Verhandlungen.

Nach 20 Jahren konnten der Mercosur und die EU am 28. Juni 2019 endlich eine Einigung in ihrem ersten Vertrag erzielen – jedoch nur bezüglich des Handels. Der von der EU oft als wichtigstes Kernelement bezeichnete „politische Dialog” bleibt somit zumindest vorerst auf der Strecke. Ein Frei­handels­abkommen, welches etwa 800 Millionen Menschen einschließen würde und eines der größten der Welt wäre, war Mitte 2019 in Sicht, lag jedoch seitdem auf Eis. Durch das Freihandels­abkommen sollen rund 90 Prozent aller Zölle zwischen dem Mercosur und der EU wegfallen. Das entspräche etwa vier Milliarden Euro Zollabgaben pro Jahr.

Für Europa ist das Abkommen vor allem deshalb so interessant, weil der Staatenbund darin eine Chance sieht, seine Lieferanten von industriellen Erzeugnissen und von Rohstoffen zu diversifizieren und so seine starke Abhängigkeit von China zu verringern. Gleichzeitig verspricht sich die EU mehr Einfluss auf die Mercosur-Staaten und will so den Einfluss Chinas auf die Region begrenzen oder zumindest eine Alternative anbieten.

Mit dem verkündeten Ziel, einen positiven Einfluss auf die Klimapolitik der Region zu haben, forderte die EU zuletzt strengere Maßnahmen zum Klimaschutz und Sanktionsmöglichkeiten bei der Nichteinhaltung von Klimaschutzregeln. Dafür schlug die EU-Kommission ein Zusatzinstrument zum Abkommen vor, in Form einer Interpretationserklärung. Solche Zusatzerklärungen haben jedoch in der Regel keinen tatsächlichen Einfluss auf die Inhalte des Abkommens. Die grundlegenden Probleme der klima- und umweltschädlichen Praktiken der Mercosur-Staaten würden weiterhin bestehen bleiben. Die Regierungen der Mercosur-Staaten fühlen sich indes durch die geplanten Zusatzerklärungen bevormundet. Sie lehnen zusätzliche EU-Auflagen für Umwelt- und Menschenrechte ab und fordern in den Verhandlungen einen stärkeren Fokus auf die Situation und die Interessen des Mercosur-Bündnisses. Die Länder versprechen sich von der Zusammenarbeit vor allem den Aufbau von wirtschaftsstarken Standorten in Lateinamerika.

Weltweit sprechen sich über 450 Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen sowie Aktivist*innen gegen das Mercosur-EU-Abkommen aus. Der Text repräsentiere eine veraltete Handelspolitik des 20. Jahrhunderts mit neokolonialen Zügen. Kritiker*innen erklären, dass das Abkommen Konzerninteressen in den Vordergrund stelle. Vor allem die soziale Gerechtigkeit, die Wahrung der Demokratie sowie Klima- und Tierschutz würden hinten angestellt. Indigene Gruppen fürchten eine weitere – in Teilen sogar gewaltsame – Einschränkung ihrer Lebensräume. Das autonome Sozialforschungszentrum BASE Investigaciones Sociales (Base Sozialforschungen), mit Sitz in Paraguay, welches sich für den Aufbau einer gerechten und solidarischen Gesellschaft, für die Durchsetzung von Menschenrechten und die Wahrung der Natur einsetzt, schrieb gegenüber Lateinamerika Nachrichten: „Im Falle Paraguays nimmt die Ausdehnung des Rohstoffabbaus von Jahr zu Jahr zu. Mittlerweile werden etwa 95 Prozent der nutzbaren Flächen in Paraguay landwirtschaftlich oder für die Viehzucht genutzt. Die Folgen sind vertriebene Gemeinden, Bauern und Indigene, sowie Todesfälle und Inhaftierungen. Die Agrarexporteure sind diejenigen, die am Verhandlungstisch sitzen. Sie informieren die Öffentlichkeit nicht über die Inhalte und verbergen die Vereinbarungen der Verhandlungen. Wirtschaftsabkommen ohne Bürgerbeteiligung sind ein Affront gegen die Demokratie!”

