Das “Wirtschaftswunder” Mexikos schien die neoliberale Doktrin des Internationalen Währungsfonds (IWF) und Weltbank endlich einmal in der Praxis zu bestätigen. Privatisierungen, Subventions- und Sozialabbau wurden seit Jahren mit einer Konsolidierung der Wirtschaft und traumhaften Wachstumsraten belohnt. Die seit 65 Jahren regierende Staatspartei PRI garantierte die Durchsetzung dieser neuen Politik. Der Bevölkerung wurde versprochen, daß die Oberschicht reicher würde, um die Massenarmut effektiver bekämpfen zu können. Wo der Regierung dennoch die Folgschaft versagt blieb, verhielfen ihr Wahlbetrug und Repression zur Legitimation, zuletzt in Chiapas.
Boom auf Pump
Wie wenig ausgereift die in den achtziger Jahren durch die Strukturanpassungsprogramme des Internationalen Währungsfonds (IWF) eingeleitete Wachstumspolitik war, zeigt jetzt die Krise. Sie erinnert an einen zweiten Aufguß von alten Fehlern. Denn der “Boom” lebte auf Pump. Die Modernisierung der Wirtschaft wurde durch Auslandskredite und eine maßlose Überbewertung des Pesos finanziert. Was die Binnenindustrie ruinierte, war dem NAFTA-Partner im Norden gerade recht: Die mexikanischen Exportprodukte waren überteuert und wenig konkurrenzfähig, Importe aus den USA dagegen künstlich verbilligt und absetzbar. Die resultierenden Importüberschüsse Mexikos ließen das Leistungsbilanzdefizit bedrohlich anschwellen und konnten nur durch Kredite bezahlt werden. Kreditgeber war der Exporteur USA selbst, zu lukrativen Zinsen selbstverständlich: Mexiko muß allein in diesem Jahr kurzfristige Schulden in Höhe von 28 Milliarden bedienen, zu Zinssätzen um 40 Prozent.
Der IWF und die Weltbank wollten die wachsenden Probleme ihres “Musterlandes” nicht registrieren. So platzte die Illusion vom neoliberalen Entwicklungsweg über Nacht wie eine Seifenblase: Nachdem die Stützung des überbewerteten Pesos die Devisenreserven Mexikos zum Jahresende ganz zu verschlingen drohte, zog die Regierung die Notbremse und gab am 20. Dezember den Wechselkurs frei. Der Peso stürzte in den Keller und wurde in einem Tag um 40 Prozent abgewertet, um in Folge weiter an Wert zu verlieren. Die AuslandsanlegerInnen von mexikanischen Wertpapieren verloren auf einen Schlag 10 Milliarden. US-Dollar, und der darauf folgende Rückzug von Investitionen machte den 10. Januar 1995 zum “schwarzen Dienstag” des Kontinents: Die Börsen von Mexiko bis Buenos Aires verzeichneten extreme Kurseinbrüche. Mexiko stand vor der Zahlungsunfähigkeit. Die Gewitterwolken über den internationalen Finanzmärkten verhießen Sturm. Erst als Präsident Clinton am nächsten Tag sein Schatzamt anwies, alles zu unternehmen, um “diese kurzfristige Finanzkrise” beizulegen, war das weitere Vorgehen sowie die entsprechende Sprachregelung geklärt. Schnelle Stützungskredite des IWF und der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) von 18 Milliarden US-Dollar verhinderten den Zusammenbruch des mexikanischen Wirtschaftssystems. Das Gespenst der Krise wurde kurzerhand eingekauft und als Normalität gehandelt. Ein am 21. Februar verabschiedetes Hilfspaket der USA in Höhe von 20 Milliarden US-Dollar soll Mexiko nun endgültig aus der Finanzkrise helfen. Bislang jedoch ohne Erfolg. Der Peso verlor am nächsten Tag flugs wieder an Wert. Ein Dollar kostete 6,2 Pesos, satte 35 Centavos mehr als am Vortag.
