Lebenswege – Zwischen Europa und Lateinamerika

“Exil ist wie wenn Blätter und Wurzeln eines Baumes keinen Kontakt mehr zu Luft und Erde, ihrem Lebensraum, haben. Es ist das plötzliche Ende einer Liebe; es ist wie ein unvorstellbar schreckliches Sterben, weil es ein Sterben ist, das man bewußt erlebt.”
Dieses Zitat von Julio Cortá­zar spiegelt vermutlich das Ge­fühl der meisten Menschen wi­der, die in dem Buch zu Wort kommen. Ihre Flucht und die verzweifelte Suche nach einem Exilland verlief oft unter drama­tischen Umständen. Der Ab­schied von ihrer Heimat und die Trennung von Familie und Freunden bedeutete für sie eine sehr schmerzvolle Erfahrung. Im Gegensatz aber zu vielen ande­ren, denen die Flucht nicht mög­lich war oder die am Exil zerbra­chen, gelang es ihnen, der Ver­folgung zu entgehen und sich in ihrem Zufluchtsland eine neue Existenz aufzubauen.
Es kommen hier aber nicht nur Menschen zu Wort, die in das Exil flüchten mußten, son­dern auch Fluchthelfer wie Gil­berto Bosques, der während des Zweiten Weltkriegs als General­konsul von Mexiko vielen Ver­folgten die Emigration über Frankreich nach Mexiko ermög­lichte. Die Schauspielerin Steffi Spira gelangte mit Bos­ques Hilfe nach Mexiko: “Wir waren glücklich, daß wir die Möglich­keit hatten, nach Mexiko zu ge­hen. Natürlich sind wir gerne dorthin gegangen, wir ha­ben nicht etwa Hemmungen ge­habt, nein, wir waren an und für sich sogar glücklich, nicht nach Nordamerika zu gehen, weil wir fanden, Mexiko sei eben doch ein unbetretener Boden”. Ob­wohl sie nicht das Exilland aus­wählen konnte, machte sie sehr positive Erfah­rungen in Mexiko und hatte so­gar die Möglichkeit, in ihrem Beruf zu arbeiten.
Ein weiteres Land, das zahl­reiche Flüchtlinge aufnahm war Argentinien. Nelly Meffert schil­dert das Leben in der Exilge­meinschaft in Buenos Aires, zu der viele politisch aktive Künst­lerInnen und Intellektuelle gehör­ten. Dazu zählte auch die Familie von August Siemsen. Sein Sohn Pieter berichtet von der Arbeit für die Zeitschrift und Bewegung “Das andere Deutsch­land”, die sein Vater leitete und die in der linken und demokrati­schen Strömung eine wichtige Rolle spielte. Für ihn, wie für die mei­sten Flüchtlinge war es wichtig, ihre politische Arbeit, die auch oft der Grund für ihr Exil war, dort weiterzu­führen.
Von dem Weg in die andere Richtung spricht der argentini­sche Schriftsteller und Publizist Osvaldo Bayer. Nach dem Mili­tärputsch 1976 mußte er Argen­tinien verlassen und flüchtete nach Deutschland. Doch das Exil erlebte er als sehr zwiespältig, denn er flüchtete in ein Land, daß dem Militärregime in Ar­gentinien kritiklos gegen­überstand und es teilweise sogar unterstützte: “… die Verzweif­lung, sich da zu befinden, wo das System entwickelt wird, das die Tragödie des Exils, den Tod und die Verhaftung von Freunden ja möglich macht. […] Und da erle­ben wir schon die Zwiespältig­keit in der Existenz des latein­amerikanischen Exilierten, der sich gezwungen sieht in irgend­einem industrialisierten Land der westlichen Hemisphäre zu le­ben.” Dies ist nur ein Teil des Deutschlandbildes das Osvaldo Bayer 1976 in seinem Referat “Bundesrepublik Deutschland: Das Bild eines lateinamerikani­schen Exilierten” dargestellt hat.
Die Interviews ermöglichen es, einen wichtigen Teil Ge­schichte zu verstehen und zeigen die Parallelen zur heuti­gen Flücht­lingsproblematik.

Gert Eisenbürger (Hg.): Le­bens­wege – 15 Bio­gra­phien zwi­schen Europa und La­tein­ame­rika; Verlag Li­ber­tä­re As­so­ziation, Ham­burg 1995, 240 S., DM 24,-

Das Asylrecht war kein Versehen

Als 1949 im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutsch­land das Asyl­grundrecht ohne jede Ein­schränkung festgeschrieben wur­de, war dies keineswegs ein Versehen. Zeithistori­scher Erfah­rungshinter­grund waren Terror und Verfolgung in Deutschland, die industrielle Vernichtung von Millionen Menschen, die durch den zwei­ten Welt­krieg aus­gelösten Flücht­lingsströme und die Auf­nahme – oder eben Nicht-Auf­nahme – dieser Menschen in an­deren Län­dern.
Die Ausgestaltung des Asyl­rechts garantierte dem einzelnen Flüchtling den Anspruch auf um­fassende Anhörung sowie das Recht, bis zum Abschluß des Ver­fahrens in Deutschland zu bleiben. Weder das Völ­kerrecht noch die Verfas­sung anderer Staaten kannten eine derartig weitreichende Ausgestal­tung des Asylgrundrechts. Dennoch war die Praxis der Asylgewährung in anderen Staaten, die kein Grund­recht auf Asyl besaßen, häufig liberaler als in der Bundesrepu­blik. Neben ei­ner restriktiven Ausle­gungspraxis führten seit 1978 vielfache Gesetzesän­der­ungen zur Verkürzung des Rechts-mittelweges und zur Er­schwerung des Zu­gangs zum Verfahren. Vom Grundrecht auf Asyl ist kaum etwas übrig geblie­ben.
Die Vorgeschichte der Grundgesetzänderung
1991 kamen 256.112 Asylbe­werberInnen in die Bundesrepu­blik Deutsch­land, etwa 33 Pro­zent mehr als 1990. 1992 stieg die Zahl noch einmal um 71 Pro­zent auf 438.191. In den ersten sechs Monaten des Jahres 1993 verlangsamte sich der Anstieg der Ge­suche, auch unter dem Einfluß des seit dem November 1992 geltenden “Rücknahme-Abkom­mens” mit Rumänien. Es gab 224.099 AsylbewerberInnen, 19,5 Prozent mehr als in der er­sten Hälfte des Vor­jahres. Das seit dem 1. Juli 1993 gültige neue Asylrecht brachte die “Wende”: mit 98.690 Personen sank die Zahl der Antragstelle­rInnen um 56 Prozent im Ver­gleich zur ersten Hälfte dessel­ben Jahres.
Restiktive Anerkennungs­praxis
Der Rückgang der Be­werberInnenzahlen wird von der Regierungskoalition und darüber hinaus als Er­folg verbucht. Die überwie­gende Mehrheit der An­tragsteller seien “Schein­asy­lanten” und “Wirt­schafts­flücht­linge” gewesen. Hierzu sind min­destens zwei Dinge zu be­merken:
1. Zu den etwa 5 Prozent an­erkannten Flüchtlingen kamen weitere 5 Prozent hinzu, die auf­grund von Gerichtsverfahren doch noch Asyl erhielten. Wei­tere 10 Prozent müssen hinzug­rechnet werden als zunächst ab­gelehnte Ange­hörige, die mit Rücksicht auf den Schutz der Familie bleiben durften. Noch ein­mal 20 Prozent der An­tragstellerInnen waren zwar nicht im engeren Sinne asylbe­rechtigt, erhielten aber ein Blei­berecht als Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonven­tion. Insgesamt durften also mindesten 40 Prozent aller An­tragstellerInnen bleiben, und das bei der auch vor Juli 1993 schon ausge­sprochen restriktiven Aner­kennungspraxis.
2. Wer von “Schein­asy­lanten” spricht, vergißt, daß es seit dem Anwerbestop 1973 kaum noch legale Wege gibt, in die Bun­des­republik zu kommen. Ne­ben der Stel­lung eines Asylantrags blei­ben im we­sentlichen Fami­liennachzug sowie die be­fristete Einreise zu Ausbil­dungszwecken und zu Be­suchen. Würde die Bun­desrepublik endlich aner­kennen, daß sie längst ein Ein­wanderungsland gewor­den ist und die entspre­chenden Rege­lungen ein­führen, wären Men­schen, die tatsächlich nicht direkt politisch verfolgt werden, aber nichts desto trotz le­gitime Gründe ha­ben, in der Bundesre­publik leben zu wollen, nicht län­ger gezwungen, diesen Wunsch auf dem Umweg Asyl zu verfolgen.
Die Situation nach der Grundgesetzänderung
Der Kern der neuen Asyl­rechtsregelung ist die Konstruk­tion von “sicheren Her­kunftsländern” und “siche­ren Dritt­staaten”. Grundlage für letzteres ist die formale, nicht je­doch die faktische Anerkennung der Genfer Flüchtlings­konven­tion.
Kommt ein Flüchtling aus ei­nem “sicheren Her­kunftsland” (auch Rumä­nien etwa ist trotz der staatlich geduldeten Po­grome gegen Roma als Nichtverfolger­staat aufge­führt), so ist sein An­trag “of­fensichtlich unbegrün­det” und er durchläuft ein gekürztes Asylverfahren. Gegen die Ent­scheidung klagen darf er nur vom an­geblich verfolgungsfreien Herkunftsland aus.
Ist ein Flüchtling durch einen “sicheren Drittstaat” eingereist, gilt sein Antrag als unbeachtlich, da er ja in diesem Staat seinen Antrag auf Asyl hätte stellen kön­nen. Nicht der Fluchtgrund, sondern der Fluchtweg sind aus­schlaggebend. Wer an der Grenze zu Polen, einem der “sicheren Drittstaaten”, einreisen will, wird sofort, ohne Anhö­rung, dorthin zurückgeschoben. Daß es dort keine rechtsstaatli­chen Verfahren im strengen Sinne gibt, daß die Gefahr von Kettenabschiebungen besteht, wird ignoriert. Diese Regelung führt zur faktischen Abschot­tung, da alle an Deutschland gren­zenden Staaten entweder “siche­re Dritt­staaten” oder “Nicht­ver­folger­staaten” sind.
So bleiben im Grunde nur die illegale Einreise und das Ver­schweigen des Fluchtweges, oder die Ein­reise auf dem Luftweg. Nach der sogenannten “Flugha­fen­regelung” gelten An­tragsteller aus “siche­ren Her­kunfts­ländern” als nicht ein­gereist und haben sich auf dem vorgeblich “exter­ri­torialen” Ge­lände des Flughafens bei Zwangs­aufenthalt im Lager ei­nem Schnellverfahren zu unter­ziehen. In nur einer Woche wird über die Abschie­bung oder die Einreise und das re­guläre Ver­fahren entschie­den. Dasselbe gilt für Menschen mit ungültigen Reisepapie­ren. Um ihre Chance auf ein reguläres Asylverfahren zu erhöhen, kann es für diejenigen, die aus angeb­lich si­cheren Herkunftslän­dern kom­men, unter Umständen günstiger sein, wenn sieihre Papiere ver­nichten und eine fremde Identität, ein an­deres Her­kunftsland angeben.
Neben der weiteren Er­schwerung des Zugangs zum Asylverfahren und der Verkür­zung der Fristen, in denen Rechtsmittel einge­legt werden können, wird versucht, durch die Ver­schlechterung der Lebens­situation im Land Flücht­linge abzuschrecken.
Asylrecht und 8. Mai
Wer “einen Ausländer ver­leitet oder dabei unter­stützt, im Asylverfahren (…) unrichtige oder unvollstän­dige Angaben zu machen” (Asylverfahrensgesetz ´84) damit er zum Beispiel nicht in einen Staat zurückge­schoben wird, in dem er mit großer Wahrscheinlich­keit Folter zu er­warten hat, wird mit Freiheits­entzug und Geldstrafe bedroht.
Menschen, die illegale Roma aus Rumänien ver­stecken, wer­den kriminali­siert, diejenigen, die Flüchtlingen über die “grü­ne Grenze” helfen, un­differenziert als Schlepper diffamiert. Abge­lehnte AsylbewerberInnen wer­den verfolgt, weil sie mangels anderer Möglichkeiten, das Auf­enthaltsrecht zu erwer­ben, eine Ehe eingehen.
Eine AsylbewerberIn, der/die falsche Papiere vorgelegt hat, wird als Be­trügerIn bezeichnet und hat kaum Chancen, sein/ihr Asylverfahren erfolgreich zu beenden. Hierbei spielt es keine Rolle, ob er/sie das Heimatland an­sonsten nicht hätte verlassen können – sei es wegen restrikti­ver Visabestimmungen oder weil ihm/ihr vom Verfolgerstaat keine Papiere ausgestellt wurden.

Das Zahlenmaterial wurde dem Buch von Klaus J. Bade: Ausländer, Aus­siedler, Asyl (München 1994) entnommen
Menschen­würde
garantieren!
Am 28.1.95 wurde Ben­jamin Ramos Vega, der mit in­ternationalem Haftbefehl wegen “Mitgliedschaft in einer terrori­stischen Vereinigung”(ETA) so­wie “Sprengstoffbesitz” und “Lagerung von Kriegswaffen” gesucht wurde, in Berlin festge­nommen.
Die Grundlage der Festnahme war eine Aussage eines am 28.4.94 in Barcelona festge­nommenen, ehemaligen Füh­rungs­mitglieds der baskischen Partei Herri Batasuna, genannt Pipe. Vor dem Haftrichter wider­rief Pipe alle Aussagen und er­klärte, daß die Aussagen unter Folter zustande gekommen sind
Der spanische Staat fordert die Auslieferung von Benjamin. Obwohl nach Einschätzungen von amnesty international und des UNO-Sonderbeauftragten für Folterangelegenheiten systemati­schen Folter im spanischen Staat betrieben wird, wird voraus­sichtlich der Asylantrag, den er gestellt hat, abgelehnt werden da Spanien von der BRD als “verfolgungsfreies Herkunfts­land” eingestuft wird.

Protestschreiben können Sie an folgende Adresse schicken: Bundesjustizministerium, Hei­nemannstr. 6, 53175 Bonn, fax: (o228) 584525 und an das Kammergericht Berlin, Witzle­benstr.4, 14057 Berlin, Fax:(030) 32092266
Solidaritätsbriefe in einfa­chem Deutsch an: Benjamin Ramos Vega, JVA, Alt-Moabit 12a, 10559 Berlin