Auch innerhalb Europas gibt es starke Kritik am geplanten Freihandelsabkommen. Neben Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen spricht sich vor allem die europäische Agrarlobby gegen das Vorhaben aus, da sie einen steigenden Import billiger Konkurrenzprodukte aus Lateinamerika befürchtet, die in Europa zu Dumpingpreisen führen könnten. Darüber hinaus sorgt sich der europäische Verbraucherschutz vor allem vor Produkten, die nicht den europäischen Sicherheits- oder Qualitätsstandards genügen.

Für das Abkommen setzten sich zahlreiche europäische Regierungen sowie zuletzt die liberal-konservativen Regierungen Uruguays und die brasilianische Regierung unter Lula ein. Nachdem sich Paraguay viele Jahre positiv zu dem Abkommen positioniert hatte, teilte der neue Präsident, Santiago Peña Ende September mit, dass er die Verhandlungen abbrechen werde, wenn die Parteien sich nicht bis Jahresende einigten. Peña kündigte an, dass er sich dann lieber Abkommen mit anderen Staaten widmen werde, die weniger kompliziert erschienen. Er übernahm beim Gipfel Anfang Dezember turnusmäßig die Präsidentschaft des Mercosur von Lula. Darüber hinaus hatte der im November gewählte argentinische Präsident Javier Milei die Mercosur-Gemeinschaft für überflüssig erklärt und den Austritt Argentiniens angekündigt. Andererseits ist der ultrarechte Milei ein großer Verfechter des Freihandels. Bisweilen bleibt unklar, wie es mit dem Mercosur weitergeht, wenn Milei am 10. Dezember die Präsidentschaft in Argentinien übernimmt. Dass der Gipfel in Rio de Janeiro nicht als das Datum in die Geschichte eingeht, an dem das Mercosur-EU-Abkommen begraben wurde, zeigt die Abschlusserklärung: „Die Verhandlungen werden mit dem Ziel fortgesetzt, den Prozess abzuschließen und eine Vereinbarung zu erzielen, die für beide Regionen von Vorteil ist und den Anforderungen und Bestrebungen ihrer jeweiligen Gesellschaften entspricht.“ Papier ist bekanntlich geduldig und verhandelt wird schon seit 1999 mit exakt dem Ziel dieser Abschlusserklärung.

Die Mantras der neoliberalen Ökonomie müssen weg

Warum ist es für Aktivist*innen heute überhaupt von Interesse, sich mit den historischen Ansätzen für eine Neue Weltwirtschaftsordnung zu beschäftigen?

AV: Es gibt viele Gründe, aber heute sind zwei Aspekte wichtig. Erstens: 1974 ist ein erster alternativer Globalisierungsentwurf entstanden und das auf der hohen diplomatischen Ebene der UN-Vollversammlung. Zweitens wurde gefordert, dass es eine stärkere Planung und Regulation des Welthandels geben sollte. Auch jetzt sieht man bei vielen Staaten, dass sie wieder stärker in die Wirtschaft eingreifen wollen.

Vor 50 Jahren waren diese Ideen schon mal da, aber damals sollte die Intervention viel stärker auf internationaler Kooperation basieren. Es sollten Gremien gebildet werden, die auf einer gleichberechtigten zwischenstaatlichen Ebene aushandeln sollten, wie Welthandel und Produktion in den Dienst der Gesellschaften gestellt werden könnten. Die Initiative ging von Regierungschefs aus und viele von ihnen waren nicht demokratisch legitimiert, damals wie heute.

Welche Rolle spielten die lateinamerikanischen Beiträge zu Abhängigkeit und Unterentwicklung („Dependencia“) in jener Zeit?

AV: Der argentinische Ökonom Raúl Prebisch hat hier eine zentrale Rolle gespielt, da er schon früh die Terms-of-Trade-Problematik beschrieben hatte (in den 1950er Jahren: den ungleichen Tausch von Rohstoffen und Industrieprodukten zwischen Industrie- und Entwicklungsländern, Anm. d. Red). Das Faszinierende an seiner Person ist, dass er zu so hohen Ämtern gekommen ist, bis hin zum Generalsekretär der UNCTAD, und dort tatsächlich ein konkretes politisches Programm umsetzen konnte. Der Beitrag von lateinamerikanischen Denkern wurde in Afrika und Asien aufgegriffen und weiterentwickelt.

Es bedarf auch heutzutage dringend einer Neuen Weltwirtschaftsordnung. Weshalb hilft dabei der Rückblick?