Neuauflage gescheiterter Konzepte
An Mexikos Rückkehr in die Wirklichkeit ist nicht überraschend, daß, sondern wie sie stattfand. Schon einmal mußte das Land seine Zahlungsunfähigkeit und damit das Scheitern einer entwicklungspolitischen Strategie verkünden: Nachdem das Konzept der Importsubstituierenden Industrialisierung (ISI), das auf eine Abkopplung vom Weltmarkt und eine Binnenindustrialisierung setzte, zu Beginn der siebziger Jahre in die Stagnation mündete, orientierten sich die neuen als “cepalismo” bekannten Konzepte an einer Grundbedürfnisbefriedigung und keynesianischen Lenkungsmechanismen. Um die Stagnation zu überwinden, wurde der Aufbau einheimischen Gewerbes und sozialer Sektoren gefördert. Im bescheidenen Maße konnten die krassen Einkommensunterschiede auf dem Kontinent verringert werden. Dabei wurde bei den Umstrukturierungen ebenfalls auf eine Finanzierung durch Auslandskredite und die Überwertung der Landeswährungen gesetzt. Als aber die Schuldenlast die Länder zu erdrücken begann und 1982 eine mit der jetztigen vergleichbare Finanzkrise auslöste, war dies gleichzeitig eine Krise der Strategie: Bedürfnis- und nachfrageorientierte Entwicklungstheorien galten als von der Realität widerlegt.
Für die Überwindung der Krise wurde die Abkehr von den eigenen Entwicklungsideen verlangt: Vorbereitet durch die berüchtigten Strukturanpassungsmaßnahmen des IWF mußte sich Lateinamerika dem Weltmarkt öffnen. Die Neuorientierung endete in den achtziger Jahren mit einer sozialen Polarisierung und einer existenziellen Verschlechterung der Lebensverhältnisse. Nach Angaben einer Studie der staatlichen Hilfsorganisation Pronasol (Programma nacional de solidaridad) lebte 1990 “die Hälfte der MexikanerInnen (42 Millionen) in Armut und 18 Millionen litten unter den Bedingungen extremer Armut”. Über den Beitritt zur NAFTA versuchte das Schwellenland Mexiko, sich an den reichen Norden anzukoppeln. Die erfolgreiche Modernisierung der Exportsektoren, ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum sowie die gelungene Bekämpfung der Inflation und ein ausgeglichener Staatshaushalt übermalten das Auseinanderklaffen der Einkommensschere und verhießen als letzte Hoffnung, daß die wirtschaftliche Stabilität letztendlich auch den Massen zugute kommen wird. Erst im August wurde die mexikanische Regierung durch Wahlen bestätigt, als sie der Bevölkerung “wachsenden Wohlstand jedes einzelnen und seiner Familie” versprach.
Katerstimmung
Seitdem diese Hoffnung verpuffte, zeichnet eine nüchterne Bestandsaufnahme ein düsteres Bild von der Hochburg neoliberaler Entwicklung: Die Bevölkerung ist verarmt, die einheimische Binnenindustrie chronisch geschwächt, das Wirtschaftswachstum wird in diesem Jahr gegen Null tendieren, die Verschuldung ist massiv gestiegen und von einer makroökonomischen Stabilität redet niemand mehr.
Doch was vor zwölf Jahren zum Paradigmen- und Systemwechsel führte, ist heute nur ein “Sommergewitter”. Statt umzudenken, ist eine neuerliche Strukturanpassung angesagt: Mexiko mußte für die Milliardenhilfe mit einem beschleunigten Privatisierungsprogramm bürgen, das rasch auf die strategisch wichtigen Staatsmonopole der Eisenbahnen/Häfen und der Telekommunikation ausgeweitet wird. International wird die Krise heruntergespielt. Die Erfolge der auf den Weltmarkt ausgerichteten wirtschaftlichen Anpassung Mexikos sollen nicht infrage gestellt werden. Die erworbene Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt ist jetzt durch die Peso-Abwertung noch größer geworden, denn sie degradiert Mexiko noch stärker zum Billiglohnland.
Krisengewinnler
NutznießerInnen dieser Abwertung sitzen auch vor unserer Haustür: Während Deutsche und Dresdner Bank noch über die Höhe ihrer Kredithilfen an Mexiko verhandelten, äußerten sich deutsche Unternehmen in der FAZ “sehr gelassen, und sehen auch die möglichen Chancen der Abwertung”. Und das Handelsblatt verweist darauf, daß “industrienahe Kreise…ihren lokalen Zulieferern Härte zeigen wollen” und abwertungsbedingte Preiserhöhungen ablehnen. Nicht nur die mexikanische Arbeiterschaft muß um die Kaufkraft ihrer Löhne fürchten: Auch auf den einheimischen Mittelstand sollen die teureren Dollar-Importe abgewälzt werden.