Collage eines Kontinentes

Havanna und Sao Paulo – diese beiden Namen ste­hen für die zwei lateiname­rikanischen Kunstbiennalen, und für zwei recht unter­schiedliche, konkur­rierende, aber auch sich gegen­seitig er­gänzende Konzepte, der bildenden Kunst dieses Kon­ti­nentes ein in­ternatio­nales Fo­rum zu ver­schaffen. Die Kunst­messe von Sao Paulo wurde 1951 gegrün­det, al­so zu einem Zeit­punkt, als das offizielle Bra­silien sich mit­ten im Mo­dernisierungs­fie­ber be­fand. Er­klärtes Ziel war, der lokalen Kunstszene Anre­gungen zu ver­schaffen und ihr gleichzeitig in­ternatio­nale Ab­satzmärkte zu er­schließen. Ent­spre­chend wurde von vornherein da­r­auf gesetzt, KünstlerInnen und KunsthändlerInnen aus der ganzen Welt einzula­den. Da­ge­gen entstand in den achtziger Jahren die Bien­nale von Ha­vanna ex­plizit als kul­turelles und po­litisches Pro­jekt, um – ähnlich wie bei dem In­ter­nationalen Film­festival von Havanna – Kunst aus La­teinamerika und anderen Re­gio­nen der Drit­ten Welt ein Forum zu verschaffen.
Die Ausstellung “Havanna – Sao Pau­lo” zeigt jetzt sa­lomoni­scher­weise eine Aus­wahl aus beiden Biennalen von 1994. Ölge­mäl­de, Skulptu­ren, Fo­tografien, Installationen, Envi­ronments – die Ar­beitsmate­ri­alien der 33 Künstle­rinnen und Künstler sind so un­terschiedlich wie ihre Aus­drucksweisen. Ein postmodernes Stil­gemisch mit ei­nigen gemein­sa­men Bezugs­punkten im in­halt­lichen Be­reich.
Religiöse Qualen
für Aug`und Seele
Wie es sich für katho­lisch so­zi­alisierte Künst­ler­Innen ge­hört, arbeiten sich einige an sakralen Mythen ab. Bei dem drei­flügeli­gen Altar des venezo­la­ni­schen Künstlers Nel­son Garrido um­armt die le­gen­däre ita­lie­nische Pornodar­stellerin Cic­ciolina einen schwar­zen Chris­tus am Kreuz, des­sen äußerer Er­schei­nung durch Heiligen­schein aus Neon sowie drei wul­stige Stoffpe­nis­se die Krone aufge­setzt wird. Umrahmt wird das ungleiche Paar von einem con­junto aus Pin-Up Fo­tos, Putten­glanzbil­dern, Totenschä­deln und anderen illustren Gestal­ten. Noch qual­vol­ler für Aug` und Seele ist die Rauminstalla­tion “Mea culpa” der ar­gentinischen Künstlerin Kuki Benski. Ein gruf­tiger Raum mit Devolutio­nalien, altertümlichen Sa­do-Maso-Por­nofotos und kle­rikalen Schriften, die vor Unzucht war­nen: “No for­nicarás!” Fast wie Inventar einer Gei­sterbahn er­scheint der dazu­gehörige Altar. Der züchtigen Ma­donna ist eine nackte Brust auf­geklebt, die diese als Schwester je­ner nackten Sex­puppe outet, die davor mit ver­renk­tem Körper und gefes­selten Händen kniet. Die Frau als Hure oder Heilige, klassi­scher Ausdruck bür­gerli­cher Dop­pel­moral, die blasphemische Provo­kation als Gegenreaktion – nichts neues, aber immer noch ak­tuell, wenn man an die Rolle der ka­tholischen Kirche in Lateiname­rika denkt.
Um die “Ausrot­tung des Bö­sen” geht es auch bei den zwei Bildern der Brasi­lianerin Adriana Varejao: Zwei makabre Va­ri­anten stehen zur Auswahl: Ex­or­zismus durch “Einschnitt” oder durch “Überdosis”. Zwei Leinwände, auf denen an Fran­ciso Goyas Monster erinnernde dämonische Fa­bel­wesen skiz­ziert sind, werden auf grausige Art zerstört. Während bei der “Über­dosis” zwei medi­zi­nische Infusionsständer eine blaue Flüs­sigkeit in die Leinwand injizie­ren, welche diese an einer Ecke auf­platzen und das Gift wieder ausbrechen läßt, ist das an­dere Bild unter das Messer eines Chi­rurgen geraten. Die Lein­wand als blutige, klaffende Wunde, das her­ausgerissene Stück einer Leichenhaut gleich auf dem Seziertisch. Die Lein­wand selbst erscheint als Op­fer eines blindwütigen Ein­griffs von außen, der das zerstört, was er angeblich retten will.
Von grotesker Gestalt sind die sieben Straßen­hunde des Argen­tiniers Luis Frei­stav: Sie kratzen sich, sie scheißen, sie ko­pulieren – und verenden. Auf den ersten Blick wir­ken die Skulpturen aus Papp­maché fast wie mumifi­zierte Kadaver, fast meint man den Geruch der Armut, der Ver­wesung in der Nase zu spüren.
Indianischer Kult und Da­daismus
In dieser Ver­bindung von Material und Thema liegt der Schlüs­sel zu einigen der ein­drucksvollsten Objekte: Statt ed­le Materialien zu verarbeiten, werden Ver­satz­stücke der Re­alität zu Assem­bla­gen montiert.
Diese Art des Arbeitens zeugt zum einen von ei­ner Auseinan­der­set­zung mit der europäischen Objektkunst der Moderne: 1917 hatten die Dada­ist­Innen das Ende der bürgerlichen Kunst verkün­det. Der Franzose Mar­cel Duchamp stell­te einen industriell ge­fer­tigten Fla­schentrockner auf ein Podest und erklärte diesen kurzerhand zur Kunst. Im Span­nungsfeld zwischen Kunst und Anti-Kunst ent­stand das Konzept des Materialbildes, der Installa­tion, der Assemblage aus “objets trouvés”, vorgefun­denen Ge­gen­ständen – mal kitschig, mal poe­tisch, mal geheimnisvoll, pro­vo­zierend oder von bra­chialer Heftig­keit.
Die moderne Kunst Eu­ropas entstand allerdings auch nicht im luftlee­ren Raum. Bekann­terweise ka­men die entscheidenden Im­pulse für die deutschen Expres­sionistInnen oder für Picassos Ku­bis­mus aus der sogenannten “pri­mi­tiven” Kunst “exotischer” Kul­turen. Frustriert vom blut­leeren Aka­demismus der euro­päischen Kunst Ende des 19. Jahrhunderts, un­ternahmen viele Künstler­Innen ausgedehnte Fern­reisen, um der mü­den Ima­gination wieder auf die Beine zu helfen. Dabei wur­den zu Spott­preisen “Neger­plas­tiken” oder Kultgegenstände er­worben, im hei­mischen Atelier mit ge­rin­gen Abwand­lungen kopiert und als bahnbre­chende künstlerische Neu­entdeckung ausgegeben. Die Daheimgebliebenen konnten sich zu­mindest von den völkerkundli­chen Sammlungen des Lou­vre, des Britischen Museums oder der Preus­sischen Mu­seen inspirieren las­sen, wo die ge­plünderten Kunst­schätze europäi­scher Kolo­nien hinter Glas zu bewun­dern waren.
In vielen außer­eu­ro­päi­schen Kulturen, darunter auch bei indi­genen Völkern Süd­amerikas, ge­hört das, was wir heute als Ob­jek­te, Installationen oder Perfor­mances bezeichnen, zur kul­turellen Tra­dition. So grup­pieren die Xing-India­ner bei ih­rem Kuarup-Fest be­malte Baum­stämme zu “Envi­ronments”, die Cu­nas in Panamá bauen bei Hei­lungszeremonien ihre “Uchu”-Holz­skulpturen instal­lations­ar­tig auf. Ganz zu schweigen von den vie­len reli­giösen und ästhe­tischen Mischfor­men, die aus dem Aufeinandertreffen indige­ner, euro­päi­scher und afroameri­kani­scher Kul­tu­ren entstanden sind. Da entsteht nichts Eindeu­tiges, Ge­fäl­liges oder Ein­dimen­siona­les, was sich auf den ersten Blick erschließen läßt.
Trotzdem bevorzugten jahr­zehntelang gerade viele latein­ame­rikanische Künst­lerInnen, denen an einer eigenstän­digen kulturellen Identität gelegen war, die gegen­ständliche Malerei. Be­kann­testes Beispiel hier­für sind die mexikanischen muralistas, die Wand­maler im Um­kreis von Diego Rivera. Eine in­nere Verbin­dungs­linie zur Ob­jektkunst liegt allerdings darin, daß auch die Wand­gemälde be­wußt den klas­si­schen Kunstrah­men ver­lassen und sich auf alltäg­li­ches Terrain, in öffentli­che Ge­bäude, auf die Straße be­geben.
Mittlerweile scheint die Ob­jektkunst gerade für junge latein­amerikanische Künstler eine ide­a­le Mög­lich­keit zu sein, Re­alitäts­split­ter aufzugreifen und gegenein­an­der­zu­montieren.
Objektkunst: Medium für Realitätssplitter
Hinzu kom­men aber si­cher auch ökono­mische Motive: Mate­ri­al, das sich auf der Straße finden läßt, ist ein viel billigeres Ar­beitsmittel als Leinwand, edle Höl­zer oder Bron­ze. Auch der Transport ist oft nicht so auf­wendig. So wurden im letzten Jahr, angesichts der wirtschaftli­chen Engpässe der Bien­nale von Ha­vanna, die aus­wär­tigen Künst­ler­Innen gebeten, keine riesi­gen Skulpturen oder Lein­wände zu schicken, sondern nach Möglichkeit an Ort und Stelle Installationen auf­zubauen.
Die wirtschaftliche und politi­sche Si­tuation auf Ku­ba spiegelte sich auch auf an­dere Art in den Ex­ponaten der Bien­nale 1994 wie­der. Es wim­melte von Schif­fen: Während Ob­jekte wie die Konquistadoren­boo­te von Mar­cos Lora Read aus der Dominikani­schen Republik gewis­ser­maßen die Nach­hut des Ge­den­kens an die 500 Jahre Kolo­nia­lismus bilde­ten, enthiel­ten die Boote einiger kubani­scher Künst­lerInnen ei­ne recht ex­plo­sive Fracht. So etwa die As­semblage “Die Re­gatta” von Alexis Leyva: Einer Völ­kerwan­derung gleich, durch­que­ren un­zählige kleine Boote aus Holz, In­du­striemüll und ka­putten Gummilat­schen den Raum. Ge­fährte, so schä­big und wak­kelig wie die Boote, auf denen im gleichen Jahr, wo sich in Ha­vanna die Kunstwelt traf, Tau­sende Kubaner versuchten, die In­sel für immer zu verlas­sen. Noch deutlicher drückt sich die kubanische Künst­lerin Sandra Ramos aus: “Migraciones” sind die bei­den 1993 bemalten Köf­ferchen eti­kettiert, deren In­nen­futter das Thema in einer Mi­schung aus na­i­ver Verspielt­heit und Grausam­keit il­lu­striert. Während in dem einen noch ein Fischer träu­mend in seinem Kahn liegt und von Segeljachten, schnel­len Autos und blon­den Frau­en träumt, be­her­bergt der zweite Behälter die bei der Flucht Ertrun­kenen, de­ren Träume auf dem Meeresgrund zwi­schen Haien und al­ten Auto­reifen ihr feuchtes Grab finden.
Flucht und geopferte Leidenschaften
Mit Tod und ge­scheiter­ten Träu­men setzten sich auch die bei­den großflä­chi­gen Fotocol­la­gen “La pa­sión sacrificada” – “Die geopferte Lei­denschaft” von Paolo Gasparini aus­einander. Der gebürtige Italie­ner, der seit 1967 in Venezuela lebt, widmete sie zwei Legenden der la­tein­amerikani­schen – und eu­ropäischen – Lin­ken: Che Gue­vara und Tina Modotti. Rechteckige Schwarzweißfotos, zum Teil blutrot oder in kühlem Blaugrau einge­färbt, konfron­tie­ren histo­ri­sche Fotos mit aktuel­len Bildern aus Mexiko, wo die Fotografin und linke Akti­vistin Tina Modotti jah­relang lebte, be­zie­hungs­weise aus Bolivien, wo Che Guevara als Guerillero starb. Ches toter Körper, aufgebahrt, be­gut­achtet und aus verschiedenen Rich­tungen foto­grafiert, kontra­stiert mit dem Foto eines ambu­lanten Poster­ge­schäftes, wo die Ikone Che neben Madonnen­bildchen und Rambopo­stern zum Verkauf aus­hängt. Noch kom­plexer die Col­lage zu Tina Mo­dotti: Alltags­fotos aus dem heu­ti­gen Mexiko, das Porträt eines alten Mannes, Ti­nas schönes, ru­higes Gesicht ne­ben einem Porträt von Emi­liano Zapa­ta, ihr nack­ter Körper auf einer Son­nenterasse, der am rechten Bildrand in das Bild ei­nes erschossenen Ar­beiters über­geht. Und ein Foto von einer Versteige­rung im Londoner Kunstauktions­haus Sotheby: Nach ih­rem Tod kommt Tina Modottis berühmtes Stilleben aus dem mexikanischen Bür­gerkrieg mit Gitarre, Sense und Patronengurt unter den Hammer.
“Die geopferte Leiden­schaft” oder “Die ver­marktete Leiden­schaft”: Wenn sich lateinamerika­nische Künstler­In­nen auf die internationalen Pu­bli­kums- und Han­delsmärkte be­ge­ben, müssen sie auf­passen, nicht auf Fol­klore, Armut oder Revolutionsro­man­tik festgelegt zu wer­den. Die Ausstellung “Ha­vanna – Sao Paulo” setzt der­artigen Klischees eine schil­lernde Stil- und Themenvielfalt entgegen. Allerdings um den Preis, daß es auch schon wieder etwas unübersichtlich wird.

“Havanna – Sao Paulo: Junge Kunst aus Latein­amerika bis zum 5. Juni im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin, 030/397870

Die Zeit, als Gott eine Frau war

Zu erleben war eine auch dem in experimenteller Musik Uner­fahrenen gut zugängliche Ge­schichte von den zwei Seiten des Ich, verkörpert in den beiden Hauptakteurinnen. Die Sängerin, Gabriela de Geanx, hatte eine durch Konventionen eingeengte Persönlichkeit darzustellen, agie­rend auf einem hohen Podest mit wenig Platz, in ein altmodisches Kostüm gezwängt, künstlerisch “schön” singend, mit marionet­tenhaften, unfreien Bewegungen.
Die Schau­spielerin, Marilena Bi­bas, spielte den Gegenpart: In schwarzem Kleid, mit wir­rem Haar, repräsentierte sie das Traumhafte, Unterbe­wußte, My­thische. Sie warf Steine in einen großen Kupferkessel und rollte diese darin herum, setzte sich auch selbst hinein – sowohl Assoziationen zum Kochtopf als auch zum Hexenkessel liegen nahe – , sie streifte durch ein großes Metallröhrenspiel, stellte sich hinter einen vergrößernden Zerrspiegel und stieß beim Töp­fern ei­nes Phallus vogelartige Laute aus. Märchenhaft, mit dem exotischen Geruch der eigenen Träume und Phantasien, kamen die Klänge und Bilder daher.
Die Texte, die von bei­den ge­sprochen und gesun­gen werden, reichen von Mythen der Ya­nomami über Euripides bis zu einem Text der Regisseurin und beschäftigen sich mit Träumen von Weiblichkeit, mit Frauenge­stalten und -geschichten, die von allem Bürgerlich-Traditionellen abweichen. Jocy de Oli­veira, Drehbuchautorin, Komponistin und Regis­seurin der Oper, sucht of­fenbar nach anderen, neuen Formen des Frau-Seins, und sie findet diese in “jener Zeit” (illud tempus), der Ur-Zeit, als Gott eine Frau war. Auch räumlich steht die Sängerin, die die “Kultur” verkörpert, im Hinter­grund, die Schau­spielerin – “Natur” – je­doch im Zentrum der Bühne, und auf ihre Le­bensform läuft das Stück hinaus: Am Ende reißt sie der Sängerin das Ko­stüm vom Leib, befreit sie, oder wenn wir es bei den zwei Seiten des Ich lassen: be­freit sich selbst von den Zwängen, den falschen Traditionen.
Der Feminismus hat sich der­artiger Gedanken längst ange­nommen; die Überle­gungen zu dem Bild “Gott als Frau”, zum vorhistori­schen Matriarchat und zu weiblicher Mythologie ha­ben sich etabliert. Aber auch wenn die Oper inhalt­lich nicht viel Neues bringt, ist sie keineswegs überflüs­sig. Zum einen ist uns ge­nauso geläufig, daß sich die Frau-Mann-Rollen und patriar­chale Herrschafts­formen hart­näckig halten und das Thema folglich nicht erledigt ist. Zum an­deren macht de Oliveira von den Mitteln der expe­rimentellen Musik in die­sem Zusammenhang wun­dervollen Gebrauch: Nach­denken über Weiblichkeit findet hier nicht in troc­kenen Texten statt, sondern durch die Auffor­derung, die Sinne zu öffnen, der phan­tasievollen Musik zu lau­schen (Schlagzeugerin, Klarinet­tist, de Oliveira mit Keyboard und elektroni­schen Geräuschen) und die Augen wandern zu las­sen. Darüberhinaus stellt sich ge­rade durch die geschlechtsunab­hängige, berührende Sinnlichkeit in Bild und Ton die Frage, wie spezifisch weiblich es eigentlich ist, den Mythen und Träumen nachzugehen. Möglicherweise ist die Oper ein geeignetes Medium, die Konventionen und Traditio­nen auch bei Män­nern zu hinter­fragen.
Glücklicherweise scheint “Illud Tempus” in Brasilien kein marginales Ereignis zu sein. 1994 wählte die Zei­tung “O Globo” das Werk zur besten mu­sikalischen Arbeit des Jahres, und durch Open-Air-Veranstal­tungen mit tausenden Zu­schauerInnen ist sie ins Gespräch gekommen.
Die Oper ist der zweite Teil einer Trilogie. Die Überra­schung, die man nach drei Vier­telstunden erlebt – da ist die Oper nämlich aus – , läßt sich so viel­leicht erklären. Nach wie vor un­glaublich ist jedoch, daß die KünstlerInnen um Jocy de Oli­veira nur wegen dieser zwei Konzerte im Berliner Haus der Kulturen der Welt nach Europa ge­kommen sind und sonst keine weiteren Auftritte ha­ben. Aber vielleicht gibt es eine neue Tour­nee, wenn die Trilogie abge­schlossen ist?

“Musik ist keine universelle Sprache”

Wir wußten nicht einmal, daß es eine Opernszene in Brasilien gibt. Warum ist das hier in Europa nicht so bekannt?
Ich denke, daß das mei­ste, was aus Brasilien kommt, Pop oder andere eher kommerzielle Dinge sind. Und meistens, wenn die Regierung Dinge in die Welt schickt, denkt sie viel mehr in den stereotypen Bildern von Brasilien, die auch die Europäer im Kopf haben. Und das sind Kar­neval und Fußball – und das war`s. Sie kümmern sich viel zu wenig um die sehr verschieden­artige Kultur, die Brasilien hat. Ich meine die zeitgenössi­sche Kunst, sicher auch Folklore und all` die An­denken an unsere Tradi­tionen. Die Kultur ist sehr umfassend.
Was haben Sie außer­halb Brasiliens schon ge­macht?
Ich trete schon seit 30 Jahren in Europa und im Ausland auf, lange Zeit aber in erster Linie als Pianistin. Und einige mei­ner Schallplatten wurden hier in Deutschland veröf­fentlicht, weil ich viele Jahre mit dem Einüben der Werke von Messiaen verbracht habe. Auch Neue Musik, wie beispielsweise Wer­ke von Cage oder Stock­hausen, habe ich sehr viel auf­ge­führt. In­zwi­schen habe ich auch sehr viel selbst komponiert.
Wen wollen sie mit Ihrer Musik erreichen?
Ich habe einige meiner Werke Open-Air gespielt, und da hatten wir wirklich ein riesiges Pu­blikum, was sehr interessant ist, weil ich dann Werke wie die­ses Leu­ten nahebringen kann, die sonst nicht unbedingt ins Theater gehen. Sie sind diese Art von Musik nicht gewöhnt, und es ist eine Herausforderung, ihre Re­aktion zu bekommen.
Wollen sie dem Publikum eher klassische oder expe­rimentelle Opern vorfüh­ren, oder steht der Inhalt im Vorder­grund? Sie ver­suchen ja auch, die Kultur der Yanomami darzustel­len.
Der erste Teil von “illud tem­pus”behandelt mehr mythische Texte, der zweite Teil befaßt sich mit weiblichen Träumen. Und dann habe ich auch ein paar Ge­schichten und Träume eingebaut, die sich auf die Yanomami bezie­hen, die alte Steinzeit-Kul­tur, die in Brasilien immer noch existiert. Im letzten Teil kommen zwei Märchen vor, die ich so er­zähle, wie ich sie sehe…
…und die in Brasilien be­rühmt sind?
Nicht unbedingt. Die Wolfs­frau beispielsweise ist aus der mexikanischen Wüste. Ein an­deres Mär­chen kann man mit klei­nen Abwandlungen sowohl in Brasilien als auch in Nord­amerika finden. Es ist manchmal unglaublich: In verschiedenen Kulturen werden sie zwar leicht un­terschiedlich erzählt, aber diese berühmten Märchen sind immer wieder zu er­kennen.
Steht die Rolle der Frau in­nerhalb der Gesellschaft und der Natur im Mittel­punkt des Werkes?
Ja, im Mittelpunkt steht die Frau, aber auf sehr verschiedene Arten und in einer sehr subtilen Weise, nicht ganz offensichtlich und nicht richtig linear oder er­zählend. Meine Art zu erzählen ist sehr sym­bolisch. Es ist wich­tig, das Publikum zu vielen unter­schiedlichen Empfindun­gen und Eindrücken anzu­regen, da­mit sie ihre eige­nen Träume dazu entwic­keln. Die Hauptsache ist, Symbole zu benutzen, um einen magischen Augen­blick zu erzeu­gen, um diese ganzen Mythen, die irgendwie verloren gegan­gen sind, wiederzugewin­nen.
Sehen sie sich selbst als eine brasilianische Künst­lerin oder eher als eine ex­perimentelle Weltkünstle­rin?
Ich fühle mich nicht wirklich brasilianisch oder chinesisch oder japanisch oder was auch immer. Und ich denke, daß durch die Musik, die keine univer­selle Sprache ist…
Was meinen sie damit, daß die Musik keine uni­verselle Spra­che ist?
Sie ist es absolut nicht, denn wenn sie Beethovens Fünfte in Madras spielen würden, fänden es die Leute dort furchtbar. Sie würden es für etwas wirk­lich Exotisches, Fremdes halten. Sie sind es nicht gewöhnt.
Das wäre ein falsches Kon­zept. Aber der charis­matische Effekt eines Stückes oder der magische Augenblick einer Auffüh­rung – damit kann man wirklich Kulturen zusam­menbringen. Das ist etwas, was ich gerne intensiver machen würde. Das habe ich in den USA viel mehr gemacht als in Europa: Beispielsweise nur mit dem Set-Designer und vielleicht zwei Schauspie­lern zu kommen, um dann mit Musikern und Schau­spielern von dort zu ar­beiten und die Möglichkeit eines Ideenaus­tausches zu haben, um dann ein ge­meinsames Werk vorfüh­ren zu können.
Ich habe vier Stücke für das Fernsehen gemacht. Die einzige Bedingung, die ich stellte war, daß ich al­les selber machen durfte, daß ich bei der ganzen Aufnahme beteiligt sein durfte und daß alles exakt gemacht wurde, ohne Cuts – genau so, wie ich es mir ausgedacht hatte.
Das ist also möglich?
Ja, das war möglich. Es war perfekt. Aber das war ein öffent­licher Sender. Mit einem kom­merziellen Sen­der wäre es nicht möglich gewesen, sie würden es nie­mals machen.
Also können das Fernse­hen und die Massenme­dien ein Trä­ger für Ihre Botschaft oder für Ihr Ex­periment sein?
Ja, ich habe Video und alle möglichen Arten von visuellen Möglichkeiten, wie Holographie und Laser genutzt und auch ei­nige Stücke zur Unterhaltung gemacht. Ich denke, sie sind nur ein Medium. Es ist egal, was der Vermittler ist.