ML: Einerseits hat die neoliberale Globalisierung Asymmetrie und Ungleichheit noch verschärft. Das Gerechtigkeitsargument greift heute mehr denn je. Es ist unsere derzeitige Weltwirtschaftsordnung, die die drängenden Probleme der Menschheit wie den Klimawandel verschlimmert. Wir treiben viel zu viel Welthandel, der nur dem Wirtschaftswachstum dient. Güter, die lokal produziert und gehandelt werden könnten, werden unter enormem Energieverbrauch hin und her geschifft.

Die Weltwirtschaftsordnung zeigt, dass wir unfähig sind, diese drängenden Probleme in Angriff zu nehmen, deswegen müssen wir alles dafür tun, sie zu ändern.

Welche Elemente von NWWO und Dependenztheorie sind heute noch von Bedeutung?

ML: Es gibt heute Berechnungen aus der ökologischen Ökonomie, wer wem wieviel schuldet, wie diese Terms-of-Trade-Geschichte sich in Zahlen niederschlägt. Und das ist hochaktuell! Wir sehen außerdem am Beispiel von Donald Trump, dass er ganz selbstverständlich davon ausgeht, dass Protektionismus ein Recht der mächtigen Staaten ist, während die Schwachen zum Freihandel gezwungen werden können. Auch an diesem Verhältnis hat sich wenig geändert. Es ist immer noch so, dass der Süden den Norden entwickelt.

Es gibt aber sicher auch Bestandteile der Dependenztheorie, die im Zeitalter der Klimakrise veraltet sind, oder?

ML: Was aus heutiger Perspektive anders gedacht werden muss, ist, dass die Dependenztheoretiker damals das Recht auf „Entwicklung“ eingeklagt haben, also auf Wirtschaftswachstum und Industrialisierung. Heute wissen wir, dass dort, wo sich der globale Süden industrialisiert hat, das nicht unbedingt zu einem guten Leben für alle beigetragen hat, sondern zu mehr Ungleichheit innerhalb dieser Länder. Es sind besonders die schmutzigen, arbeitsintensiven oder krankmachenden Produktionsprozesse, die in den Süden ausgelagert wurden, während der Norden auf Hochtechnologie und Hochlohnproduktion gesetzt hat. Das setzt sich fort, wenn China heute bestimmte Produktionsprozesse nach Afrika verlagert, weil sie besonders schmutzig sind. Dass Industrialisierung der Königsweg ist, um ein besseres Leben für die Bevölkerung zu erreichen, muss aus heutiger Sicht in Frage gestellt werden.

Die Dependenztheorie hielt Industrialisierung für unabdingbar, oder?

AV: Die Dependenztheorie war ja auch eine Modernisierungstheorie in dem Sinn, dass es darum ging, dem Beispiel des Nordens nachzueifern, und zwar durch den Abbau und Export von Rohstoffen. Es ist inzwischen deutlich geworden, dass dieser sogenannte Extraktivismus verheerende Umweltschäden verursacht. Die Autorin Melanie Pichler macht in ihrem Beitrag zu unserem Buch „Von ökologisch ungleichem Tausch zu Postwachstum“ einen sehr guten weiteren Punkt. Sie sagt, Einsparungen von CO2 müssen vor allem im globalen Norden stattfinden, um einen Raum zu schaffen für eine wirtschaftliche Entwicklung im globalen Süden, die sicher auch noch ein gewisses Maß an Industrialisierung mit sich bringt. Die Unterschiede sind so groß, dass dafür noch Raum sein muss. In diesem Zusammenhang stellt sich aber auch die Frage, ob nicht auch China – das sich selbst weiterhin zum globalen Süden zählt – ebenfalls Einsparanstrengungen zugunsten anderer Gesellschaften unternehmen müsste. Trotzdem sind im Norden Einsparpotenziale vor­handen, die dem Süden Spielraum für weitere Entwicklung lassen könnten.