Die Stadt, der Müll und das Leben

Lateinamerika ist ein Kontinent der Städte. In Argentinien, Venezuela und Uru­guay leben bereits mehr als 80 Prozent der Bevölkerung nicht mehr auf dem Land. Die Hälfte der lateinamerikani­schen Bevölkerung lebt in Städten mit mehr als 100.000 EinwohnerIn­nen. Der Anteil der Men­schen, die in Millio­nenstädten leben, liegt bei 30 Prozent. Zwar hat sich der Wachstumsprozeß der meisten Millionenstädte verlangsamt, dafür wach­sen nun die mit­telgroßen Städte mit höherer Ge­schwin­dig­keit. Etwa die Hälfte des Wachs­tums entsteht inzwischen nicht mehr durch Zuwande­rung, sondern durch die Vermeh­rung der bereits ansässigen Stadt­be­völ­ke­rung. Alle Versuche, die Entwicklung auf dem Land zu fördern und die Mi­grationsströme zu kontrollieren, sind geschei­tert. Die Armut auf dem Land ist weiter gewach­sen, Vertreibung durch Großgrund- oder Planta­genbesitzer oder zuneh­mende Unfruchtbarkeit der Böden zwingen die Menschen weiterhin in die Städte zu ziehen. Noch immer sind für sie die Lichter der Großstadt An­ziehungspunkte, trotz der städtischen Wohnungs­not und des harten Konkur­renzkampfes um das tägliche Ein­kommen. Auf­grund einer besseren Gesund­heitsversorgung und informeller Verdienst­möglichkeiten ist die Über­lebenschance im­mer noch höher. In den 80er Jah­ren, dem “verlorenen Jahrzehnt” Lateinamerikas, sind die Aussichten der jungen Generation von StädterIn­nen auf ein besseres Leben aller­dings nicht besser geworden.
Mehr denn je ist das Gesicht der Großstädte durch eine Spaltung in zwei Lebens­welten ge­kennzeichnet. Oft leben über die Hälfte der Stadt­bewohnerInnen in Ar­mensiedlungen, fave­las, poblaciones, villas de emergencia, turgu­rios… Neuankömmlinge oder die junge Gene­ra­tion sind gezwungen, an den immer weiter vom Stadtzen­trum ent­fernten Rändern zu sie­deln. Immer häufi­ger werden Flächen besie­delt, die durch extreme Trockenheit (Lima), Überschwemmungen (Buenos Aires) oder Erdrutsche (Caracas) gefähr­det sind. Der Wohnraum ist völlig überbelegt und die hy­gienischen Bedin­gun­gen sind katastrophal. Die Beiträge zu Lima und Caracas versu­chen, die Lebensbedingungen in diesen Vierteln zu erfassen.
Die schmale Oberschicht zieht sich zuneh­mend in Festungen des Wohlstands zurück. Nur hier zeigt sich die Stadtverwaltung in der Lage, eine Versorgung mit sozialer und tech­nischer Infra­struktur zu gewährleisten. Gute Trinkwasserver­sorgung, Kanalisation, Müllabfuhr, gefegte Stra­ßen, bewässerte Parkanlagen findet man nur in den reprä­sentativen Zentren und den Wohnvier­teln der Reichen. Strukturanpassung und neolibe­rale Wirtschaftspolitik setzen rücksichtslos das Prinzip durch, daß nur derjenige Leistungen in Anspruch nehmen kann, der auch in der Lage ist, dafür zu bezahlen.
Die Armen finanzieren jedoch den Wohl­stand der Reichen mit. Denn hinter den hinter den Lei­stungen, die einer Minderheit der Be­völkerung zur Verfügung gestellt werden, ver­stecken sich erheb­liche indirekte Subventio­nen. Das Wasser zum Beispiel, das hier hem­mungslos verschwendet wird, um Swimming­pools zu füllen und Parks zu beregnen, wird zu extrem niedrigen Preisen abge­geben. Währenddessen sind zwischen 20 und 30 Pro­zent der Armen ge­zwungen, ihr Trinkwas­ser von Händlern kau­fen, die ihnen dafür überdurch­schnittliche Preise abverlangen. Auch das kosten­aufwendige Straßen­netz, von dem nur die privile­gierte Schicht von Autobe­sitzern pro­fitiert, wird indirekt subventioniert. Dage­gen müssen die im­mer weiter an den Rand ge­drängten Armen teil­weise ein Drittel ihres Tageslohnes für die Fahrt zum Arbeits­platz in oft unsicheren und überfüllten Ver­kehrs­mitteln aufwen­den.
Zur bevorzugten Erlebniswelt gehobener Ein­kommensschichten gehören die soge­nannten Shoppings, große Einkaufs- und Unterhaltungs­zentren nach US-amerikani­schem Muster. In Bue­nos Aires und Rio de Janeiro sind sie angesichts städtischer Armut geradezu obszön. In einer so ländlichen und durch das Erd­beben zentrumslosen Stadt wie Managua müssen diese glänzenden Kon­sumtempel jedoch noch ab­surder wirken.
Trotz der räumlichen Trennung zwischen arm und reich, gibt es allerdings auch zahl­reiche Über­schneidungen der Lebensberei­che. Der durch die Deindustrialisierung ge­wachsene informelle Sek­tor konzentriert sich räumlich auf das Stadtzen­trum. Ambulanter Handel und einfache Dienstlei­stungen stützen die Ökonomie der mo­dernen Wirtschaftssek­toren. Schließlich sind Dienstmäd­chen und Gärtner aus den Wohnvier­teln der Rei­chen nicht mehr wegzudenken.
Im Beitrag zu Rio de Janeiro wird deut­lich, daß es trotz aller medialen Inszenie­rung, die die “Zersetzung des gesunden Stadt­körpers” räumlich den Favelas und damit so­zial den Armen zuordnen möchte, sogar kul­turelle Phänomene gibt, die die Grenzen zwi­schen Favela und Rest­stadt (Asphalt) ver­schwimmen lassen, die soge­nannten bailes funk. Der Drogenhandel, hauptsächliche Legiti­mation zur militäri­schen In­tervention der Favelas, stellt eine weitere ökono­mische Verbindung zur Au­ßenwelt dar.
Der Beitrag zu Bue­nos Aires zeigt, wie die Stadtverwal­tung ver­sucht, sozial-räumli­che Gren­zen zu setzen und Armut und Krimi­nalität zumin­dest aus dem Hauptstadtbe­zirk zu verdrän­gen. Darüber hinaus macht er deut­lich, daß trotz der so­zial extrem unglei­chen Versor­gungssituation und in­folgedessen der unglei­chen Verteilung der Lebensrisiken die Um­weltkrise auch vor den pri­vilegierten Stadtbe­reichen nicht halt­macht. Es er­scheint symptomatisch für die aktuelle Stadtent­wicklung, daß zu den wenigen boomenden Bran­chen des Kontinents private Sicherheit­dienste ebenso gehö­ren wie Mineralwasser­hersteller.
Curitiba ist bisher eines der wenigen Bei­spiele in Lateinamerika, in der die Initia­tive zur Verbes­serung der Infrastruktur unter der Berück­sichtigung der Interessen der ar­men Bevölkerung trotz begrenzter Mittel von einer Stadtregierung ausging. Jaime Lerner, Architekt und zweifacher Bürgermeister die­ser Millionenstadt im brasiliani­schen Süden, schob diesen Prozess noch unter der Militär­diktatur an, der inzwischen von seinen Nach­folgern weitergeführt wird. Für Lerner selbst bedeuteten seine umweltpolitischen Erfolge politi­sches Renomee. Curitiba ist im interna­tionalen Kontext zu Modellstadt geworden, von deren Kon­zepten so manche europäische Stadt lernen könnte.

Die Dekadenz der Metropole

Historische Fotos der Stadt zeigen gern die glanzvollen Jahre zur Jahrhundertwende, als Bue­nos Aires sich tatsächlich noch weitgehend durch gute Lüfte auszeichnete und mit den Metro­polen des Nordens, mit London, Paris und New York messen konnte. Zahlreiche Prunkbauten, die heute die großen Avenidas schmücken, sind damals entstan­den. Sie sind Ausdruck der Macht und des Reichtums einer Agraroligarchie, die vom Fleisch- und Getreideexport lebte. Zwischen 1881 und 1891 wurde der Regierungssitz, die Casa Rosada, errichtet und man leistete sich ein Opernhaus nach Vorbild der Mailänder Skala. Ein großes Kulturereignis jagte das andere, die großstädtische Infra­struktur wurde ausgebaut. Be­reits 1890 dehnte sich das natio­nale Eisenbahnnetz auf über 9.000 km aus und verband die Orte des Interior mit der Haupt­stadt. In den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts wurde die elek­trische Straßenbeleuchtung ein­geführt und 1913 die erste U-Bahn-Linie eingeweiht.
Daß bereits die Zeiten des prosperierenden Agroexportmo­dells, die Jahre der vacas gordas, auch ihre Schattenseiten hatten, zeigen die Postkartenfotos sel­ten. Die mit den großen Einwan­derungswellen zwischen 1910 und 1930 kommenden Italie­nerInnen, SpanierInnen, PolIn­nen, LibanesInnen und Deut­schen hausten auf engstem Raum in conventillos, in Miets­kasernen, unter miserablen hy­gienischen Bedingungen. Unweit der luxuriösen Wohnorte der Reichen und Mächtigen an der Plaza San Martín oder der Plaza de Mayo lebten die Immigran­tInnen mindestens zu sechst in einem Zimmer, im Hof spielten die Kinder, wurde Wäsche ge­waschen und Tango gesungen.
Zerfall und Elend
im Conurbano
Schon 1913 hatte Buenos Ai­res über 1,5 Millionen Einwoh­nerInnen und konzentrierte 35 Prozent der Industrieproduktion auf sich. Den entscheidenden Wachstumsschub erlebte die Stadt jedoch in den 40er Jahren. Die importsubstituierende Indu­strialisierung zog immer mehr Menschen an. Die ArbeiterIn­nenvororte dehnten sich aus, mehr noch die villas miserias, die Armenviertel. “Villa Miseria tam­bien es Buenos Aires” hieß ein berühmt gewordenes Buch aus den 50er Jahren. Darin machte der Autor auf die Le­benssituation in diesen Armen­vierteln aufmerk­sam, die sich langsam wie ein Gürtel um den Hauptstadtbezirk legten.
Die große Mehrheit der Stadt­bevölkerung von Buenos Aires lebt heute in diesem Großstadt­gürtel (Conurbano). Er gehört mit seinen 23 Kommunen zur Provinz Buenos Aires und be­herbergt ca. 9 Millionen Men­schen, das sind 30 Prozent der Gesamtbevölkerung Argentini­ens. Nach wie vor ist hier mehr als die Hälfte der Industriepro­duktion des Landes konzentriert. Seit Mitte der 70er Jahre ist sie jedoch insgesamt drastisch zu­rückgegangen. Damit stieg die Zahl der Arbeitslosen stark an und damit die Armut, so daß auch hier von einer “neuen Ar­mut” gesprochen wird. Es ist die Gruppe der “Verarmten”, ehe­mals zur Mittelklasse zählenden, die in den letzten 15 Jahren am stärksten gewachsen ist. Über 600.000 Menschen haben auf­grund ihres niedrigen Einkom­mens nicht die Möglichkeit, eine Wohnung oder ein Stück Land zu mieten und sind daher zu ille­galen Siedlungsformen gezwun­gen. 1,5 Millionen Menschen le­ben in zu kleinen oder schlecht ausgerüsteten Wohnungen. Le­diglich 42 Prozent der Bevölke­rung im Conurbano verfügen über einen Wasseranschluß und nur 25 Prozent sind an die Kana­lisation angeschlossen. Die Qua­lität des Trinkwassers, von der die Mehrheit der armen Bewoh­nerInnen des Conurbano Ge­brauch machen muß, ist wegen der Industriekonzentration und fehlender Kanalisation extrem schlecht. Die Flüße werden seit Jahrzehnten bereits als Abwas­serkanäle für die Industrieabwäs­ser genutzt. 90 Prozent aller In­dustrieanlagen sind bisher nicht an eine Kläranlage angeschlos­sen. Offene Mülldeponien ver­schlimmern zusätzlich die Um­weltsituation.

Im Hauptstadtbezirk stinkt’s
Lärm und Luftverschmutzung durch den wachsenden Autover­kehr, Unsicherheit durch Ver­kehrsunfälle und ungesicherte Baustellen und Überschwem­mungen nach Regenfällen haben allerdings auch im privilegierten Hauptstadtbezirk die Le­bensqualität sinken lassen. Ob­wohl der Hauptstadtbezirk nur 7,2 Prozent der Gesamtfläche des Großraumes von Buenos Ai­res ausmacht, leben in ihm fast ein Drittel der Bevölkerung. Doch die Kapitale wächst weiter in die Höhe. Trotz Bauverbot über eine bestimmte Geschoßan­zahl hinaus, entstehen in ver­schiedenen Bezirken immer mehr Hochhäuser mit teilweise über 30 Stockwerken. Die Bau­verwaltung ist so korrupt, daß eine wirkliche Kontrolle der Baubestimmungen nicht ge­währleistet ist. In manchen Fäl­len ist im Nachhinein ein Abriß der überzähligen Geschosse ge­richtlich auferlegt worden. Aber der weiteren Verdichtung des Zentrums wird damit nicht ent­scheidend entgegengewirkt.
Der morbide Charme der alten Fassaden von San Telmo oder der bunt gestrichenen Well­blechwände des Einwanderungs­viertels La Boca, die die Touri­stInnen so gerne bewundern, wird zunehmend erdrückt durch den Verkehr und die bauliche Verdichtung. San Telmo wird zum Viertel der Bohème, die al­ten Gemäuer zu Luxusapparte­ments umgebaut. Der Flohmarkt an der Plaza Dorrego wandelt sich zum Touristennepp. Wer im Quartier die hohen Dol­larmieten nicht mehr zahlen kann, muß in die Peripherie zie­hen.
Verwaltung des hauptstädtischen Chaos
Gibt es überhaupt ein Konzept zur Stadtentwicklung? “Eine moderne und saubere Haupt­stadt”, scheint das einzig erkenn­bare Motto. Wer im Hauptstadt­bezirk lebt, soll in Ruhe einkau­fen gehen können, ungestört von ambulanten HändlerInnen und BettlerInnen, soll sich in seinem Appartement sicher fühlen kön­nen. Einige alte Repräsentations­bauten an der Avenida de Mayo hatte die Regierung 1992 aus Anlaß der 500-jährigen Erobe­rung Lateinamerikas mit Geldern der spanischen Regierung reno­vieren lassen. Als architek­tonische Glanzlichter gelten heute jedoch eher die neuen Shoppings, eigentlich nichts an­deres als typische us-amerikani­sche Malls. Ein Tageserlebnis mit Einkaufsbummel, Unterhal­tung, Mode, Fast Food, Small Talk. Die, die sich die Kleidung und den Kaffee hier nicht leisten können, kommen eben nur zum Staunen: leuchtende Schaufen­ster, alles blitzt vor Sauberkeit und die Menschen sind chick und erfolgreich. Der Traum vom Wohlstand – hier wird er immer wieder neu erzeugt.
Zu den wenigen Vorzeige-Projekten der Stadtregierung ge­hört der Umbau des alten Bahn­hofsgeländes von Retiro. Nach Jahren der Mißwirtschaft und an­schließender Privatisierung der Eisenbahnen fahren hier nur noch Vorortzüge. Da der Trans­port von Gütern fast völlig auf der Straße abgewickelt wird, benötigt man nun für Gleisanla­gen weniger Platz. Im Rahmen der vorgesehenen Bebauung und Begrünung versucht man, sich zugleich des letzten größeren Armenviertels im Hauptstadtbe­zirk zu entledigen. Dessen Be­wohnerInnen leben schon seit Jahren hier und haben sich ihre Häuser schrittweise im Eigenbau verbessert. Nun müssen sich ca. 30.000 Menschen eine neue Heimat suchen. Ihre Chancen, sich den Lebensunterhalt als am­bulante HändlerInnen vor dem Bahnhof oder dem nebenan lie­genden Busbahnhof zu verdie­nen, wurden schon zuvor stark eingeschränkt. Hier darf nur noch verkaufen, wer die Stand­gebühr zahlt. Damit keine ille­galen Stände errichtet werden, hatte die Stadtverwaltung zu baulichen Maßnahmen gegriffen und große Blumenkübel auf die Gehwege zementieren lassen. Die peronistischen Bürgermei­ster folgen hier einer Tradition der Militärs, die zwischen 1976 und 1981 durch die Vertreibung von fast 300.000 Menschen aus ihren Vierteln versuchten, das Problem illegaler Siedlungen mit Gewalt zu lösen.

Sonstige Eingriffe der Ver­waltung erfolgen nur noch in Notfällen. Platzt eine Hauptwas­serleitung und setzt ganze Quar­tiere unter Wasser, wie in den Monaten Dezember und Januar gleich zweimal geschehen, wird eben repariert. Für eine regelmä­ßige Wartung fehlt das Geld. So ist das Kanalisationsnetz immer wieder verstopft und kann die anfallenden Wassermengen nicht ableiten. Bei starken Regenfällen kommt es regelmäßig zu Über­schwemmungen. Die Folgen sind der totale Zusammenbruch des Verkehrs und die zeitweise Still­legung von U-Bahn-Linien.
Das Stadtzentrum, in dem Banken, Regierungsgebäude und Kultureinrichtungen konzentriert sind, erstickt regelmäßig im Verkehrschaos. Die Stadtver­waltung setzt dem einen weiteren Ausbau des Straßennetztes ent­gegen. So muß am Retiro-Bahn­hof vor allem Platz für einen neuen Autobahnzubringer ge­schaffen werden. Auf der “breitesten Straße der Welt”, der 9 de Julio, sollen die bisher durch Parkplätze belegten Fahr­spuren erneut für den Verkehr freigegeben werden. Die Versu­che, zur Einschränkung der Luftverschmutzung die Zahl der fahrenden privaten PKWs zu be­schränken, wurden so stümper­haft durchgeführt, daß nicht einmal den VerkehrspolizistIn­nen klar war, wer mit welchem Kennzeichen an welchem Wo­chentag eigentlich Fahrerlaubnis hat, beziehungsweise auf welche Monate die Maßnahme eigent­lich beschränkt war.

Seit Jahrzehnten wird zwar zum ersten Mal wieder in die Erweiterung des U-Bahn-Netzes investiert. Allerdings wird nur eine der bestehenden Linien verlängert. Dem gabelförmig auf das Zentrum konzentrierten Netz fehlen jedoch die entlastenden Querverbindungen. Das Straßen­netz ist in schlechtem Zustand, was erheblich zur Verkehrsunsi­cherheit beiträgt. Mitte vergan­genen Jahres kalkulierte man im Hauptstadtbezirk etwa 50.000 überwiegend schlecht gesicherte Baustellen auf Straßen und Gehwegen, die durch die inzwi­schen gänzlich privatisierten Unternehmen für Telefon, Gas, Wasser und Elektrizität verur­sacht wurden und teilweise seit drei Jahren unverändert offen standen. Lediglich die Erneue­rung einiger inzwischen privati­sierter Fernstraßen schreitet voran. Gerade die immer stärker befahrenen Überlandstraßen, auf denen der Fernreiseverkehr in Bussen und der Gütertransport abgewickelt werden, sind jedoch bisher die reinsten Todespisten.
Täglich kommen in Argenti­nien 52 Menschen im Straßen­verkehr ums Leben. Dazu tragen aller­dings auch die zahllosen Un­fälle mit Taxis und Nah­ver­kehrs­bus­sen in Buenos Aires bei. Zur Er­höhung des Verdienstes der pri­vaten Trans­portunternehmen wird gerast. Nach spektakulären Busunfällen mit mehreren Toten im Haupt­stadtbezirk Ende letzten Jahres wurden nun schärfere Kontrollen und der Einbau von Geschwin­digkeitsreglern in den Bussen angekündigt.
Nach der neuen Verfassung soll die Hauptstadt nun politi­sche Autonomie erlangen, ihr Bür­germeister zum ersten Mal von den BürgerInnen selbst ge­wählt werden. Der Frente Gran­de-Kandidat Ibarra scheint nach den bisherigen Umfrageer­gebnissen der aussichtsreichste Kandidat zu sein. Nach Jahren der Korruption und Untätigkeit der Verwaltung, nach Jahrzehn­ten planloser Ent­wicklung schei­nen viele darauf zu hoffen, daß er die Fehlent­wicklungen stop­pen kann. Eine leichte Aufgabe übernimmt er allerdings nicht, denn inzwischen ist die Haupt­stadt mit 2 Mrd. Dollar ver­schuldet. Eine neue Planung muß entwickelt werde, der letzte Ge­neralplan datiert von 1962. Zu­dem werden strukturelle Verbes­serungen nur in Abspra­che mit der umliegenden Provinz mög­lich sein. Diese ist jedoch eine peronistische Hochburg und die gewachsene politische Bedeu­tung des Hauptstadtbezir­kes wird dort nicht nur Freun­dInnen fin­den.

Der tägliche Hindernislauf

Bei den Barrios der vene­zo­la­ni­schen Hauptstadt handelt es sich um illegale oder ge­dul­dete, in Selbst­hilfe ent­standene Spon­tan­siedlungen; aus anderen Län­dern auch als Fa­ve­las oder Barriadas bekannt. Von den schätzungs­weise fünf Millionen Ein­woh­nerInnen von Ca­racas le­ben über 70 Prozent in den Barrios, die sich vor allem an den umliegenden Hü­geln empor­zie­hen.
Das Stadtbild spie­gelt die so­ziale Entwicklung. Die seit den 80er Jahren anhaltende Wirt­schafts­re­zession sowie die Um­setzung des ri­gorosen IWF-Spar­programmes führte zu einer Verschärfung der extremen Ein­kommens­gegensätze innerhalb der ve­ne­zolanischen Ge­sell­schaft, die Massenarmut wuchs. Laut Jahres­berichtes der Men­schen­rechtsorganisation PROVEA (Programa Venezo­lana de Educación – Acción en Derechos Hu­manos) lebten 1991 79 Prozent der venezolanischen Be­völkerung in Armut, das heißt, hatten ein mo­natliches Einkom­men von weniger als 21.000 Bo­livar (1992: ca. 420 DM). Davon lebten 43 Prozent in kritischer Ar­mut mit einem Monatsein­kommen unter 12.000 Bo­livar.
Besonders in der Hauptstadt wird die rasche Ver­armung eines Groß­teils der Be­völkerung und die Zunahme der so­zialen und wirt­schaftlichen Ge­gensätze deutlich. Dies zeigt sich schon in dem äußerst kon­trastreichen Stadtbild: Während sich im durch die Tallage be­grenz­ten, geographisch günstigen Gelände vorwiegend mittelständische Ge­schäftszentren und Appartment­häu­ser der oberen Ein­kommens­schich­ten befinden, müssen die ein­kommensschwächeren Schichten auf die geographisch un­günstigen Rand­lagen auswei­chen.
Colinas de Palo Grande: Ein Barrio entsteht
Die soziale und techni­sche In­fra­struktur eines Barrios entsteht meistens in zwei Etappen: In der ersten Phase, nach der Besetzung ei­nes Grund­stückes, erfolgt der Bau proviso­rischer Hütten, in­di­viduelle Zu­gangsmöglichkeiten werden an­gelegt, Strom wird von den Lei­tungen des Nach­bar­barrios an­ge­zapft und Wasser in Be­hältern von einem Tankwagen geholt. Erst in der zweiten Phase, die mit der Gründung einer Nach­bar­schaftsorganisation und der Le­galisierung des Barrios in Form von Registrierung durch die Stadt­verwaltung be­ginnt, kommt es nach und nach zur Er­stellung ge­meinschaftsbezogener Einrichtungen, zum Beispiel den Bau einer pro­visorischen Stra­ßentrasse, so­wie zum An­schluß an die öffentliche In­fra­struktur. Theo­retisch liegt die Zuständig­keit für Errichtung, Er­haltungs- und Instandsetzungs­maßnahmen ab diesem Zeitpunkt bei der Stadt­verwaltung, be­zie­hungsweise bei den von ihr be­auftragten Pri­vatfirmen. In der Realität jedoch beschränkt sich die offizielle Unterstützung haupt­sächlich auf die aufwendi­gen Elemente der Ba­sisinfra­struktur, wie zum Beispiel den Bau von Wasser­pumpstationen und das Verlegen der Haupt­wasser- und Strom­leitungen. Der Großteil der Arbeiten muß von den BewohnerInnen selbst in Ge­meinschaftsarbeit geleistet wer­den. Dafür erhalten sie teil­weise staatliche Zu­schüsse für die Baumaterialien, in der Regel je­doch keinerlei Ar­beits­entloh­nung oder technische Un­ter­stützung. Auf diese Weise ist im Laufe von zehn Jahren das Barrio Coli­nas de Palo Grande entstanden.
Die ersten Hütten werden pro­vi­sorisch aus Ab­fallmateria­lien wie z.B. Karton und Span­platten gebaut. Sobald Geld und Bau­materialien vor­han­den sind, werden diese Pro­visorien durch Backsteine, Beton und Eisenträ­ger ersetzt und nach und nach auf­gestockt. In Colinas de Palo Grande überwiegen inzwischen solide Backsteinhäuser mit zwei bis drei Stockwerken. Lediglich an den Rändern des Barrios sind noch einfache ranchos zu sehen. Es handelt sich – wie alle älteren Barrios- um ein barrio con­solidado (gefestigtes barrio).
Die Häuser: Von Karton zu Beton
Infolge bau­technischer Fehler ergeben sich Ge­fahren für die Be­wohnerInnen. Sowohl durch den Bau auf instabilem Unter­grund, zum Beispiel auf ober- und unterirdisch verlegten Wasser­rinnen oder ero­sionsge­fährdeten Böden mit starker Hangneigung (durch­schnittlich 40 Prozent) als auch durch tech­nisch mangelhafte Baumateria­lien kann es zum Ab­rutschen und Sak­ken der Häuser kommen. De­ren Fundamente sind größtenteils weder vor Unterspülung durch unter­irdisches Hang­zugswasser oder den Wasseraustritt defekter Leitungen geschützt, noch haben sie aus­reichende Sta­bilität für eine spätere Auf­stockung. Durch die extrem ver­dichtete Bauweise potenzieren sich diese Probleme, da die Häuser direkt aneinander gebaut werden und die Stabilität der oberen Häuser oft von der Trag­fähigkeit der hang­abwärts lie­genden abhängt. Diese Bau­weise sowie der Mangel an ge­eigneten Bau­materialien sind auch die Ursachen für Licht­man­gel, Feuchtigkeit und unzurei­chende Durch­lüftung im Inneren der Häuser.
Beschwerliche Wege trotz asphaltierter Hauptstraße
Die Erschließung von Colinas de Palo Grande ist auf eine as­phal­tierte Hauptstraße be­schränkt, von der einige Stich­straßen und ring­förmige Neben­straßen abzweigen. Im Vergleich zu anderen Barrios, die größten­teils nur durch ein Treppen- und We­ge­netz erschlossen sind, ist die Situation in Colinas daher verhältnismäßig gut. Der Zu­stand der Straßen ist allerdings an ei­nigen Stellen sehr schlecht.
Hervorgerufen werden die Schäden entweder durch unterir­disch ver­laufendes Hang­zugs­wasser, undichte Wasser- oder Abwasser­leitungen, Aus­spü­lun­gen bei starken Regen­fällen oder unge­nügende Verdich­tung des Un-tergrundes beim Straßenbau.
Das Treppen- und Wegenetz erreicht durch die zahl-reichen von den BewohnerInnen selbst angelegten Zugänge zwar alle Häuser. Der Weg von der Straße aus ist jedoch für viele von ihnen lang und be­schwerlich. In an­de­ren Barrios errechnete man einen Höhen­unterschied um bis zu 50 Stockwerken eines Hochhauses.
Die Treppen befinden sich oft vollständig oder in Teilen in sehr schlechtem Zustand. Häufig fühlen sich weder die Anwohner­Innen noch die Stadt­verwaltung für die Säuberung oder Un­ter­haltung der Treppen und Wege zuständig, was im Extremfall bis zur Unbenutzbarkeit durch Müll- oder Schlammfluten nach star­ken Re­gen­fällen oder zu Schäden der We-gedecke führt.
Tägliche Warteschlangen an den Haltestellen
Die Route der Sammeltaxis in Colinas de Palo Grande bleibt auf die Hauptstraße beschränkt, da die Nebenstraßen selbst für die vierrad-an­ge­trie­benen Jeeps an vielen Stellen zu steil und kurvenreich sind. Versorgungs- und Lieferfahrzeuge erreichen höchstens die Hauptstraße, Not­fallfahrzeuge kommen nicht ins Barrio.
Da es zu wenig Jeeps gibt, kommt es besonders mor­gens und abends zu Wartezeiten von ein bis zwei Stunden. Die Warte­schlangen am Redoma de Ruiz Pineda, dem Ver­kehrsknoten­punkt am Fuße des Barrio-Hü­gels, ge­hören zum täglichen Bild und werden in der Regel mit er­staunlicher Ruhe hin­ge­nommen. Muß die Fahrt noch mit ver­schiedenen Verkehrs­mitteln bis ins Zentrum von Ca­racas fortge­setzt werden, sum­miert sich die Fahrzeit oft auf zwei bis drei Stunden. Um das Warten abzukürzen, ver­such­en einige Leute Jeeps zu chartern oder be­freundete Fahrer zu Sonder-fahr­ten zu bewegen, was oft auch gelingt, die regulären Wartezei­ten jedoch noch ver­län­gert.
Da für jedes Transportmittel extra bezahlt werden muß, ist das Verlassen des Barrios für viele BewohnerInnen nur selten mög­lich. Die Fahrt ins Zentrum er­folgt meist nur zur Arbeit, even­tuell in die Schule oder für be­sondere Ein­käufe. Veranstal­tungs­be­suche oder ähn­liches sind eher Ausnahmen.
Anzapfen des öffentlichen Stromnetzes
In einigen rela­tiv neu ent-stan­denen oder un­günstig gele-genen Gebieten von Colinas so­wie im angrenzenden Barrio Pe­dro Ca­mejo besteht bis­lang kein An­schluß an das öffentliche Strom­netz. Dort wird entweder Strom vom Nachbarhaus bezo­gen oder die nächst­gelegene Leitung am Strommasten ange­zapft. Diese Praxis führt zum Beispiel an der Grenze zu Pedro Camejo zu einem unüberschau­baren Kabelgewirr, dessen Ge­fähr­lich­keit durch Mutproben von Jugendlichen, die die Strom­masten zum Klettern be­nutzen, gesteigert wird. Von Zeit zu Zeit kappt die zuständige Firma die illegalen Leitungen. Den Be­wohnerInnen bleibt je­doch aus Mangel an Alternativen zunächst keine an­dere Wahl, als die pro­visorischen, zum Teil le­bens­gefährlichen An­schlüsse so oft wiederherzustellen, bis die Strom­versorgung durch die Stadt­ver­wal­tung ein­ge­richtet wird. Da­rauf müssen sie jedoch meist jahre­lang warten.
Die Müllabfuhr, bis 1989 von der staatlichen In­sti­tution IMAU (Instituto de Aseo Urbano para el AMC) durchgeführt, ist zwi­schen­zeitlich für das gesamte Stadt­gebiet von Caracas in die Hände von vier Privatfirmen übergegangen. In den Barrios werden auf Antrag der Bewohner­Innen zentrale Con­tainer zu Verfügung ge­stellt, die im Ge­gensatz zu den Containern in den Appartmentgebieten nicht ko­sten­pflichtig sind. Die Müll­fahr­zeuge kommen in der Regel zweimal wö­chentlich. Die An­zahl der auf­gestellten Con­tainer und deren Leerungsturnus rei­chen für das Müllaufkommen der ständig wachsenden Be­wohnerInnenzahl bei weitem nicht aus. Es ist auch zu beob­achten, daß für Kinder, die hauptsächlich zum Müllweg­brin­gen geschickt werden, die Con­tainer zu hoch sind, und von ih­nen deshalb nicht benutzt wer­den können. Oft ist an der ver­schmutzten Um­gebung der Con­tainer auch die unvollstän­dige oder un­regelmäßige Leerung schuld. Die Müllfahr­zeuge sind häufig kaputt oder schon auf halber Strecke voll. Brennende oder schwelende Container wer­den nicht geleert.
Wilde Müllkippen und Recyclingprojekte
Die Route der Wagen bleibt auf die Hauptstraße beschränkt, wo-durch der Weg bis zum öf­fentlichen Container für die Bar­rio-Leute oft extrem lang und beschwerlich ist. Hinzu kommt das mangelnde Bewußtsein der Bevölkerung für das Müllpro­blem. Beides führt dazu, daß der Abfall oft schon an der nächsten Ecke, auf einem ungenutzten Stück am Wegrand, einem Nach-bargrundstück, in der näch­sten Wasserrinne oder an einem Ab­hang entsorgt wird. Durch diese Praxis entstehen un­zählige wilde Müll­kippen.

Es kommt zur Übertragung von Krankheiten durch Herum­wühlen oder Spielen der Kinder im Müll sowie durch Hunde, Fliegen, Insekten und Ratten, die sich zahlreich vermehren. Durch angezündeten Müll entstehen starke Geruchsbelästigungen und schädliche Rauchentwicklung für die An­wohner­Innen. Bei starken Regen­fällen verstopfen Müllflu­ten die Straßen und Ab­wasser­kanäle, die dann oft unbenutzbar werden. Ver­sik­kernde flüssige Stoffe ver­schmutzen das Grund­wasser, und durch die Zer­störung der Vege­tation im Bereich der wilden Müll­kippen kommt es zu groß­flächigen Erosionen.
Andererseits gibt es aber auch einige Wieder­ver­wertungsan­sätze:
Ziemlich gut funktioniert das Sammeln von Aluminium-Do­sen, für die von einigen Unter­nehmen ein relativ hoher Preis bezahlt wird. Die Anzahl der Recycling-Firmen ist im Stadt­gebiet von Caracas jedoch noch sehr gering. In Colinas werden Aluminiumdosen re­gelmäßig von Kindern gesammelt, die da­für ein Taschengeld bekommen. Sie wer­den bei einem Barrio-Bewohner ab­gegeben und von diesem selbst zum Weiterverkauf weggefahren. Andere Ab­fall­pro­dukte wer-den von den Leuten selbst ei­ner vielseitigen und ein­fallsreichen Wieder­verwertung zugeführt: Leere Dosen dienen oft als Blumentöpfe oder Waschgefäße, Zeitungspapier er­setzt das Toilettenpapier, Holz- und Me-tallreste werden zum Bauen benutzt. Die Verwendung organischer Abfälle zur Kompo­stierung wäre sicher wün­schenswert, ist jedoch im Barrio aufgrund von Platzmangel nur bedingt möglich. Ein von einer Nichtregierungsorganisation vor-geschlagenes Altpapier­sammel­projekt erwies sich als reali­tätsfern, da das we­nige Papier, das im Barrio an­fällt, haupt­sächlich als Toiletten­papier ver­wendet wird.
Der chronische Wassernot­stand
Die Wasserversorgung ist derzeit wohl das gravierendste Problem in Colinas. Obwohl die Mehrzahl der Haushalte an die öffentliche Versorgung ange­schlossen ist, wird nur alle 8-14 Tage für einige Stunden Wasser ins Barrio gepumpt. Daher ist der Tag, an dem das Wasser kommt, stets mit einem Ausnahmezu­stand zu vergleichen. Während dieser Zeit ist das ganze Barrio auf den Beinen: Solange das Wasser läuft, wird Wäsche ge­waschen, geduscht, geputzt und das kostbare Naß in Tanks und Tonnen gespeichert – unabhängig vom normalen Tagesablauf und Zeitrhythmus. Die Bevölkerung hat vor allem während der Trok­kenzeit häufig mit Wasser­knappheit und -mangel zu kämp­fen. Am stärksten davon betrof­fen sind die oben gelege­nen Haushalte, da durch unzurei­chende Pumpleistung, starke Wasserverluste durch undichte Rohre und das Auffüllen größe­rer Tanks im unteren Siedlungs­bereich nur ein geringer Teil der Wassermenge oben ankommt.
Die Wasserversorgung für Ca­racas und die gesamte Küstenre­gion erfolgt neben einem großen Staudamm im Landesinnern le­diglich über drei Stauseen im Stadteinzugsgebiet. Daher kommt es regelmäßig zu Versor­gungsdefiziten und Rationierun­gen. Die Wasserqualität leidet trotz der Zugabe chemischer Desinfektionsmittel wie Jod und Chlor durch das Aufwirbeln von Sedimenten bei geringer Wasser­menge im Klärbecken der Auf­bereitungsanlagen. Dazu kommt, daß das System der Haupt­wasserleitungen bereits sehr ver­altet und schadhaft ist und An­zahl und Durchmesser der Rohre für eine wesentlich kleinere Einwohnerzahl bemes­sen wurde. Der Wasseraustritt aus Lei­tungslecks wiederum hat andere weitreichende Folgen, wie zum Beispiel die Unterspü­lung von unbefestigten Gebäu­den, Unter­grundsackungen und Erosion. Für Erhaltungsmaß­nahmen und Reparaturen wäre eigentlich die Wasserbehörde zuständig, wel­che sich allerdings kaum um diese Angelegenheiten kümmert. Auch in diesem Be­reich sind die BewohnerInnen also vor allem auf Selbsthilfe angewiesen.
Die Abwässer – ein unge­klärtes Problem
Ein sehr schwerwiegendes, stadt­übergreifendes Problem ist das Fehlen jeglicher Art der Ab­wasserklärung. Dies hat eine sehr starke Verschmutzung und Belastung der Flüsse mit Indu­strie- und Haushaltsabwässern zur Folge. Eines der Hauptpro­bleme im Barrio liegt darin, daß die Abwasserrohre und -kanäle trotz der für die Entsorgung gün­stigen Hanglage häufig verstopft sind. Durch austretendes Abwas­ser kommt es zu Überschwem­mungen, Geruchsbelastungen und hygienischen Problemen. Da die Abwasser- und Frischwas­serleitungen oft direkt neben- oder übereinander verlaufen, kann ein Leck des einen Rohres leicht zu Beschädigungen des benachbarten und damit zur Ver­unreinigung des Wassers führen.
Ein weiteres Problem sind die offenen Abwasserrinnen, um­funk­tionierte natürliche Wasser­läufe. Da einige von ihnen unbe­festigt sind, sickern die oftmals auch mit Problemabfällen wie Chemikalien, Farbresten und Öl vermischten Abwässer der Klein­gewerbebetriebe und Werk­stätten direkt ins Grund­wasser.
Selbsthilfe zwischen Institutionalisierung und Spontanaktionen
In Colinas de Palo Grande bildeten sich bereits mehrere Selbsthilfeorganisationen, teils aus Eigeninitiative, teils durch Anregung externer Gruppen. Es existieren zwei Nachbarschafts­organisationen (ASOVI/ Aso­cia­cion de Vecinos) als offiziell an­erkannte Ver­handlungspartner zwischen Barrio-Bevölkerung und Stadt­verwaltung. Sie unter­liegen strengen gesetzlichen Vor­schriften, sind bürokratisch ein­gebunden und hierarchisch strukturiert und damit in ihrer Eigendynamik stark einge­schränkt. Durch die starke Posi­tion der Präsidentin oder des Präsidenten ist die Organisation leicht kontrollierbar und oft par­teipolitisch unterwandert. Dies führte in Colinas bereits des öfte­ren zu Konflikten sowohl inner­halb einer Organisation als auch zwischen den beiden benach­barten ASOVI und verhinderte eine sinnvolle Zusammenarbeit. Allerdings bietet diese Organi­sationsform die einzige Mög­lichkeit, mit offiziellen Stellen zu verhandeln und Anträge zu stellen.
Die Gemeinwesenarbeit wird somit auf Mängelerfassung, An­tragstellung und Behördengänge reduziert und die Organisation manchmal mit Tätigkeiten be­auftragt, die eigentlich im Auf­gabenbereich der Stadtverwal­tung liegen. Die Entwicklung und Ausführung eigener Ideen und Projekte tritt in den Hintergrund.
Des weiteren gab es seit der Barrio-Entstehung diverse, zeit­lich begrenzte Selbsthilfeorgani­sationen. Die Handlungsmög­lichkeiten dieser Initiativen sind allerdings sehr eingeschränkt, da ihnen sowohl die gesetzliche Anerkennung als auch fi­nan­zielle Unterstützung fehlen. In der Auseinandersetzung mit öf­fentlichen Institutionen haben die Selbsthilfeorganisationen kaum reelle Durch­setzungs­chancen, da sie weder in die Pla­nungs- und Ent­schei­dungs­prozesse einbezogen werden, noch gesetzlich aner­kanntes Mit­spracherecht haben.

In Colinas bildeten sich zum einen spontan entstandene Selbsthilfeorganisationen – meist in Form von Initiativen, um ge­gen ein konkretes Problem zu protestieren. Zum anderen gab und gibt es verschiedene Versu­che seitens externer Akteure wie zum Beispiel Nichtregierungsor­ganisationen, Selbsthilfegruppen in Colinas zu initiieren. So ar­beitete die Umweltschutzorgani­sation CENDA (Centro de Desa­rollo y Ambiente) von 1988 bis 1990 an einem Forschungs- und Aktionsprojekt, in dessen Rah­men sie vor allem Gesundheits- und Umweltschutzseminare ver­anstaltete und verschiedene Gruppen in den Bereichen Kul­tur, Sport und Umweltschutz in­itiierte. Die Fortführung dieser Aktivitäten scheiterte einerseits an persönlichen Problemen der Koordinatoren, andererseits an der mangelnden Motivation der Barrio-BewohnerInnen. Einige Ge­meinschaftsaktionen wurden auch durch Nachbarschaftskon­flikte verhindert.
Seit 1990 führt die Frauen- und Umweltschutzorganisation GEMA (Grupo de Estudios sobre Mujeres y Ambiente) den Ver­such fort, eine Selbsthilfeorgani­sation für die Frauen des Barrios zu gründen. Es bildeten sich vor­übergehend Gruppen zu Themen wie Familienplanung, Heilpflan­zenverwendung und Keramik­herstellung. Eine Vorschule wurde aufgebaut, zur beruflichen Ausbildung wurden Friseur- und Nähkurse angeboten.
Den beiden Organisations­formen Nachbarschafts- und Selbst­hilfeorganisation gemein­sam ist die mangelnde Konti­nuität durch die hohe Teilneh­merInnenfluktuation. Haupt­grün­de dafür liegen vor allem im Zeit- und Finanzmangel der Leute, welcher durch die Ver­schärfung der politischen Situa­tion und die steigenden Lebens­haltungskosten noch verstärkt wird. So stehen immer mehr per­sönliche Notwendigkeiten wie Hausbau, Ernährung und Ein­kommenserwerb im Vorder­grund. Zur politischen Mobilisie­rung zur Lösung kollektiver Pro­bleme kommt es erst dann, wenn sie existenzbedrohend sind.