ML: Aus meiner Perspektive gehört China überhaupt nicht mehr zum globalen Süden. Es ist einfach das Vorzeigebeispiel, das der Norden immer benutzt, um zu zeigen, dass der Süden sich eben doch „entwickeln“ kann. Geopolitisch und in der Weltwirtschaft spielt China ja heute eine ganz andere Rolle und gehört auch zu den Ländern, die ihre sozialen und ökologischen Kosten anderswohin externalisieren. Ich bin natürlich damit einverstanden, dass die Einsparungen vor allen Dingen im Norden stattfinden müssen, aber das führt uns wieder auf unser Ausgangsthema zurück: Wenn wir es nicht schaffen, die globalen Regeln gerechter zu gestalten und wirklich strukturelle Veränderungen im internationalen Finanzsystem und im Handel zu erreichen, dann nützt ein solcher „Raum“ den Ländern des Südens überhaupt nichts, er würde lediglich zu Rezession führen.

In Lateinamerika werden bekanntlich „Alternativen zur Entwicklung“ diskutiert …

ML: Genau, und eben nicht ein anderer Weg der Entwicklung. Das ist ein entscheidender Unterschied. Dabei kommen andere Paradigmen ins Spiel, die der riesigen kulturellen und zivilisatorischen Diversität dieses Kontinents Rechnung tragen. Gedanken wie das buen vivir aus indigenen Gesellschaften erhalten Gewicht. Das Ziel ist eben nicht Wachstum und Akkumulation, sondern im Gleichgewicht miteinander und mit der Umwelt zu leben. Das kann zu unserer heutigen Nachhaltigkeitsdiskussion sehr viel beitragen. Im Angesicht von Klimawandel, massivem Artensterben und drohendem ökologischem Kollaps brauchen wir ein Umsteuern, das über dieses „Wir wollen auch Wachstum“ hinausgeht. Heute ist es für Länder des Südens nicht mehr wirklich möglich, auf denselben Weg zu setzen wie die kapitalistischen Zentren.

Lateinamerika positioniert sich gerade in einer multipolaren Welt neu. Lulas Brasilien in den BRICS; die Länder des Mercosur zeigen wenig Begeisterung, sich über ein Handelsabkommen einseitig an die EU zu binden; überall sieht man ein stärkeres Engagement mit China. Bereiten die Länder Lateinamerikas damit eine Basis für eine Neue Weltwirtschaftsordnung vor oder reproduziert der Handel mit China nur das alte Schema der Abhängigkeit?

AV: Es gibt oft diesen Vergleich zwischen der Bewegung der blockfreien Staaten vor 50 Jahren, die die NWWO vorangetrieben hat, und dem BRICS-Staatenbündnis von heute. Da gibt es Parallelen, aber ein Aspekt ist wichtig: Der Prozess, der zur NWWO geführt hat, war damals ganz anders strukturiert. Er begann mit Wissenschaftlern, die sich darüber Gedanken gemacht haben, wie die Weltwirtschaft und internationale Zusammenarbeit strukturell anders ausschauen können. Zudem war er flankiert von sozialen Bewegungen in Nord wie Süd. Das hat ausgestrahlt in die sozialdemokratischen Regierungen in Europa und wurde letztlich übersetzt auf die Ebene internationaler Organisationen, wo fast alle Staaten Mitglied waren. BRICS ist heute viel stärker top-down und hat keinen Anspruch, den Handel selbst neu zu strukturieren. Es hat eigentlich eher den Anspruch, für bestimmte Staaten mehr Mitspracherecht und mehr Handelsvorteile rauszuholen, aber eben keine globalen Strukturveränderungen.

ML: Ein kurzer Blick in die jüngere lateinamerikanische Geschichte ist lehrreich, die Rolle Brasiliens während der „progressiven Hegemonie“, die ungefähr zehn Jahre gedauert hat (2005 bis 2015). Da gab es sehr interessante Vorschläge für eine lateinamerikanische Integration, die eine teilweise Abkopplung vom Weltmarkt bedeutet hätte, mit eigenen digitalen Zahlungsmitteln. Die „Bank des Südens“ sollte ganz andere Projekte finanzieren als eine klassische Entwicklungsbank. Es ging um Ernährungssouveränität, um Gesundheitssouveränität, also eigene pharmazeutische Produktion, und Energiesouveränität. Mit dem Motto der Souveränität ging es eben nicht um „Entwicklung“ und Teilhabe am Welthandel. Brasilien war jedoch letztendlich der Gigant in Lateinamerika, der dann dem Rest der Länder den Rücken zugewandt und lieber darauf gesetzt hat, selbst in den Rang der Weltmächte aufzusteigen. Die brasilianische Entwicklungsbank oder auch die Entwicklungsbank der BRICS sind heute vollkommen konventionelle Entwicklungsbanken, die strukturell nichts verändern. Lateinamerika erlebt auch die Abhängigkeit von China in Bezug auf Finanzierung, Infrastruktur und Handel nicht wesentlich anders als die von Europa oder den USA.