Der vorliegende Beitrag erscheint in voller Länge in einer Publikation zum Thema Stadtentwicklung und Umwelt in der Reihe ASA-Studien beim Breitenbach Verlag im Herbst 1995

“Wohnen” auf stinkenden Mülldeponien

“Im März 1992 be­setzten 600 Fa­milien in den Rand­bezirken von Lima Land, das vormals als Müll­platz diente. Sie bauten über Nacht Unterkünfte aus Stroh­hütten. Die Polizei vertrieb die Familien und zerstörte die Hüt­ten, aber die Familien kehrten zurück… Die Sze­ne wiederholte sich mehrere Male, die Men­schen kehr­ten jedesmal zurück. Sechs Mo­nate später war das Land mit den Behausungen von 100.000 Personen besetzt.”
Mit dieser Be­schreibung als Grund­lage quali­fizierte der Be­völkerungsfonds der Vereinten Nationen in seinem Bericht zur Lage der Welt­be­völ­ke­rung vom ver­gangenen Jahr die Hauptstadt Perus mit ihren sechs Millionen Ein­woh­nerInnen als “unhaltbare Stadt”. Ein Blick in die Umge­bung von Lima läßt die/den un­vorbereitete/n Be­sucherIn ver­muten, fehlender Wohnraum sei das Hauptproblem Limas – jener Stadt, die einst DichterInnen und Schrift­stel­lerInnen wegen ihrer sprich­wört­lichen Schön­heit in­spirierte. Heute wächst sie in­mitten von Un­ordnung, fehlender Pla­nung und Um­welt­zerstörung. In Wirklichkeit ist dies aber nur eine weitere offen­kundige Kom­ponente einer seuchenartigen Krank­heit, die von den Exper­tInnen “extreme Armut” genannt wird.
Hütten, die an den Bergen kleben, stellen offen ihre Mängel zur Schau . Es sind stinkende ärmliche Be­hau­sungen, in denen zehn bis zwölf Personen in ei­nem Raum leben. Tau­sende von Menschen wohnen buch­stäblich auf dem Müll. Die An­sied­lungen werden ironischerweise “junge Dörfer” genannt und zeigen deutlich den Stand der Armut in die­ser Hauptstadt. Laut dem Zensus von 1993 stieg innerhalb von zwölf Jahren der Anteil der “impro­vi­sier­ten Woh­nun­gen” von 1,3 auf 9,6 Prozent. Unter diesen schön­färbenden Begriff fallen Wohnungen aus Stroh, Pappe und Plastikfolien. Die Zahl der Grundstücke, “die nicht zum Wohnen geeignet sind”, wuchs ebenfalls von rund 6.000 auf 14.000. Allein im Zentrum von Lima existieren mehr als 10.000 ärm­liche Unterkünfte, die von den Be­hörden für Zivil­schutz als un­bewohnbar erklärt wurden.
Leben in Boca Negra
Die Familie Lopez ist ein ty­pisches Beispiel für die Entbeh­rungen, mit denen sich die Be­wohnerInnen in extremer Armut in der peruanischen Hauptstadt herum­schlagen müssen. Ihre Ge­schichte gleicht den Ge­schichten von sieben der zehn “Limeños” (BewohnerInnen von Lima), die laut Statistik als “arm” gelten: Ge­legenheitsarbeiterIn, mit Ein­künften, die 100 Soles (weniger als 50 US-Dollar) mo­natlich nicht über­steigen. Drei Kinder, Ehefrau, Eltern und ein behin­derter Bruder müssen unter­halten werden. Die Lopez leben in einer Hütte aus Stroh in einem der ärmsten Elendsviertel Limas: Bocanegra (schwarzer Schlund). Er­rich­tet auf einer ehemaligen Müll­kippe am Fluß Rímac, ist der Ort von den mehr als 32 Mülldeponien und ehemaligen Minen in der Nähe hochgradig vergiftet.
“Wenigstens sind wir in der Hauptstadt”
“Wir essen mit­tags in der Volks­küche, ein Frühstück gibt es nicht. Für die Kleinen ja, weil sie an dem Pro­gramm ‘Ein Glas Milch’ teilnehmen” (das den Kindern im Schulalter und schwangeren Frauen ein kosten­loses Frühstück be­wil­ligt), er­klärt Adelaida, die Ehe­frau. “Wir wissen, daß dies vor 20 Jahren eine Müllkippe war, so haben wir uns mit allem hier abgefun­den”, versucht sie, zu scherzen. “Wir haben nichts, wohin wir gehen können. Manchmal denke ich, es wäre besser, wenn wir zu­rückgingen, aber dort ist es schlechter als hier, wenigstens sind wir in der Hauptstadt”.
Adelaida und ihr Mann Jorge stammen aus der Provinz Chim­bote, der ärmsten Region des Landes. In ihrem einzigen Raum von etwa zehn Qua­dratmetern wohnen sie mit Hühnern, “die uns am Wochen­ende ver­sor­gen”, und ei­nem Hund, “der uns vor den Ratten schützt”. Die Kälte halten sie durch mit Plastikbeu­teln überzogene Matten ab, “die uns außerdem vor den Spinnen schützen.” Drei Betten, einige Pappkartons mit Kleidung, ein Stuhl und ein Tisch, auf dem sich Hausgeräte und ein Kero­sinkocher türmen, vervollständi­gen das Mobiliar. “Wir leben schon seit zehn Jahren so. Wir kennen es nicht anders, wir kön­nen es auch nicht”, fügt Adelaida resigniert hinzu. Bezüglich der Krankheiten hat sie eine ganz spezielle “Philo­sophie”: “Immer stirbt man an irgendetwas. So­lange es möglich ist, muß man leben und die Ernährung der Familie sichern.”

Der Kinderarzt Augusto Arr­untegui, ehe­maliger Direktor der öffentlichen Wohlfahrt des Ha­fens von Callao, zu dem Boca­negra gehört, kennt die Situation in den Armenvierteln. Er rechnet Allergien, Atemwegserkrankun­gen, parasitäre Infektionskrank­heiten, Tu­ber­ku­lose und sogar Hirn­haut­ent­zün­dung zu den Krankheiten, die eine Folge der Menschenanballung sind. Man schätzt, daß in Callao bis zu ei­nem halben Dutzend Müllkippen existieren, auf denen Wohnsied­lungen gegründet wurden. Der unerträgliche Gestank, die Mük­ken, der Drogen­konsum und die wachsende Krimi­nal­ität sind cha­rak­teristisch für dieses Gebiet und geben ein Bild von der Um­gebung, in der Tausende von Menschen zur Welt kommen, auf­wachsen und ster­ben.
48 Prozent der Kinder sind chronisch unterernährt
Die Zahl der chronisch Unter­ernährten in diesen Zonen wächst. Nach einem nationalen Zensus unter SchülerInnen im vergangenen Jahr leiden 48 Pro­zent von ihnen im Alter zwi­schen sechs und neun Jahren unter chro­nischer Unterernäh­rung. Der überwiegende Teil da­von, etwa 84 Prozent, lebt in den Elends­vierteln. Nach einer Stu­die ver­wenden die ärmsten Fa­milien Limas zwei Drittel ihrer finanziellen Mittel für die Ernäh­rung, können sich aber nur die billigsten Grund­nahrungsmittel lei­sten: Brot, Reis, Kartoffeln und Zwiebeln. Nudeln und Rind­fleisch kommen gelegentlich bei denen auf den Tisch, denen es etwas besser geht. Früchte z.B. gibt es ganz selten.
Empfehlungen einer ange­messenen Preis­politik für die Grundnahrungsmittel wie Milch, Fisch, Gemüse und Knollen­früchte sind eine Utopie ange­sichts der derzeitigen Wirt­schaftspolitik Perus. Überein­stimmend weisen ver­schiedene Be­reiche darauf hin, daß die So­zial­politik der Re­gie­rung im Be­reich der extremen Armut ver­sagt. Im vergangenen Jahr wur­den nur 2,7 Prozent des Brutto­sozial­pro­duk­tes für die sozialen Be­lange dieser Sek­tor­en aufge­wen­det. Laut einer Definition des peruanischen Sta­tis­tikinsti­tutes gilt eine Person in Peru als “extrem arm”, wenn sie ihre mi­nimalsten Be­dürf­nisse wie Woh­nen, Ge­sund­heit und Bildung nicht decken kann. Fast ein Viertel der 23 Millionen Perua­nerInnen be­findet sich in dieser Situation. “Arm” sind demnach 53 Prozent.
Untersuchungen verschiede­ner ExpertInnen und Nichtregie­rungs­organisationen (NGOs) weisen da­rauf hin, daß sich diese Situation in 20 Jahren ver­bessern würde, wenn das Brutto­sozial­produkt um drei Prozent jährlich stiege. Bei fünf Pro­zent träte die Verbesserung nach zwölf Jahren ein, aber bei nur ein Prozent wür­den 60 Jahre benötigt. Ein Glück für Präsident Fujimori, daß nach Schätzungen von inter­nationalen Organisationen das Wachstum des Bruttosozialpro­duktes in die­sem Jahr 6,8 Pro­zent beträgt. Doch dem gingen sechs Jahre negatives Wachstum voraus. Und eine internationale Institu­tion wie der “Rat für wirtschaft­liche Zusammenarbeit der Pazi­fikstaaten” befürchtet, die wach­sende politische und ökonomi­sche Stabilität Perus werde sich wahr­scheinlich “in mehr auslän­dischen In­vesti­tionen und im Tourismus nieder­schlagen, doch das hohe Ar­mutsniveau und die Arbeits­losigkeit können andau­ern… Für öffentliche Aus­ga­ben­programme wird das Geld feh­len”.

“Wir erkennen an, daß die Regierung viel für die Terroris­mus­be­kämpfung gemacht hat, aber es ist an der Zeit, daß sie sich auch um solche wie uns kümmert, die an Hunger sterben. Es gibt keine Arbeit. Sie nehmen uns die Hilfsprogramme weg. Wo werden wir bleiben? Was wird aus unseren Kindern?” Das sind die verzweifelten Fragen von Adelaida Lopez. Von den Behörden erhält sie darauf zur Zeit keine Antworten.

Die Nichtstadt oder der asphaltierte Bauernhof

Vom “Zunem” sieben Blocks Richtung Süden, einen halben Block nach unten, vor dem Haus steht ein blauer Lada. Meine Adresse. Aber auch die Ver­einten Nationen haben keine bessere Adresse: Vom spani­schen Platz 400 Meter Richtung Süden, bei dem Büro von Xerox. Oder: An der Hauptstraße von San Ju­das, den dritten Block nach unten, dort, wo die Ze­der stand. Das heißt, wo die Ze­der vor 1972, als ein Erd­beben große Teile der Stadt zerstörte, stand.
Zum Glück gehört Mana­gua mit seiner Million Ein­woh­ner­Innen zu den klein­sten Haupt­städten Latein­amerikas, so daß frau sich nach drei Monaten in dem Gewirr der Nicht-Orte be­stens zurechtfindet. Spätes­tens dann stellt sich die Frage: Was gibt es Neues zu entdecken, ha­ben fünf Jah­ren Chamorro Re­gierung der Stadt ein anderes Gesicht gegeben ? Um es gleich vor­wegzunehmen, viel getan oder verändert hat sich nicht. Die Stadt ist ein biß­chen größer ge­worden, aber sie wächst letztlich ent­gegen aller Befürchtungen nicht schneller, als andere latein­amerikanische Landeshaupt­städte. Die Trockenzeit dau­ert noch immer von Ende November bis Mitte Mai, und die grüne, ländliche “Stadt” gleicht dann einer einzigen Staub­wolke. Ver­dörrtes Gras an den Straßen­rändern, Bäume ohne Blät­ter, Mittagstemperaturen über 35 Grad steigern nicht ge­rade das persönliche Wohl­befinden. Doch guckt frau ein bißchen näher hin, so gibt es doch ein paar Neue­rungen, die ihre Exi­stenz haupt­sächlich US-amerika­nischen Gönnern oder Investoren zu verdan­ken ha­ben.
Ziele für Gläubige und Ungläu­bige
So zum Beispiel die neue postmoderne Betonkathe­drale. “Die Titten des Kardi­nals” er­kennt die Bevölke­rung in den vielen kleinen Betonkuppeln des auch an eine Moschee oder an ein Atomkraftwerk erinnernden Gebäudes. Für jeden Dollar, den die katholische Kirche Nicara­guas aufbrachte, spendierte der US-amerika­nische Pizzakönig “Domino” noch einmal zwei Dollar. Der reaktionäre Erzbi­schof Obando y Bravo kann jetzt endlich wieder in einem würdi­gen Gebäude mit den Reichen für die Gerechtig­keit im Land beten. Aber auch für die Ungläu­bigen hält die Stadt neue Ziele pa­rat: Zum Beispiel minde­stens drei neue erst­klassige Billardsa­lons. Gab es unter den Sandini­stInnen nur drittklassige Schmuddel­schuppen, so kann Mann jetzt in eisgekülten Räu­men eine flotte Kugel schieben. Die Bedienungen sind schick, flink und freundlich und an der Wand gibt’s eine riesige Video­leinwand, von der unentwegt Salsarhyth­men dudeln. Das wiederer­öffnete große Kino an der Straße nach Masaya scheint direkt aus Miami im­portiert zu sein. Popcorn, Coca Cola, Snickers, Mars und Bounty und natürlich Hot Dogs sol­len den Kinobe­such versü­ßen. Auch das Publikum setzt sich vorwie­gend aus englischsprechen­den Jungs und Mädels zusammen, die mit ihren Eltern wohl oder übel aus dem gelobten Land zurück­gekehrt sind. Hat das Kino­programm gerade gar nichts zu bieten, so lohnt sich vielleicht ein Besuch auf ei­ner der neuen Tankstellen. Ebenfalls erst im letzten Jahr eingeweiht, laden die rund um die Uhr geöffneten Prachtanlagen inmitten der ar­chitektonischen de Mana­guas zum Verweilen ein. Ne­ben zehn blitzsaube­ren, digi­talen Zapf­säulen ver­führt das “Shopping Center” von Esso mit dem kom­pletten Waren­angebot aus Miami zu einem abendli­chen Bummel. Oder wie wär’s mit einem Be­such bei Pizza-Hut? Das Perso­nal wurde eigens in Costa Rica ausgebildet, die Pizza schmeckt wie überall auf der Welt bei Pizza-Hut, und der mit hohen Gittern und nur durch das Re­staurant zu­gängliche Kinder­spielplatz wird immer ein Traum in Plastik für die Kinder blei­ben, deren Eltern nicht zu den oberen Zwanzigtausend Managuas ge­hören. Zu die­sen zählen übrigens alle, die in Managua mehr als 800 DM im Monat verdienen.
Lohnende Ziele für Musik­lieb­haberInnen
Für MusikliebhaberInnen er­gaben sich im letzten Jahr eben­falls vier lohnende Ziele. “La Buena Nota” der Gebrüder Carlos Mejia und Luis Enrique Mejia Godoy, die früher mit ihrer Musik die sandinistische Revolu­tion in der ganzen Welt be­kannt machten. Für schlappe 12 DM Eintrit kann man hier die StarkünstlerInnen von “damals” hören. Sie sind im­mer noch aus­gezeichnet, und ab und zu gibts auch ein paar Lieder, die nach 1990 ent­standen sind. In be­wußter Abgrenzung zu den Moder­nisiererInnen der “sandinis­tischen KünstlerIn­nen­bour­goisie” hat sich die Avant­garde der jün­geren Gene­ration eine eigene Domäne ge­schaffen: In der “Mala Nota” kann man schon für 1,50 DM Eintritt alte und neue Gags über Daniel Orte­ga und Tomas Borge hö­ren, echten Nica-Jazz, oder eine Per­siflage der großen Re­volutions-Songs der Ge­brü­der Godoy. Im “Schamanen” spielt die nica-bel­gische Gruppe “Grüner Penis”, einen latein­amerikanischen Rock, der das angefreakte ju­gendliche Publikum – sowohl Kinder des nica­raguanischen Exils als auch die Kids der sandi­nistischen Kader – außer Atem bringt.
Kulturmittelpunkt ohne Publikum
Das ehemalige Stadtzen­trum Managuas, d.h. der Ort wo auch heute noch die Ruinen der alten Kathedrale, des Parlaments und des “Gran Hotels” stehen, erin­nert immer noch an einen as­phal­tierten Bauernhof. Zwi­schen Katedrale und der Haupt­post, wo weiterhin Kühe und Ziegen gra­sen, ha­ben ein paar BewohnerInnen der illegalen Hütten Ba­nanen angepflanzt.
Dank der Demokratie und der Belohnung durch die In­dustriestaaten, darf die Re­gierung Chamorro nun für mehr als 6 Mio. US-Dollar von der ja­panischen Regie­rung das ehe­malige Par­la­mentsgebäude aufdon­nern: In einem enormen Kraftakt soll noch vor Beendi­gung der Wahl­periode ein schic­kes neues staatliches Museum ein­geweiht werden und gleich­zeitig sollen die Ruinen des “Gran Hotels” zum Kulturmittel­punkt der Hauptstadt avancieren. Sieht zwar alles ganz schick aus, nur mangelt es leider an Pu­bli­kum. Das unmotorisierte Volk findet selten zu der ent­fernten Kulturmetropole und das “gehobene Kultur­pro­gramm” be­geistert doch mehr internationale Funktio­när­Innen und die Ober­klasse an­statt die armen Massen.
Mehr Erfolg mit der För­de­rung der Volkskunst hat da der rechtsradikale Bür­ger­meister Arnoldo Alemán. Wenige hun­dert Meter wei­ter hat er etliche Tonnen Zement am Managua See ver­bauen lassen. So hat jetzt end­lich auch Managua einen “Malecón”. Dort läßt sich’s abends bei einem netten Wind­chen an den zahllosen Buden ein kaltes Bier schlür­fen, nur Pech, wenn der Wind direkt vom See kommt: Der See ist hoch­gradig ver­schmutzt und stinkt ganz fürchterlich.
Boom in der Hotelbranche
Von staatlichen Woh­nungs­bauprogrammen oder der Legali­sierung be­setzter Land­striche, so wie unter den SandinistInnen stark ge­för­dert, ist kaum et­was zu se­hen. Es wird auch nur am ehemaligen Straßen­bau­pro­jekt weitergebaut, was vor 1990 be­reits geplant war. Beim Neubau von Kranken­häusern oder nen­nenswerten größeren Schul­neubauten ist ebenfalls Fehlan­zeige. Einen Miniboom erlebt derzeit die Hotelbranche. Nicht nur die Auswahl an Mittelklasse Hotels nimmt deutlich zu, son­dern auch die Zahl der Motels d.h. der Ort für Liebes- und an­dere Pärchen. In Mana­gua ist je­des dritte Hotel ein “Motel”. Die zu­nehmende familäre Enge hat in den letzten fünf Jahren auch für neue Motels der unteren Preisklassen einen Markt eröff­net.
Ob es jemals wieder ein Zen­trum von Managua ge­ben wird, ist sehr fragwürdig. Seit über zwanzig Jahren wer­den Stu­dien und Pläne ge­macht, das alte Zentrum un­ter Beach­tung der Erd­be­ben­zonen neu zu bebauen. Frau kann sich dann in einer Aus­stellung das Managua 2010 an­schauen, vorraus­ge­setzt sie findet sie dort, wo früher das Re­staurant “Terrasse” war, zwei Blocks in Richtung See, einen hal­ben Block hoch.

Modellstadt nicht nur für die Dritte Welt

Curitibas Probleme…
Trotz der zitierten ein­drucks­vollen Su­per­lative bleibt Curitiba eine Stadt der Dritten Welt. Straßen­kin­der machen aus der Straße eine in­formelle Ein­kaufs­quelle, Au­to­fahrerInnen be­ach­ten hier ebenso wenig wie sonst in der Dritten Welt das Rotlicht der Am­peln, Elendsslums signa­lisieren auch hier das Miß­ver­hältnis zwischen Wohnungs­be­darf und Wohnungs­angebot:
Sieben Prozent der 1,3 Mil­lionen Einwohner Curi­ti­bas wohnen in ungeregelten Stadt­rand- und Elendssiedlungen. Eine Folge der drastischen Be­völ­kerungszu­nahme in den 60er und 70er Jah­ren, als die Be­völkerungszahl von 345.000 (1960) auf 1.025.000 (1980) sprang, um sich in den 80er Jah­ren auf dem hohen Niveau von knapp 1,3 Millionen zu stabili­sieren. Frei­lich: Die Bevölke­rungsdichte läßt sich bei weitem nicht mit der von Los Angeles (11,5 Mil­lionen Ein­wohner auf 5.300 Quadratkilo­meter) verglei­chen. Den der Großraum Curi­tiba hat 1,976 Millionen Ein­wohner, die sich auf eine Flä­che von 8.736 Qua­dratkilometer ver­teilen. Die Kern­stadt Curi­ti­bas reicht je­doch mit 1,23 Millionen Ein­wohnern auf rund 500 Quadrat­kilometer an die Kon­zen­tra­tions­indizes von Los An­geles he­ran. 44 Prozent der Wohnungen ver­fügen nicht über ei­nen An­schluß an die städtische Ka­na­li­sation, ein höherer Pro­zent­satz als bei­spiels­weise in Belo Horizonte oder Sao Paulo. Eines von 40 Kindern stirbt vor Vollendung des er­sten Le­bens­jahres (in Porto Alegre nur eines von 80 Kin­dern). Ein Fünftel der schulpflichti­gen Bevölkerung ist des Lesens und Schreibens un­kundig (mehr als in Belo Hori­zonte). Mehr als 700 Personen ster­ben jährlich infolge eines Ver­kehrsunfalls, eine Rekord­zahl unter den bra­silianischen Me­tro­polen.
…und trotzdem ein Modell
Was macht Curi­tiba trotzdem zur Modellstadt? Hier möchte ich le­diglich drei hervorragende Ei­genschaften dieser Stadt etwas näher erläutern: Das in­tegrierte Ver­kehrsnetz (Rede In­tegrada de Trans­portes RIT), das Müllsor­tier- und -sammelsystem und den Stadt­entwicklungsplan (Plano Diretor)
Integriertes Verkehrsnetz
Trotz der großen Zahl von Ver­kehrs­toten ist das Transport­system Curitibas zum Aushänge­schild Nummer eins geworden. Das inte­grierte Ver­kehrs­netz be­steht aus ins­gesamt vier ver­schiedenen Bus­linien, die mit ei­ner Gesamt­länge von 791 km rund 80 Pro­zent der Stadtfläche Curitibas abdecken (eine hundert­pro­zen­tige Deckung ist bis zum Jahr 1998 mit einer In­vestition von 80,6 Millionen US-Dollar ge­plant). Diese Linien werden über insgesamt zwanzig Integrations-Bus­bahnhöfe so mit­einander ver­bun­den, daß der Fahrgast mit ei­nem einzigen Ticket zu einem Einheitspreis und mit bis zu vier­maligem Um­steigen jeden Punkt Curi­tibas mit ei­nem Bus erreichen kann.
Hervorstechendes Merkmal dieses Ver­kehrssy­stems sind seine Schnell­busli­nien. Ihre ins­gesamt 313 rote Schnellbusse ver­kehren auf Ex­klusivspuren die die konzen­trisch verlaufen­den Ver­kehrsli­nien der periphe­ren Stadt­teile mit dem Stadtzen­trum verbin­den. Obwohl auf diese Schnell­busse mit 48 Linien ledig­lich 316 km oder rund 40 Prozent des integrierten Ver­kehrsnetzes ent­fallen, sind diese Ex­press­bahnen für die weltweit aner­kannte Effi­zienz des curi­ti­ba­nischen Ver­kehrs­netzes ent­scheidend. Ob­wohl in der Effizi­enz durchaus mit einer U-Bahn ver­gleich­bar, ist insbesondere das “ligeirinho”-Netz erheblich billiger als eine U-Bahn: Die Anlage- und Be­triebskosten be­tragen rund ein Zwanzigstel der entsprechenden Kosten für ein U-Bahnetz. Durch “tubenartig” gebaute Bus­sta­tio­nen, die das Lösen des Fahr­scheins vor Be­tre­ten des Busses ermöglichen, wird der Zeitbedarf für den Ein­stieg auf ein Viertel der bei nor­malen Bussen benötigten Zeit gesenkt. Zu­sam­men mit der Be­nutzung von ex­klusiven Busspu­ren soll dadurch die durch­schnittliche Fahrge­schwin­dig­keit auf 32 Kilometer pro Stunde verdoppelt werden, womit die Fahrzeit bei einer Strecke von 20 km um bis zu eine Stunde ver­kürzt werden kann
Die Akzeptanz des öffent­lichen Nah­verkehrs in der Be­völkerung ist so groß, daß 75 Prozent der Stadtbevölkerung lieber mit öffentlichen Ver­kehrsmitteln als mit privaten fah­ren (Rio: 57 Prozent, Sao Paulo: 45 Pro­zent). 28 Prozent der rund 500.000 privaten PKW der Stadt bleiben werktags unbe­nutzt. Damit wird 25 Prozent weniger Kraftstoff ver­braucht als in ver­gleichbaren Groß­städten wie Re­cife und Belo Horizonte.
Zwar zählt der Bustarif in Curi­tiba mit 8.000 Cruzeiros zu den teuersten, doch dafür kann man mit einem Ein­heits­fahr­schein dank des voll­inte­grierten Ver­kehrs­systems Ziele im ge­samten Netz erreichen. Und das System erhält von der Stadt keine öf­fentlichen Gelder, im Gegensatz etwa zu Sao Paulo, wo das Nah­ver­kehrs­system mit täglich einer Million Dollar be­zuschußt wer­den muß. Auch bei der Auswei­tung des Schnellbus­netzes will die Stadtverwaltung den Staats­anteil möglichst gering halten: An dem für die nächsten vier Jahre geplanten Aus­bau der 41,7 km langen Nord-Süd-Achse und der 37,4 km langen Ost-West-Achse soll sich die Ge­meinde mit 35,2 Millionen US-Dollar, der Pri­vatsektor aber mit 45,4 Millionen US-Dollar betei­ligen. Das Ver­kehrs­netz wird mittels Kon­zessionen von pri­va­ten Un­ternehmen be­trie­ben. Ober­bür­germeister Jaime Lerner er­klärt, er könnte “den geringsten Busta­rif Bra­siliens einführen; doch die Stadt zieht es vor, wo­anders zu in­vestieren und das Verkehrssy­stem ko­stendeckend zu betrei­ben. Die Menschen sind zufrie­den.” Die erwähnte Kraft­stoff­einsparung von 25 Prozent brachte Bür­germeister Lerner 1991 den Preis des Washingtoner In­ternationalen In­stituts für En­ergieeinsparung ein.
Müllsortierung und Müllsammlung
Eine ähnliche Anerkennung hatte der Bürgermeister ein Jahr zuvor mit seinem Müll­ver­wer­tungssystem er­halten, damals war es der Um­weltpreis 1990 der Vereinten Na­tion­en.
Dieses Sy­stem läßt sogar die Favelas von Curitiba anders aus­sehen als in den anderem Großstädten Brasi­liens: Die Straßen sind inzwi­schen beleuchtet und sau­ber, weil die Slumbevölke­rung beim Sammelsystem aktiv mitmacht.
Gegen Abgabe von recycel­barem Müll erhält der Sammler einen Gutschein zur Benutzung öffent­licher Ver­kehrsmittel oder zum Bezug von Schulmaterial, von Gemüse oder Le­bensmitteln. Zwanzig­tausend Familien der ärmeren Stadt­viertel beteiligen sich an dieser sogenannten “Aktion Grün­tausch”. Bereits 95 Prozent des Mülls von Curitiba werden auf diese Weise sortiert. Zum Vergleich: In Montreal wird le­diglich ein Anteil von zehn Prozent des Hausmülls sor­tiert. So werden in Curitiba mo­natlich 750 Tonnen recycle­baren Mate­rials an die lokale Industrie ver­kauft.
Der Stadtentwicklungsplan
Dem Stadt­ent­wicklungsplan und seinem Autor, Ober­bürgermeister Jaime Lerner, ver­dankt es Cu­ri­tiba, daß die Verdreifa­chung der Bevölkerung in zwei Jahrzehnten nicht zur Ver­schär­fung so­zialer und öko­logischer Probleme geführt hat. Denn statt, wie noch zu seiner ersten Amts­zeit im Jahre 1971, auf gi­gan­ti­sche Bauwerke wie Brücken, Straßen, U-Bahnen und Wasser­bauten zu setzen, ließ sich Ar­chitekt Lerner vom Kon­zept einfacher Lösungen leiten: Er verbannte die Autos aus der Stadtmitte und führte Fuß­gän­ger­zonen ein, schuf Exklu­siv­spuren für Auto­busse, legte in der gan­zen Stadt zahlrei­che Grün­flächen an und entwic­kelte damit einen Gegenentwurf zum Stadt­ent­wick­lungsplan Bra­sílias: Statt die Stadtviertel nach Funk­tionen aufzuteilen (Re­gierungsviertel, Bot­schafts­vier­tel, Banken­viertel, Handels­viertel, Wohn­vier­tel), setzte er auf die bunte Mischung von Funk­tionen, Stilen, Kulturen und Ethnien.
Heute verfügt die Stadt Curi­tiba über 1.700 Hektar Parks, das ent­spricht einem An­teil von vier Pro­zent an der 430 Quadratkilo­meter großen Kern­stadtfläche. Die Parks ent­standen als Er­geb­nis der Suche nach einfachen Lösungen für ein gravierendes Pro­blem in einer vom Regen über­reich­lich be­dachten Stadt: Statt Fluß­läufe ein­zu­deichen, zu ver­tiefen und zu kanalisieren, legte die Stadt zahlreiche Seen an. Von weiten Parks umgeben, er­füllten sie seit­dem eine regu­lierende Funk­tion bei immer wieder auf­treten­dem Hoch­was­ser. Die Über­schwemmungen beschränken sich zumeist auf die umgebenden freien Flächen und lassen Häuser und Straßen unbe­rührt.
Auch beim Wohnungs­bau ver­tritt Lerner ein Mischkonzept. Statt eintöniger Be­tonklötze ließ er im Stadtkern kleinere Woh­nungs­einheiten er­richten. Die einzelnen Häuser dürfen dabei durchaus unter­schiedlich sein. Auf unter­schied­liche Funktio­nen wurde vor allem im histori­schen Stadt­zentrum ge­achtet. Statt die­ses für die An­siedlung von Bank-, Versiche­rungs- und Holding­büros zu re­servieren, die nach Feierabend gewöhnlich eine öde Innenstadt hin­terlassen, wurde die Ein­rich­tung von Im­bißbuden, Restau­rants, Büche­reien, Theatern, Ki­nos und Wohn­gebäuden geför­dert. Zum An­ziehungs- und Treff­punkt in der Stadtmitte ha­ben sich mitt­lerweile die “24-Stunden-Straße”, in der eine 120 Meter lange Galerie 34 Läden unter ei­nem Glasdach be­her­bergt, die Fußgängerzone und der histori­sche “Platz der Ordnung” ent­wickelt. Es gelang so, den Ver­fall des Stadtzentrums, wie er etwa in Sao Paulo immer noch weitergeht, zu verhindern. 1993 wurde zum 300-jährigen Jubi­läum der Stadt ein regelrechtes Feuer­werk an bunten, multikul­turellen Festen und Veranstal­tungen in zum Teil eigens er­rich­teten einfachen Draht- und Ei­sen­bau­ten ge-startet, darunter in der “Draht-Oper” (Opera de Arame), deren Grundriß von Lerner selbst entworfen wurde.
Kein Wunder, wenn Curitiba unter diesen Umständen mit jährlich zehn Mordfällen auf 100.000 Einwöhner weit unter­halb der Kri­mi­na­li­täts­raten von Sao Paulo und Rio de Janeiro liegt. Die Werte für Um­welt­verschmutzung sind halb so hoch wie die von Sao Paulo und ge­ringer als die von Porto Alegre in Rio Grande do Sul. Pro Einwoh­ner stehen 54 Qua­drat­meter Grün­fläche zur Ver-fügung. Die Be­wohner von Sao Paulo haben nur ein Drei­zehntel, die von Belo Horizonte nur ein Zehntel dieses An­gebots.
Kein Wunder auch, wenn Cu­ritiba einen guten Ruf in ganz Brasilien genießt. Einer reprä­sentativen Meinungsumfrage in Rio, Sao Paulo und Bauru (Hinterland von Sao Paulo) zu­folge haben 91 Prozent der Be­fragten “von Cu­ritiba gut spre­chen hören”, und 70 Prozent glauben gar, daß die dortigen Le­bens­verhältnisse besser sind als in ihren eigenen Städten.
Daß die Stadt trotzdem nicht mehr wie ein Magnet auf die von der Agrar­mo­der­ni­sierung be­trof­fenen, land­los gewordenen Klein­bauern wirkt, liegt zum einen daran, daß inzwischen in der Provinz Paraná eine Kette pro­spe­rierender Mittelstädte im Bin­nenland des Bundesstaates ent­stand, die die Funktion eines Auffangbeckens wahr­nehmen; zum Teil aber auch daran, daß es sich inzwischen he­rum­gespro­chen hat, daß Curitiba keine Ar­beits­plätze mehr für unqualifi­zierte Berufe, etwa im Bausek­tor, son­dern nur noch für höher gebildete Verwaltungsberufe und Freiberufler der gehobenen Schicht bietet.

Der Beitrag wurde gekürzt ent­nom­men aus der Tagungsdoku­mentation der Landeszentrale für Politische Bil­dung Baden-Würten­berg: “Ur­ba­ne Zu­kunft zwischen Wachstum, Ökologie und knapper Kasse.”

Krieg in den favelas – Fest auf dem Asphalt

Die Militäraktion ist inzwi­schen beendet – zumindest vor­übergehend. Es soll offensicht­lich dem neuen Gouverneur Marcello Alencar, der zur Partei des Präsidenten Fernando Henri­que Cardoso gehört, Raum gege­ben werden, mit einer Umstruk­turierung der Polizeikräfte wie­der selbst die Initiative zu ergrei­fen. Außerdem dürften auch die Kosten für ein langfristiges Ein­greifen der Militärs zu hoch sein.
Ein erstes Fazit: Die Aktion kann als Erfolg gefeiert werden. Was sie wirklich war, welche Ef­fekte sie gebracht hat, das steht auf einem ganz anderen Blatt. Es ist nur wichtig, wie sie medial dargestellt und auch von einem großen Teil der Bevölkerung be­griffen wird: die Militärs haben sich als Hüter der Ordnung be­währt. Allerdings war es kein Triumph: den Militärs ist es nicht gelungen, in ihrem viermo­natigen Wirken “den Sumpf des Drogenhandels trockenzulegen”. Aber dennoch scheint die An­sicht zu überwiegen – und von den Medien wird kräftig in diese Kerbe gehauen – daß der Einsatz der Militärs nicht das falsche Mittel war, sondern nur die Do­sis nicht ausreichte.
Die Aktion der Militärs war also weniger ein realer Feldzug gegen die Drogenbanden, son­dern eher ein großer Versuch – oder besser vielleicht eine große Übung der Bevölkerung in Mili­tarisierung. War dies das wirkli­che Ziel des Einsatzes, dann war er ein Erfolg. Die Militärs haben, genau zehn Jahre nach dem Ende der Militärherrschaft, ihre Rolle als innenpolitischer Akteur, un­terstützt durch demokratische Parteien, restauriert. Aber wich­tiger ist vielleicht noch etwas anders: sie haben eine Sichtweise popularisiert, in der die Stadt zum militärischen Raum wird.
Die favela –
feindliches Gebiet
1977, so wollen es wenigstens die ExpertInnen wissen, begann in den favelas von Rio eine neue Entwicklung. Der schon länger bestehende Drogenhandel be­waffnete sich zunehmend. Späte­stens 1982 war klar, daß der Staat das Gewaltmonopol in ei­nem großen Teil der Stadt verlo­ren hatte.
1982 verkündete der populi­stische Gouverneur Leonel Bri­zola das Ende der willkürlichen Polizeiaktionen in den favelas. Sie hörten zwar nicht auf, ver­minderten sich aber dra­stisch. Bis heute wird daher von der Presse und den rechten Poli­tikern Brizola die Schuld für die Eta­blierung der rechtsfreien Räu­me gegeben.
Für lange Zeit herrschte ein fragiles Nebeneinander: Drogen­banden beherrschten einige Vier­tel, es gab den anderen Teil der Stadt, “Asphalt” genannt, und eine Polizei, die zu einem großen Teil Komplizin der illegalen Ge­schäfte wurde, beziehungsweise sie selbst aktiv betreibt.
Das stete Anwachsen der Kriminalität ließ Rio in der Mordstatistik zur drittgefährlich­sten Stadt der Welt aufsteigen, nach Kairo und Johannesburg, weit vor den us-amerikanischen Städten. In den acht­ziger Jahren wurden Unsicherheit und Angst zum festen Bestandteil des Le­bensgefühls der cariocas (Ein­wohnerInnen von Rio) aller Schichten.
Insbesondere die immer zahl­reicheren Entführungen zeigten, daß die Einmauerung der Rei­chen nicht mehr hinreichenden Schutz gewährte und daß das or­ganisierte Verbrechen nicht in den favelas blieb.
Einer der wichtigsten Aspekte der Kriminalität ist die weitge­hende Kriminalisierung des Poli­zeiapparates. Zwar erkennen fast alle PolitikerInnen auch den so­zialen Hintergrund der Probleme an, aber bei Lösungsvorschlägen überwiegt der Ruf nach der “starken Hand”. In einem langen Krieg um die Köpfe wurde eine komplizierte soziale Situation auf ein Feindbild reduziert: die Bewaffneten auf den Hügeln.
Damit wurden aber auch die favelas zum feindlichen Territo­rium erklärt und so die soziale Situation insgesamt territo­ri­a­li­siert. Die reale Spaltung des Stadtgebiets wurde Aus­gangspunkt für eine militärische Triage: Hier die auszusondern­den und zu bekämpfenden Fein­de, dort der zu schützende As­phalt. (Der Begriff Triage wurde im ersten Weltkrieg ge­prägt: französische Kranken­schwestern sondierten die Fälle in drei Kate­gorien: die einen, die sofort be­handelt werden mußten, die an­deren die warten konnten und schließlich die, die keine Be­handlung mehr bekamen.)
Die “korrekten” Militärs
Während der ECO 92: fuhren zum ersten Mal Panzer vor der größten favela Rios (Rocin­ha) auf und richteten ihre Ge­schütze auf die Häuser. Die Legitimation eines solchen Ein­satzes ist nicht mehr der Schutz der Einwohner der fa­vela vor den Drogenhänd­lern, son­dern der Schutz des Asphal­tes vor der favela.
Diese Vision einer territoriali­sierten Militarisierung der so­zialen Frage wurde durch jüngste Militäraktionen weiter ausge­baut. Warum aber wurde die Aktion von der überwiegenden Mehrheit der Favelabewoh­nerInnen offensichtlich unter­stützt? Anscheinend sahen viele in den Militärs eine neutrale Macht, die sie vor der doppelten Bedrückung durch Drogen­ban­den und Polizei schützen könne.
Tatsächlich hat die Militärak­tion nicht zu dem befürchteten Blutbad geführt, trotz vieler zahlreicher Übergriffe und einer klar doku­mentierten Folterung haben sich die Militärs “korrekter” Verhalten als die ge­fürchteten Polizeikräfte. Dies unterstützt die These, daß der Militäreinsatz weniger ein Krieg gegen den Drogenhandel war als einer um die Köpfe. Schließlich findet sich in den favelas ja nur die unterste Stufe eines Milliar­dengeschäfts, und die gefürchte­ten bewaffneten Drogenbanden bestehen zum großen Teil aus Minderjährigen.
Auch die internationale Be­richterstattung, die den Dro­gen­krieg und die sichtbare Kri­mi­na­lität lustvoll ausschlachtet strickt an dem Feindbild fa­vela (= Be­dro­hung durch die Armen) mit.
Krieg der Bilder
Die Bürgerkriegszenen am Zuckerhut geben eindrucksvolle Bilder ab. Niemand hingegen re­cherchiert die Drogenroute in Brasilien, die Verbindungen des Waffenhandels, der die Drogen­banden mit modernsten Waffen versorgt, und Finanzierungsme­chanismen dieses Riesenge­schäfts. Das gibt erstens keine Bilder und ist zweitens ungleich gefährlicher als hinter den Schußwechseln herzuwetzen. Medienberichterstattung und Mi­litäreinsatz verschränken sich zu einer Imaginisierung (imago = Bild) des Sozialen. In der Geo­grafie der Stadt spiegelt sich das gesellschaftliche Gefüge als eine schwierige Mischung aus Reali­tät und medialer Bildpro­duktion.
Das zu befürchtende Resultat: immer mehr Menschen werden bereit sein, territorial-militäri­sche Antworten auf gesellschaft­liche Probleme zu akzeptieren. Reale Spaltungen der Stadt (Asphalt – favela), werden dazu genutzt, militärisch Gräben zu ziehen.
Viele sehen in Rio heute ein Symbol des Verfalls. Das politi­sche Zentrum ist nach Brasília verlegt worden, Sao Paulo ist die boomende Industrie- und Fi­nanzmetropole – Rios Anteil am nationalen Bruttosozialprodukt sinkt hingegen ständig. Muniz Sodre, einer der bekanntesten brasilianischen Sozialwissen­schaftler, sieht das an­ders: Rio sei nach wie vor die brasiliani­sche Medienhauptstadt und da­mit hegemonial in der Produk­tion des Imaginären. Der all­mächtige Sender Globo hat hier sei­nen Sitz, und keine an­dere Stadt produziert und reprä­sen­tiert so sehr das Bild Brasili­ens wie Rio. Und wenn der Kampf um die Zukunft vor allem ein Kampf um die Bilder ist, dann ist die hier skizzierte Pro­duktion des imaginären Rios keine Ne­ben­sache. Sie öffnet den Weg für die Militarisierung der so­zialen Kon­flikte in den Städ­ten.
Die Militäraktion wurde von einer Optimismuspropaganda in den Medien begleitet. Rio erholt sich, eine neue Regierung tritt an, die Ära des bei Globo ver­haßten Brizola ist zu Ende, das Militär sorgt für Ordnung, die wirtschaftliche Stabilisierung für die Explosion des Bierkonsums.
Erster Höhepunkt war die Sil­vesterfeier von angeblich drei bis vier Millionen am Strand von Copacabana zum Gesang von Rod Stewart. Das Fernsehen zeigte ständig begeisterte Touri­stInnen, seit Jahren zum ersten Male waren wieder alle Hotels zum Karneval ausgebucht. Krieg in den favelas und Fest auf dem Asphalt?
Nach dem Karneval
Tatsächlich waren fast alle BesucherInnen überrascht, wie wenig von der Militäraktion im Alltag zu sehen war. Jetzt, im März, sieht schon wieder alles ganz anders aus: Die Polizeista­tistik zeigt zwar einen leichten Rückgang bei Tötungsdelikten während der Militäraktion, an­derseits sind die Entführungen und Banküberfälle stark gestie­gen. Der Drogenhandel hat an­scheinend einen gewissen Um­satzrückgang aus anderen Ein­nahmequellen kompensiert.
Die Zeitungen zeigen wieder das übliche Gewaltspektakel: Hundert Bewaffnete stürmen ei­ne favela im Kampf um die Ver­kaufspunkte. Ein Nacht lang tobt der Krieg im Komplex Mare, der unmittelbar an der Edelschnell­straße Linha Ver­mel­ha liegt, die den Flughafen mit der reichen Südzone verbin­det. Die Polizei empfiehlt in die­ser Nacht, die Straße nicht zu benut­zen, anson­sten greift sie nicht ein. Bilanz am nächsten Tag: acht Tote. Es war eine der größ­ten Aktionen im Drogen­krieg.
Die Banden haben die Miltär­intervention offensichtlich ziem­lich unbeschadet überstanden. Erstmal also wieder business as usual.
Exekution vor dem Shopping-Center
Es war ein anderes Verbre­chen, das die veröffentlichte Meinung nach der Militäraktion am meisten beschäftigte: Im Shopping Center Rio Sul nimmt die Polizei drei Diebe fest. Ein Polizist zieht einen der Festge­nommenen hinter den Polizei­wagen und erschießt ihn – vor den Augen Hunderter Schaulu­stiger und den Fernsehkameras von Globo. In den nächsten Ta­gen werden Zeitungen, Radio und Fernsehsender mit Anrufen und Zuschriften bombardiert, die den Mord unterstützen.
Dabei ist es nicht zufällig, daß sich der Mord vor einem Shop­ping Center abspielte. Die riesi­gen Einkaufszentren sind die Zu­spitzung der anderen Territoriali­sierung der Stadt. Ist die Welt des Asphalts schon unsicher ge­worden, so ist die alte Sicherheit in den geschützten Tempeln des Konsums nicht gefährdet. Hier können Mittel- und Oberschicht ungestört von Straßenkindern, BettlerInnen und Dieben einkau­fen, essen, Schaufenster beguk­ken. Rigide Wachen halten alle, die “marginal” aussehen, aus den Shoppings heraus. Das künstli­che Paradies der Shoppings ist das Pendant zum produzierten Inferno der fa­velas, zwei Ex­treme in der städtischen Triage.
In den letzten Jahren ist die Zahl der Einkaufszentren in allen Städten Brasiliens explodiert. Ein Raub im Shopping ist kein normaler Raub: er ist ein Ein­bruch in den sakralen Raum des Konsums. Daher die brutale Re­aktion des Polizisten, daher der Applaus.
Das Beispiel Rio ist lehrreich und kann einige Bilder von der Entwicklung der Städte Latein­amerikas differenzieren: Mili­täraktion, Fest und Karneval vertragen sich bestens. Es ist nicht die einfache Dekadenz, das Auseinanderbrechen, Beirutisie­rung oder Bosnisierung, mit der sich die Entwicklung kennzeich­nen läßt: Krieg und Tourismus­boom können gleichzeitig statt­finden.
Apokalypse Now oder
Der Krieg als Fest
Die Militarisierung und Ter­ritorialisierung der sozialen Spannungen funktioniert nicht perfekt, aber sie garantiert doch eine, wenn auch labile, Stabilität. Nicht der Zusammenbruch der Städte, ist die erschreckende Vi­sion, sondern ein ungeheuerli­ches Funktionieren, das die Gleichzeitigkeit von Krieg und Karneval ermöglicht.
Zwei unterschiedliche theore­tische Konzepte, mit denen Sozi­alwissenschaftlerInnen in Deutsch­land in den letzten Jah­ren einen Zugriff auf postmo­der­ne Realitäten versuchten, können die Situation in Rio schlag­wort­artig kennzeichnen: Risikoge­sell­schaft und Erlebnis­gesellschaft.
In dem individualisierten Streben nach Erlebnis wird das Soziale sekundär, schlägt aber in Form von Gewalt als Risiko zu­rück. Daß von Ober- bis Unter­schicht die Eliminierung des Ri­sikos zum vereinfachten Pro­gramm wird, kann kaum ver­wundern. Shoppings sind die Ins­zenierung einer bestürzend re­duzierten Erlebniswelt. Das Ri­sikos wird eliminiert.
Daß diese städtische Triage gewaltsam gesichert werden muß, zeigen die Exekutionen und Militäraktionen gegen die favelas. Die Postmoderne in Rio verspricht also nicht das fröhli­che Nebeneinander ver­schie­dener Lebensstile, sondern die territoriale Festschreibung der sozialen Unterschiede. Sie ver­spricht damit auch das pre­käre Funktionieren einer zutiefst ge­spaltenen Welt, in der die durch den Markt regulierten Le­benschancen extrem ungerecht verteilt sind.
Mit den bisherigen Ausfüh­rungen soll eine Tendenz cha­rakterisiert werden. Die Realität ist, Gott sei Dank, komplexer. Die favelas sind nicht nur das dem Asphalt feindliche, mi­li­tä­risch abgeschirmte Territo­rium.
Die Verbindungen zwischen Asphalt und favela sind vielfäl­tig: Die BewohnerInnen sind ge­schätzte und schlecht bezahlte Arbeitskräfte (insbesondere im Dienstleistungssektor), die Leute vom Asphalt kaufen die Drogen in den favelas. Und, in diesem Zusammenhang am wichtigsten, die favelas sind Ausgangspunkt der größten kulturellen Massen­bewegung Brasiliens in den letzten Jahren, der bailes funk: riesige und billige Tanzveran­staltungen, die jedes Wo­chen­ende mehr als eine Million Ju­gendliche in den armen Stadt­vierteln und favelas anziehen.
Die unpolitische Funkmusik weicht seit zwei Jahren zuneh­mend politisiertem Rap, immer mehr Gruppen greifen in ihren Texten Alltagserfahrungen von Gewalt und Rassismus auf. Na­türlich gehen die meisten Ju­gendlichen hierher, um zu tanzen und sich zu amüsieren. Erstaun­lich ist aber, in wie kurzer Zeit, unabhängig von den großen Me­dienkonzernen eine eigenstän­dige kulturelle Bewegung ge­wachsen ist.
Das Nebeneinander von Krieg und Fest verläuft also keines­wegs entlang der Linie favela – Asphalt. Auch die favela feierte im Krieg. Aber diese Feiern sind auch eine Antwort in Richtung der Panzergeschütze, sie sind ein Moment des Widerstandes gegen die mediale Infernalisierung der favelas und ihrer Festschreibung als feindliches Territorium. In­teressant ist, daß die bailes funk eine immer größere Anziehungs­kraft auf die Jugendlichen des Asphalts ausüben. Immer mehr von ihnen wagen, meistens ver­borgen von ihren Eltern, den Weg in die favela. Berühmte DJs wie Marlboro veranstalten in­zwischen bailes funk in Mittel­schichtdiskotheken.
Die bailes funk ritualisieren auch die gewalttätige Konkur­renz zwischen Jugendgruppen aus verschiedenen favelas und waren daher immer wieder Ort blutiger Kämpfe. Die Medien versuchten daher, die bailes bruchlos als Teil des favela-In­fernos darzustellen. Aber die Attraktivität der bailes funk konnte sich gegen die Verteufe­lung durch die Medien behaup­ten. Die bailes funk sind ein Bei­spiel für eine Bewegung, die einen Gegenpol bildet zu der to­talen militärischen Aussonde­rung.
Die favelas sind keineswegs ein Ghetto. Und sie sind kein bloßes Objekt dessen, was der Staat plant und durch seine be­waffneten Kräfte umsetzt. In­wieweit aber die Macht des Staates begrenzt werden kann und sich gegen die Militarisie­rung des städtischen Raums eine andere urbane Sozialität erringen läßt, ist eine offene Frage. Ju­gendliche von Asphalt und fa­vela, vereint in den bailes, sind zumindest eine Realität, die nicht identisch ist mit der, die die mi­litärische Intervention produzie­ren und reproduzieren will.