Miriam, in Deinem Beitrag zu dem Buch kritisierst Du mit Ulrich Brand den „staatlichen Steuerungsoptimismus“ der NWWO. Was meint Ihr damit und welche anderen Wege müssen hin zu einer neuen, ökologisch und sozial gerechten Weltwirtschaftsordnung begangen werden?

ML: Es gibt ja häufig die Hoffnung, dass Politik, Regierung und Staat alles regeln werden. Dass nur ein bisschen mehr politischer Wille notwendig ist, um etwas grundlegend zu ändern. Das ist ein Trugschluss. Die Kräfteverhältnisse, die in einer Gesellschaft vorherrschen, finden sich auch im Staat wieder. Die lateinamerikanischen Staaten sind von ihrer Entstehungsgeschichte, ihrer Verfasstheit und ihrer politischen Kultur her anders als die europäischen. Hier muss man die alles durchdringende Kolonialität immer als Faktor einbeziehen. Es ist immer noch so, dass eine der Hauptaufgaben staatlicher Steuerung hier die Kanalisierung der Rohstoffe in die kapitalistischen Zentren ist. Statt auf staatlichen Steuerungsoptimismus und von oben reformierte globale Institutionen zu setzen, muss man den Weg hin zur neuen Weltwirtschaftsordnung immer multiskalar denken. Das heißt, es hängt sehr stark daran, was in nationalen Gesellschaften als akzeptabel angesehen wird, welche Kämpfe dort ausgefochten werden und wie sich das auf internationale Verhältnisse auswirkt. Es spielen gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse auf verschiedenen Ebenen eine Rolle, die nicht einfach ausgeblendet werden können. Das sind strukturelle Hindernisse, die man nicht einfach mit politischem Willen wegräumen kann.

Miriam, du bist Erstunterzeichnerin des Ökosozialen und Interkulturellen Pakt des Südens. Welche Rolle können Bewegungen in Lateinamerika heute für eine ökologisch und sozial gerechte Weltwirtschaftsordnung spielen?

ML: Wir stehen vor der Aufgabe, einen tiefgreifenden kulturellen Wandel herbeizuführen, indem wir uns vor allen Dingen von diesen Mantras der neoklassischen Ökonomie verabschieden: vom Wachstumszwang, vom Entwicklungszwang, von der Zentralität dieser ökonomischen Sichtweise für die Politik. Das heißt, unsere neue Organisationsachse, unsere gesellschaftliche Orientierung sollte der Erhalt des komplexen Lebensgeflechts Erde sein, von dem wir ja als Menschen nur ein Teil sind. So ein tiefgreifender kultureller Wandel geht nur über gesellschaftliche Organisierung und Mobilisierung. Wir haben Ansätze wie die Care-Ökonomie, um zum Beispiel Arbeit neu zu denken. Das sind Ansätze eines anderen Miteinanders und nicht top-down. Vergangenen August wurde in Ecuador per Referendum von knapp zwei Dritteln der Bevölkerung entschieden, dass Ölförderung und Bergbau nicht mehr die Zukunft des Landes darstellen. Das ist eine sehr wichtige demokratische Entscheidung, die durch soziale Mobilisierung geschafft wurde, durch eine ganz breite Kampagne in vielen Städten, sehr dezentral. Die Leute haben die Sache selbst in die Hand genommen, in Schulen, in Betrieben, in Stadtversammlungen. Das ist ein Hoffnungsschimmer, hoffent­lich schaffen es auch andere Gesellschaften auf der Angebotsseite, dem Rohstoffhandel einfach den Hahn abzudrehen. Das würde starke Einschnitte in die Weltwirtschaft nach sich ziehen. Wir dürfen diese sozialen Bewegungen nicht nur national denken, wir brauchen auch dringend Süd-Süd Bündnisse und ein neues Nord-Süd-Verständnis von Solidarität, das die Prozesse rund um Energiewende und Klimaschutz durch globale Gerechtigkeit verändern muss.

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