Repression gegen Arme und ihre FürsprecherInnen

LN: Hat der Militäreinsatz in Rio eigentlich irgendjemanden überrascht?
Volmer do Nascimento: Nein, schon 1993 und 94 hat es eine Art Probelauf gegeben, als die Militärs in einigen Vierteln Rio de Janeiros wie in Tijuca patrouillierten. Und schon im Sommer 1994 konnte man in der Zeitung lesen, was geplant war, so daß die Drogenbosse genü­gend Zeit hatten, die Favelas zu verlassen.
Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?
Volmer: Wir haben unter­sucht, ob die Gewalt abgenom­men hat, und festgestellt, daß seit Beginn der Invasion 46 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Die Militärs selber geben an, daß der Drogenhandel um 50 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig haben die Überfälle auf Banken um 200 Prozent zugenommen und die Zahl der Entführungen hat sich verdreifacht. Die Gewalt hat sich insgesamt nicht verrin­gert, sondern nur verlagert.
Tania: Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse muß man sagen, daß die Militäraktion zu nichts anderem als zu einer weiteren Gefahr für die arme Bevölkerung geführt hat. Wie man sieht, ist der Staat kein bißchen daran in­teressiert, sich wirklich um die öffentliche Sicherheit zu küm­mern.
Wie könnte die öffentliche Si­cherheit denn gewährleistet werden?
T: Um eine öffentliche Si­cherheit in Brasilien wirklich zu garantieren, bedarf es als erstes einer gerechteren Einkommens­verteilung. Man muß berück­sichtigen, daß es in Brasilien nur einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt gibt und der monat­liche Mindestlohn 70 Reais beträgt. Die Tatsache, daß Jugendliche im Drogenhandel täglich den zweifachen Min­destlohn verdienen, gibt eine Er­klärung dafür, warum die Dro­genbanden eine derartige Macht erringen konnten. Dazu kommt eine völlige Unterbezahlung der Polizei mit 170 Reais, was er­klärt, weshalb die Polizei an die­sem Gewaltgeschäft beteiligt ist.
Ein weiterer Schritt müßte die Erneuerung der Zivil- und der Militärpolizei sein. Zudem müßten auch mehr Mittel für be­reits laufende Verfahren und die Aufklärung der Morde zur Ver­fügung gestellt werden. Es kann nicht angehen, daß wie in Duque de Caxias tausende von Mord­fällen von nur 2 Polizeibeamten untersucht werden. In Wirklich­keit handelt es sich bei dieser Intervention um einen Probelauf für eine viel weitergehendere militärische Intervention. Das wahre Motiv ist, daß das Militär in das zivile Leben eingreifen will.
Welche Rolle spielt die jetzige Regierung von Fernando Hen­rique Cardoso hinsichtlich des Militäreinsatzes?
Mit der Wahl Fernando Hen­rique Cardosos war die Hoffnung verbunden, daß sich vieles ver­bessern würde. Die Realität ist aber, daß nicht durch soziale, sondern durch militärische Ak­tionen eingegriffen wurde. Kennzeichend für den neuen Re­gierungsstil ist die Amnestie des Senators Humberto Lucenas, der vom Obersten Gerichtshof we­gen Machtmißbrauch und Kor­ruption verurteilt worden war. Statt wirklich gegen Fälle von Korruption vorzugehen, wurde das gesamte Ministerium für So­ziales aufgelöst. Stattdessen wurde ein neues Sportministe­rium eingerichtet, das wir “Fußballministerium” nennen, mit Pelé als Minister. Die Ge­hälter der ParlamentarierInnen wurden um 100% erhöht, wäh­rend sich der Präsident Cardoso persönlich gegen eine Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 100 Reais ausgesprochen hat.
Unterschiedliche Reaktio­nen bei der Bevölkerung
Wie reagierte die Bevölkerung auf die Militäroperation?
Das größte Interesse an einer Militärinvasion hatten die Rei­chen und die Mittelschicht. Sie stehen mit der Bewegung “Viva Rio” in Verbindung, die letztes Jahr gegründet wurde, um gegen die Gewalt in Rio de Janeiro et­was zu unternehmen.
Von den FavelabewohnerIn­nen haben viele zunächst ap­plaudiert, da sie sich erhofften, daß die Hausdurchsuchungen durch die Polizei und die Feuer­gefechte zwischen den soge­nannten Banden aufhören wür­den. Auch die OAB (die An­waltsorganisation “Ordem das Avogados do Brasil”) hat sich am Anfang hinter die Invasion gestellt.
Heute teilt sich die Bevölke­rung in diejenigen, die die Inva­sion von außen beobachten und ihr von den Medien beeinflußt positiv gegenüberstehen und in die FavelabewohnerInnen, die sie ob der am eigenen Leib er­fahrenen Auswirkungen ableh­nen.
Ist ein Ende der Intervention abzusehen?
Wir beobachten, daß die In­tervention ständig verlängert wird. Zunächst wurde gesagt, daß die Invasion auf den 31. Ja­nuar begrenzt sei. Obwohl schon seit Beginn des Jahres eindeutig ist, daß die Militäroperation ge­scheitert ist, hieß es dann, daß die Touristen wegen des anste­henden Karnevals mehr Schutz bräuchten. Und so stand die Ar­mee weiterhin auf den Straßen, um die AusländerInnen zu schüt­zen. Wir rechnen weiterhin da­mit, daß es noch vereinzelte Ein­sätze geben wird.
Dabei ist die Armee völlig un­fähig, eine Strategie gegen die Kriminalität zu entwickeln. Sie kann nur auf die Bevölkerung einschlagen und steigert damit noch einmal die Gewalttätigkeit in den ärmsten Stadtteilen. Es traf wieder einmal nur diejeni­gen, die mit der ganze Sache nichts zu tun haben und vorwie­gend die schwarze Bevölkerung.
Uns ist wenig Kritik an der Militärinvasion bekannt. Wel­che Reaktionen hat es seitens der zi­vilen Gesellschaft, der NGOs und den Menschen­rechts­gruppen gegeben?
Tania: Bisher haben sich nur die NGOs, die direkt mit Marginali­sierten arbeiten vehe­ment gegen die Invasion ausgesprochen. Wenn man Ver­öffentlichungen wie Brasil-Nunca mais liest, könnte man meinen, die Gewalt beschränkt sich nur auf die Phase der Militärdiktatur und endet 1986 mit der Amnestie. Das ent­spricht nicht den Tatsachen, denn die Gewalt, die sich gegen Arme und Schwarze richtet, wird nicht berücksichtigt. Ein solches Buch müßte heute neu geschrieben werden.
Volmer: Nur die Organi­sationen der Favela­be­woh­nerInnen, die FAMERJ (Fede­raçao das Asso­ciaçaoes de Moradores do Rio de Janeiro) und FAFERJ (Fede­raçao das Faveladas do Rio de Janeiro) haben von Anfang an die Militärintervention kritisiert. Aber diese Gruppen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre unter starkem Einfluß von Politi­kern entstanden, befinden sich momentan genauso wie andere Bürgerbewegungen in einer Krise. Die Kräfte, die heute Aufwind haben, sind ganz an­dere Gruppen wie Viva Rio, die von ISER, IBASE und Betinho getragen werden. Nichts gegen solche Versuche wie die Kampa­gne gegen Hunger, aber letztlich benutzen sie nur die linke Rheto­rik. In Wirklichkeit stehen aber andere Kräfte dahinter, sie wer­den von der Regierung korrum­piert, bekommen Geld und トm­ter. Was wir heute brauchen sind neue Kräfte.
Duque Caxias – Vorort der Gewalt
Volmer du hast seit 1986 mit Straßenkindern in Duque de Caxias gearbeitet und zusammen mit Tania 1991 ein Dossier vorgelegt, in dem do­kumentiert ist, wer für die Morde an den Straßenkindern verantwortlich ist. Wie ist der­zeit die Situation in diesem Vor­ort, der als der gewalttätigste von Rio de Janeiro gilt?.
Volmer: Man sollte zuerst kurz die Vorgeschichte erzählen. Duque Caxias wurde nach dem Militär­putsch 1964 wegen seiner Erdöl­raffinerien als strategischer Ort betrachtet. Sie galt als Stadt der höchsten Sicherheitsstufe. Eine Tradition der Gewalt läßt sich bis in die dreißiger Jahre zurück­verfolgen. Ab den fünf­ziger Jah­ren verwandelte sich Duque de Caxias in ein Ghetto, daß vor allem von Nordestinos bewohnt wurde. Heute stammen von den über 660.000 Ein­wohnerInnen mehr als 60 Prozent aus dem Nordosten. Geprägt ist die Stadt von einer klein- und mittelstän­dischen Industriestruktur und einem hohen Anteil an marginalisierter Bevölkerung. Insgesamt gibt es 72 Favelas und eine hohe Krimi­nalitätsrate. Dies war das Motiv für die Gründung der Todes­schwadrone. Die Gewalt stieg dann vor allem mit dem organi­sierten Verbrechen der Todes­schwadrone in den 60er und 70er Jahren an. Nach der Statistik gibt es in Duque de Caxias genauso­viele Morde wie in Rio.
Tania: Das liegt daran, daß ein großer Teil der Morde in Duque de Caxias nicht in der Stadt selbst verübt wurden. Die mei­sten Opfer hatten nie in Duque de Caxias gewohnt – aber ihre Leichen wurden dort auf­gefun­den. Das heißt, sie wurden in Rio umgebracht und nach Duque de Caxias transportiert, um die Nachforschungen zu be­hindern. Diese Situation hat sich aller­dings geändert. Heute sind wir zunehmend mit unserer eigenen Kriminalität konfron­tiert. In der Zwischenzeit gibt es hier eine gro゚e Anzahl von Personen, die systematisch töten, ohne straf­rechtlich verfolgt zu werden.
Welches sind die Hauptpro­bleme bei der Strafverfolgung?
Tania: Gegen die Todes­schwadro­nen konnte man früher leichter vorgehen. Die Killer waren in die Gesellschaft integriert, sie hatten eine Wohnung, eine Ar­beit und einen Personalausweis. Auch wenn die Beweisführung immer schwierig war, konnte man sie verhält­nismäßig einfach festnehmen. Mit den Drogen­händlern ist es anders. Sie stehen außerhalb der Gesellschaft, ha­ben keine Arbeit und keine Wohnung. Selbst von Drogen­händlern, die vielfache Morde begangen haben, sind nicht ein­mal die Namen bekannt.
Das Ergebnis ist, daß die Un­sicherheit in der Stadt in einem solchen Ausmaß zugenommen hat, daß sich eine parallele Struktur der Sicherheit, der pri­vaten Sicherheitsdienste etabliert hat. Es sind sehr große Unter­nehmen – und alle sind in den Händen von Offizieren der Militärpolizei.
Seit wann gibt es die Ver­flechtung privater Sicherheits­dienste mit der Polizei?
Tania: Die ganze Ent­wicklung be­gann vor einigen Jahre. Die Poli­zisten verdienen sehr wenig – in der Regel reicht es nicht, um die Familie zu ernähren. Und um ihre Löhne zu erhöhen, begannen sie nebenher in privaten Sicher­heitsfirmen zu arbeiten. Heute hat fast jeder Po­lizist einen zweiten Job – der Ne­benjob ist die Haupteinnah­mequelle und die reguläre Arbeit eine Nebenbeschäftigung. Ich habe zum Beispiel ein Büro im zweitgrößten Polizeirevier von Duque de Caxias. Dieses Revier hat zwei Beamte. Sie müssen nicht nur die Morde, sondern alle Verbrechen bearbeiten, darunter 2346 Mordfälle. Sie haben keine Zeit und keine Möglichkeit, um ausreichend Nachforschungen anzustellen und haben zudem noch einen Nebenjob. Die ganze Struk­tur der normalen Polizeiar­beit ist zerfallen, denn die Polizi­sten sind davon abhängig, in den pri­vaten Sicherheitsdiensten zu ar­beiten. Heute funktionieren ei­gentlich nur noch die privaten Sicherheitsdienste.
Was unternimmt der Staat gegen diese Verflechtung?
Tania: Nichts. Im Gegenteil. Bisher war diese Neben­beschäftigung illegal, die Kom­munalregierung Batista hat diese Arbeit nun le­galisiert. Dies bedeutet die In­stitutionalisierung der privaten Sicherheitsdienste und der To­desschwadrone. Dazu muß man wissen, daß die wichtigsten Be­rater von Nilo Batista die Besit­zer der größten Sicherheitsdienste sind. Die Re­gierung löst das Problem also nicht, indem sie die Löhne der Polizisten erhöht und die Aus­stattung verbessert, sondern in­dem sie die privaten Tätigkeiten legalisiert.
Du hast dich sehr stark dafür eingesetzt, daß viele Mitglieder der Todesschwadrone in Duque de Caxias verhaftet wurden. Wie ist deine gegenwärtige Si­tuation?
Tania: Als ich vor fünf Jahren in Duque de Caxias als Staatsan­wältin anfing, traf ich die drei größten Killer der Stadt. Sie ar­beiteten in dem gleichen Ge­bäude wie ich – es waren Hilfs­kräfte der Richter. Sie hatten Waffen und genossen Immunität. Meine erste Arbeit war, sie aus dem Gerichts­gebäude zu werfen. Sie hielten sich dann davor auf, so daß ich es nicht mehr verlassen konnte. Ich machte dies in der Presse und im Fernsehen bekannt und veröf­fentlichte ihre Gesichter. Nach­dem ich Anklage gegen sie erho­ben hatte, begannen die Todes­drohungen gegen mich. Es gab enormen Druck, damit ich aus der Stadt verschwände. Um eine Vorstellung davon zu ha­ben: Selbst der Senator von Du­que de Caxias ist mit dem Ver­brechen verbunden. Ich bewege mich seit Jahren nur noch zwi­schen dem Gerichtsgebäude und meiner Wohnung, ich habe praktisch kein Privatleben mehr. Nach vier Jahren, in denen ich diesem Druck widerstanden habe, bat ich beim Governeur um einen persönlichen Schutz. Ich machte Druck über amnesty in­ternational und andere Organisa­tionen. Danach wurde ich unter den Schutz der Bundespolizei gestellt – in der gleichen Zeit wie Volmer. Als Brizola Gouverneur wurde, verschlechterte sich die Situation immens. Die Bundes­polizei wurde abgezogen. Statt­dessen sitze ich heute in einem alten klapprigen Auto mit zwei Polizisten, die so schlecht be­waffnet sind, daß sie sich kaum gegen Angriffe verteidigen kön­nen. In der Woche vor Karneval veriet ein Gefangener einer ande­ren Staatsanwältin einen Plan, mich umzubringen. Als ich Bra­silien verließ, bat ich den Gouverneur per Brief, die zwei Polizisten abzu­ziehen, da ich nicht das Leben anderer Per­sonen gefährden möchte. Es gibt noch immer keine Nach­richt, was passieren wird.
Volmer, du hast Duque de Caxias seit zwei Jahren verlas­sen und hast ein Projekt für Kinder und Jugendliche in Na­tividade, 400 km von Rio ent­fernt, aufgebaut. Wie ist der aktuelle Stand in deinem Ver­fahren?
Volmer: Seit dem letzten Jahr bin ich in letzter Instanz zu vier Jah­ren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Da ich öffentlicher Angestellter bin, könnte ich tagsüber arbeiten, müßte allerdings im Gefängnis übernachten. Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, wann ich diese Strafe antreten soll. Die einzige Möglichkeit, nicht diese absurde Gefängnisstrafe anzu­treten, be­steht jetzt noch darin, daß der Präsident des Landes eine Neuaufnahme des Verfah­rens anordnet. In einem öffentli­chen Brief habe ich ihn darum gebeten, diese ungerechte Ver­urteilung aufzuheben.

Vergeben kann nur das Volk

Mit einem nervtötenden Schrei gibt ein Hahn das Zei­chen, daß die Nacht zu Ende ist. Oben am Hang antwortet ein Hund mit wüstem Gebell, dann fallen weitere Tiere in das Spek­takel ein. In der Dunkelheit nur schemenhaft zu erken­nen, regen sich vor den Hütten aus Brettern oder Well­blech die er­sten men­schlichen Gestalten. Mit Ma­cheten und Hacken auf den Schultern machen sich ein paar Bauern auf den Weg zu ihren oft weitab gelege­nen Maisfeldern. Frauen klatschen den aus Mais, Wasser und Salz zusam­men­ge­kne­teten Teig auf flache Steine und for­men die Masse zu hand­tellergroßen, run­den Fladen, den Tortillas. Für die meisten Leute in Guar­jila, einem Dorf in der sal­vadorianischen Provinz Cha­latenango, be­ginnt der Arbeitstag schon vor dem Mor­gengrauen.
Auch für die sechs Mit­arbeiter von Ra­dio Sumpul, die sich um halb fünf vor dem kleinen Ge­bäude am Ortsrand ver­sammelt haben. Ein kaum achtjähriger Junge schleppt einen Eimer mit Dieselöl heran und gießt den dickflüssigen Kraft­stoff in den Einfüll­stutzen des Motors, der in einem Bretterverschlag hinter der Hauswand un­tergebracht ist. Minuten später rumpelt das Ag­gregat, zwei an schlecht isolier­ten Drähten von der Decke bau­melnde Glühbir­nen beginnen zu flackern und tauchen den Innen­raum in ein trübes Licht.
Wilfredo Zepeda, Chefredak­teur und Leiter des vor einem knappen Jahr ge­gründeten Ra­dios, nimmt an einem wak­keligen Holztisch Platz, gießt Kaf­fee in schmutzige Plastikbe­cher und eröffnet die Redakti­onskonferenz. In einer knap­pen halben Stunde, um fünf Uhr, be­ginnt die Morgensendung. Zen­trales Thema die­ses Ta­ges sind die Schwierigkeiten bei der Land­übertragung an ehemalige Regie­rungssoldaten und Gueril­leros der Befrei­ungsfront FMLN. Die beiden Re­porterinnen haben Inter­views mit Betrof­fenen und einem Vertreter der UN-Beob­achtertruppe ONUSAL, der am Vortag Guarjila besucht hat, vor­bereitet und stel­len ihre Bei­träge vor. Juan, der Techniker, schaltet für einen Sound-Check das Mischpult und die Verstär­ker­anlage ein. Radio Sum­pul ging vor zehn Monaten zum er­sten Mal auf Sen­dung. Vier Stun­den täg­lich bestrahlt die auf einem Berg in der Nähe mon­tierte An­tenne weite Teile der nördlichen Pro­vinz Chala­tenango und einige Nach­barbezirke. Die niederländi­sche Nichtregie­rungs­organi­sa­tion World-Com hat die Technik in­stalliert, ein schwedi­sches Hilfs­werk führt seit dem Herbst ein Ausbil­dungs­programm für die Journali­sten und Jour­nalis­tin­nen durch.
“Unsere Leute hatten über­haupt keine Ahnung, wie Radio gemacht wird”, sagt Wilfredo Zepeda. Alle MitarbeiterInnen stam­men aus Dörfern in Chala­tenango. Einige verbrachten die Bürgerkriegsjahre mit ih­ren Fa­milien im Exil in Honduras, an­dere gingen in die Berge, um sich der Guerilla anzuschließen. Eine Schule ha­ben sie, wenn überhaupt, nur für ein oder zwei Jahre besu­chen können. Das Schulge­bäude von Guarjila wur­de 1982 bei einem Angriff der Regie­rungs­armee zerbombt, die beiden Lehrer flohen in die Haupt­stadt. Ausgebil­dete Jour­nalisten aus San Salvador oder dem Ausland zu verpflich­ten, kam für Radio Sumpul von An­fang an nicht in Frage. “Die hät­ten wir gar nicht bezah­len kön­nen,” so Zepeda. “Und das hätte auch unse­rem Konzept wi­der­sprochen, ein Radio für die Bevölke­rung zu machen.” In Guarjila gibt es we­der Zei­tungen noch Fernsehen, aber in je­der Hütte steht ein batteriebetriebe­nes Radio­gerät. In der einmal pro Woche ta­genden Junta Directiva, einer Art Auf­sichtsrat von Radio Sumpul, haben die Landarbeiter­gewerkschaft, eine Frauen­gruppe und an­dere Basisor­ganisationen Sitz und Stimme.
Unterbrochen von schwung­vollen Ran­cheros läuft im Radio das Inter­view mit einem Vertre­ter des Gemeinderates von Guarjila. Etwas holperig infor­miert Caesar Ibarra über die Verzögerungen bei der Land­übertragung. Seit Anlaufen der Agrarreform vor drei Jahren dür­fen Großgrundbesitzer nur noch 245 Hektar Wirt­schaftsland be­sitzen und müssen alles, was darüber liegt, günstig an Nicht­ver­wandte verkaufen. Das meiste Land kauft der Staat auf und ge­währt ehemali­gen Gueril­leros, entlassenen Regierungssol­daten und Kleinbauern, die wäh­rend des Krieges in den Kon­fliktzonen verlassenes Land an sich genommen hatten, günstige Kredite. Bis zum April dieses Jahres soll der Prozeß der Land­übergabe abgeschlos­sen sein – so steht es in dem im Januar 1992 unterzeichneten Friedensab­kom­men.
Schwierigkeiten bei der Landverteilung
Doch die Wirklichkeit in Chalatenango und den an­deren früheren Konfliktregio­nen sieht an­ders aus. Bis heute haben noch nicht einmal 40 Pro­zent der fast 50.000 regi­strierten Antragstelle­rInnen Land er­halten, die mei­sten weniger als die ver­sprochenen 2,5 Hektar. Viele Bauern ha­ben sich nicht recht­zeitig bei den Behör­den gemel­det, andere wurden nicht als Be­günstigte anerkannt. In Guarjila und den umliegen­den Gemein­den, die im Krieg von der FMLN kon­trolliert wurden, ist die Si­tuation noch krasser.
Hier hatten sich die meisten ehemaligen Großgrund­besitzer nach Aus­bruch des bewaffneten Konflik­tes ins Ausland ab­gesetzt und sind deshalb oft nicht mehr aus­findig zu ma­chen. Ohne ihre rechts­gültige Unterschrift, so ar­gumentiert die Regierung, kann das Land aber nicht verkauft werden. Eine ge­meinsame Kommission der Gemeinde­räte aus Chala­tenango hat jetzt die ONUSAL aufgefordert, bei der Regierung auf eine Beschleuni­gung der Landübertra­gung zu drän­gen. “Wenn wir weiter hin­gehalten werden, gibt es massi­ven Krach,” warnt Caesar Ibarra.
Politische Absicht wäh­nen die Leute von Guarjila auch hinter der Tatsache, daß die im Krieg zerstörte Infrastruktur in ih­rer Re­gion noch nicht wieder in­takt ist. Trinkwasser, Strom und Telefonan­schlüsse hat die Regie­rung allen Gemein­den in ihrem von der Europäischen Union mit­finanzierten Nationalen Wieder­auf­bauprogramm ver­sprochen. In Guarjila zapfen die Menschen das Wasser weiter­hin aus selbst­gebohrten Brunnen. Und es gibt auch noch keine elektrische En­ergie, obwohl eine Leitung nur wenige hundert Meter ent­fernt am Ort vorbei­führt. Bei ei­ner Versammlung im Januar forder­ten aufge­brachte EinwohnerIn­nen, der Regie­rung eine letzte Frist für die Installie­rung der Kabel zu setzen. Ande­renfalls werde man die Strom­masten in die Luft spren­gen.
Trotz der verbreiteten Unzu­friedenheit in den ländlichen Re­gionen hat sich die politische Situation in El Salvador in den ver­gangenen drei Jahren spür­bar ent­spannt. Rubén Za­mora, der bei den Prä­sidentschaftswahlen im ver­gangenen März für eine Mitte-Links-Koalition ins Ren­nen ging, dabei aber dem Kandi­daten der rechtsgerichteten Partei ARENA unterlag, hält den Frie­densprozeß für unumkehr­bar. “Die Gefahr, daß der Krieg wie­der aus­bricht, existiert praktisch nicht,” sagt der 52jährige Rechts­anwalt, den wir in seinem Büro am Boulevard de los He­roes im Zentrum San Salvadors treffen. “Die Ent­militarisierung hat große Fortschritte ge­macht.”
In den vergangenen drei Jah­ren wurde die Regie­rungsarmee von über 60.000 auf 32.000 Mann reduziert. Die alten Sicherheits­organe, während des be­waff­neten Konfliktes für zahlrei­che Men­schenrechts­ver­letzungen verantwort­lich, sind auf­ge­löst worden. Eine neue Polizei­einheit, die unter zi­vilem Kom­mando steht, ist inzwischen im gan­zen Land prä­sent.
Konsens mit der Opposition in Grundfragen
Auch “Elemente einer neuen Streitkul­tur” hat Za­mora ausge­macht. “Der alte Stil, als die Re­gierung be­fohlen hat und die Be­völkerung gehorchen mußte, exi­stiert so nicht mehr.” In we­sentlichen Fragen müsse die Re­gierung den Kon­sens mit der Opposi­tion suchen, insbesondere mit der FMLN, der zweit­stärksten Fraktion im Parla­ment.
Präsident Armando Calderón Sol sieht El Sal­vador ebenfalls “auf dem Weg in eine bessere Zu­kunft.” Die Abkommen seien zu neunzig Prozent erfüllt, er­klärt er bei einer Kundgebung zum dritten Jah­restag des Friedensvertrages. Die Re­gierung werde alles tun, die noch offenen Punkte so rasch wie möglich umzusetzen. Die ver­sammelten Minister und Bot­schafter nicken beifällig und wenden sich dann den von emsi­gen Kellnern auf sil­bernen Ta­bletts gereichten Häppchen und Getränken zu.
Frieden heißt auch soziale Gerechtigkeit
Kritik an der gegenwärtigen Entwick­lung kommt vor allem von der Kirche. “Für die Ärm­sten ist der Frieden noch lange nicht erreicht”, sagt der Interims-Erzbischof von San Salvador, Rosa Cha­vez, in der Sonntags­messe in der großen Kathedrale. Frieden bedeute mehr als das Schweigen der Waffen. “Frieden heißt auch: Mehr soziale Ge­rechtigkeit, mehr und besser be­zahlte Arbeit, mehr Woh­nungen.”
Zur selben Zeit predigt Jon Cortina in San José Las Flores, einem Nachbardorf von Guarjila. Nur weil er sich damals nicht in der Hauptstadt aufhielt, entging der Jesuiten-Pater im November 1989 dem von ranghohen Mili­tärs befohlenen Mas­saker an sei­nen Kollegen auf dem Gelände der UCA, der Zentralamerikani­schen Universität. Cortina pran­gert das von der Regierung erlas­sene Amnestiege­setz an, durch das auch die schwersten Men­schen­rechtsverletzungen der Bürger­kriegsjahre ungesühnt blei­ben. Die Mas­saker und Morde könne nur das Volk ver­geben, nicht aber die Politiker.
Der Gottesdienst in San José Las Flores muß an diesem Tag im Freien stattfinden. Die Kir­che, die in den Kriegszeiten Be­schuß und Bomben standgehal­ten hatte, ist vor ein paar Wo­chen eingestürzt. Cortinas Worte erreichen nicht nur die Men­schen auf dem Dorfplatz. Radio Sum­pul über­trägt die Messe direkt.

Instrumentelle Demokratisierung

In seinem Eingangsaufsatz zeichnet Jochen Hippler die Be­deutung von Demo­kratie für die Identitätsbildung der westli­chen Länder nach. Waren während des Kalten Krieges Antikommu­nismus und Demokratie die zen­tralen Elemente der Selbstdefi­nition und der Abgrenzung zum sozialistischen “Reich des Bö­sen” (Reagan) sei die Bedeutung des Demo­kratiebegriffs für die positive Identitäts­stiftung des Westens heute “möglicherweise sogar noch wichtiger”. Indem “westlich und demokratisch zu Synonymen” erkoren werden, werde ei­nerseits die westliche Form von Demo­kratie als einzig wirkliche und damit uni­versell gültige postuliert und damit ande­rerseits zugleich die Recht­fertigung für ihre Verbreitung in der ganzen Welt gelie­fert.
Was bei rechten Ideologen in den USA, wie Samuel Hunting­ton, einen ab­grenzenden Kampf des zivilisierten We­stens gegen den Rest der Welt zur Folge hat, wird bei Anthony Lake, einem außen­politischen Vordenker der Car­ter-Admini­stration, zu einem “de­mo­kratischen Kreuzzug”, mit dem die ganze Welt be­glückt werden soll. Um welche Form von Demokratie es sich handelt, wird schon aus der, in der US-Administration gängi­gen For­mulierung von den “market de­mocracies” deutlich. Die Ge­wichtung ist klar, wie Jochen Hippler schreibt: “Märkte und Demokratie sind nicht gleich­gewich­tig, sondern Demo­kratie ist die nachge­ordnete Ka­tegorie, die durch wirtschaftli­che Refor­men erst ermöglicht wird. De­mokratie ist die wünschbare Folge von Kapitalismus.”
Die zwei wichtigsten Strate­gien zur Durchsetzung des west­lichen Modells im Süden sind seit den achtziger Jahren Auf­standsbekämpfung und Struk­tur­anpas­sung. Ergebnis ist zumeist eine formale Demo­krati­sierung, die allerdings an den herrschen­den Verhältnissen nichts oder nur wenig verändert. Claude Aké nennt dies in seiner Analyse der Entwicklung in Afrika die “De­mokratisierung der Macht­losigkeit”. Die Demo­kratisierung werde ihres emanzi­patorischen Gehalts beraubt und “legitimiert die Machtlosigkeit der Menschen in Afrika, so daß es ihnen viel­leicht noch schlechter als vorher geht, als ihre Machtlosigkeit we­nigstens noch als ein Problem gesehen wurde. Heute ist sie verschlei­ert.”
Mit der Universali­sierung geht für Aké auch die weitere “Trivialisierung der De­mokratie” einher, so wie auf glo­baler Ebene die Herr­schaftsverhältnisse auch inner­halb der einzelnen Staaten kon­serviert werden: “Demokratie ist so weit trivialisiert wor­den, daß sie für die Eliten nicht mehr ge­fährlich ist, die stolz auf ihre demokrati­sche Überzeugung sein können, ohne daß viel von ihnen gefordert würde. Demo­kratie wird so in einer wesentlich entleer­ten Form universalisiert, die für die neuen politischen Re­alitäten im Westen außer als Ideologie kaum relevant ist.” Auch der Übergang von Militär­diktaturen oder Ein­partei­en­regimen zu pluralisti­schen Wahl­demokratien ermög­licht in den meisten Fällen le­diglich bisher unterlegenen oder ausgeschlos­senen Fraktionen der politi­schen und wirtschaftlichen Eliten, an die Regierung zu kommen – die Mehrheit der Be­völkerung bleibt jedoch weiter­hin von der Macht ausgeschlos­sen.
Wie sehr die Demokratisie­rung im Süden der wirtschaftli­chen Rationalität untergeordnet ist, verdeutlicht Liisa Laakso, die ihre Analyse auf den beiden gängigen Interpretationen des Demokra­tie-Konzepts aufbaut. In der ersten Kon­zeption “kön­nen Gleichheit, Partizipation oder die institutionelle Gestal­tung von Entscheidungen nur in einer wirklich selbstbestimmten sozialen Praxis einen Wert ha­ben. Diese Interpretation reflek­tiert den substantiellen Inhalt von Demo­kratie, der ohne Moral un­vorstellbar und radikal in sei­ner Möglichkeit ständiger Neu­definition von Politik ist.”
Dieser sub­stantiellen Kon­zeption stehe eine zweite Inter­pretation entge­gen, in der “die Be­deutung von Demokratie auf eine be­stimmte institutionelle Gestaltung von Entscheidungs­strukturen” redu­ziert sei. Ihr “hervorstechendstes Merkmal (ist) nicht mehr die Emanzipa­tion, sondern Funktio­nalität und Effektivität.” Deut­lich domi­niert heute der instru­mentelle Ansatz, der es ermög­licht, von den ei­gentlichen Pro­blemen der サDrit­ten WeltDen Ideologiecharakter dieses Demo­kratiekonzepts zeigt auch Susan George in ihrem Aufsatz über das Weltbank-Kon­zept des good governance. Die Verwen­dung des im englischen Sprach­gebrauch seltenen governance ermögliche es der Weltbank, di­rekter als bisher auf die Poli­tik der Länder サDritten WeltDamit weitet die Weltbank ih­ren Ein­fluß von der ökonomi­schen auf die politi­sche Sphäre aus, ob­wohl sie sich aufgrund ih­rer eige­nen Charta nicht einmi­schen darf, “wenn es um die Wahl einer bestimmten Regie­rungsform geht. Die Welt­bank ist of­fiziell eine unpolitische eine rein wirt_schaftliche Instanz. Die Verwen_dung des Begriffs go_vernance ist der Versuch ihre tatsächli_chen Ziele in dieser Hin_sicht zu umschrei_ben.” Nach Su­san Ge­orge ermögli­che dies in erster Linie, die Schuld für das Schei­tern der bis­herigen (Weltbank-) Entwick­lungs­kon­zepte den Re­gierungen des Südens aufzubür­den. Dabei sei aber “die Welt­bank selbst für viele Probleme in der dritten Welt verantwortlich. Ihr bisheri­ges Entwicklungskon­zept schafft und ver­schärft gera­dezu die Ar­mut und vergrößert die Kluft. Die Politik der Welt­bank hat in den vergangenen 40 Jahren ei­nerseits Eli­ten geschaf­fen, die in das Weltsystem in­tegriert sind, andererseits viele Menschen auf der Strecke gelas­sen. Jetzt braucht die Weltbank die Armen viel dringender, als die Armen sie brauchen. Den Armen würde es ohne die Welt­bank weitaus bes­ser gehen, aber ohne sie würde die Bank eine wichtige Rechtfertigung ihrer Exi­stenz verlieren. Governance ist das pas­sende Mittel, um den näch­sten Fehlschlag der Welt­bank und ihrer EntwicklungIn zwölf Beiträgen wird in der “Demokratisierung der Machtlo­sigkeit” versucht, die politische Herrschaft des Nordens über den Süden zu analysieren. Insgesamt lohnt sich die Lektüre, auch wenn die Qualität der Aufsätze sehr unter­schiedlich ist. Einige Beiträge bieten nichts Neues und hätten besser nicht Ein­gang in das Buch gefunden. Dazu gehört beispielsweise einer der beiden Aufsätze, die sich explizit mit Lateinamerika be­schäftigen: Xa­bier Gorostiagas Hindernisse und Chancen für Demokra­tie in Mittelamerika” verharrt weitge­hend in nichtssagenden Allge­meinplätzen und hätte so auch schon vor einigen Jahren ge­schrieben sein können. Interes­santer ist da schon Niala Maha­rajs Aufsatz Pathologie und Macht

Die “Demokratisierung der Machtlo­sigkeit” und eine gleich­zeitig erschienene Aufsatz­sammlung über 50 Jahre IWF und Weltbank bilden den Auftakt zu einer deutsprachigen Buch­reihe des Amsterda­mer Trans­national InstituteDritten Welt den USA und Europa, dessen Di_rektor Jochen Hippler seit einiger Zeit ist. Hoffentlich wird die Arbeit des TNI in Zu_kunft damit auch im deutsch_sprachigen Raum besser bekannt.

Jochen Hippler (Hg.): Demokrati­sierung der Macht­losigkeit. Politi­sche Herrschaft in der Dritten Welt, Konkret Li­teratur Verlag, Hamburg 1994, 240 Seiten, DM 32,-
John Cavanagh/Marcos Ar­ru­da/­Daphne Wysham (Hg.): Kein Grund zum Feiern. 50 Jahre Welt­bank und IWF. Kritik und Alternati­ven, Kon­kret Literatur Verlag, Ham­burg 1994, 176 Sei­ten, DM 28,-

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