Somit stehen die VerliererInnen der Krise schon fest. Der neoliberale Traum, den Kuchen solange wachsen zu lassen, bis für jeden mehr als Krümel übrigbleiben, wird jetzt zum Alptraum.
Die hochschnellende Teuerungsrate überspringt Existenzgrenzen: Dort, wo es um das blanke Überleben geht, können die erwarteten vier Prozent weniger Konsum tödlich sein. Und von einem Staat, der sich verpflichtet hat, seine Ausgaben in diesem Jahr um ein Viertel zu reduzieren, ist wenig Hilfe zu erwarten.
Die Arbeiterschaft, die schon vorher deutlich niedrigere Reallöhne als 1980 erhielt, muß jetzt weitere Einbußen hinnehmen. Von den Milliardenkrediten, die zwecks Umschuldung gleich bei den Gläubigern bleiben, wird sie nur wenig spüren.
Auch das einheimische Kleingewerbe und der Mittelstand geraten unter massiven Druck. Die aus dem Ausland heranrollende Kostenwelle können nicht alle verkraften. Viele der kleinen und mittelständischen Betriebe, die 80 Prozent der ländlichen Arbeitskraft Mexikos beschäftigen, stehen vor dem Aus. Eine Kreditaufnahme bei realen Zinssätzen von rund 24 Prozent lassen jede Investition zum existenziellen Wagnis werden. Ohne Investitionen droht jedoch der Verlust an Konkurrenzfähigkeit. Die Gefahr der Zahlungsunfähigkeit steigt in beiden Fällen, ob zu hohe Ausgaben oder zu geringe Einnahmen: Beide erhöhen das Konkursriskiko – der Ruin droht.
Der “pacto social”, die mexikanische Variante von Sozialpartnerschaft, ist jetzt vor seine größte Belastungsprobe gestellt. Denn Mexiko nähert sich einer sozialen Katastrophe und /oder einer politischen Explosion.
Ein Feldzug auf Wall Streets Geheiß?
Die Chase Bank gibt sich nicht der Illusion hin, daß die ZapatistInnen die alleinige Ursache für den Peso-Crash vom Dezember sind. Der Zusammenbruch der mexikanischen Wirtschaft wurde durch die Überbewertung des Pesos verursacht, und dies hatte es US-InvestorInnen – wie z.B. der Chase Bank selbst – ermöglicht, mexikanische Schatzbriefe totzuspekulieren und dann in sichere US-Dollars anzulegen.
Ein Jahr NAFTA – Wall Street ist verschnupft
Die gesamte US-Finanz und das Lager der PolitstrategInnen befürchten jetzt, daß eine von dem Neuling Ernesto Zedillo geführte mexikanische Regierung – anders als der alte Vertraute Washingtons, Ex-Präsident Carlos Salinas – ins Wanken geraten wird, im Konflikt mit den Zapatistas Zeit gewinnen will und versuchen wird, die Unzufriedenen im Lande zu besänftigen. Aber jede Art von Beschwichtigungspolitik gegenüber einer schäumenden Öffentlichkeit wird den InvestorInnen sicherlich nicht gefallen. Die ökonomische Sicherheit, die ihnen gewährt wurde, war ein Eckpfeiler der NAFTA-Vereinbarungen.
Für die Regierung besteht die Notwendigkeit, mit Subcommandante Marcos und seinen GenossInnen Schluß zu machen. Die Chase Bank drückt dies so aus: “Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politischen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von InvestorInnen wahrgenommen”.
Die Option einer Lösung des Chiapas-Konfliktes am Verhandlungstisch wird von der Chase Bank heruntergespielt: “Es ist schwer vorstellbar, daß die gegenwärtigen Umstände eine friedliche Lösung zulassen würden”. Zedillo wird nicht in der Lage sein, das Vertrauen der ZapatistInnen und ihrer AnhängerInnen zu erlangen, da “die Währungskrise alle verfügbaren Ressourcen für ökonomische und soziale Reformen begrenzt”. Mit anderen Worten: Die ausländischen InvestorInnen haben ein Vorrecht auf die schwindenden Reserven der mexikanischen Staatskasse; für die Anti-Armut Programme, die Zedillo für Chiapas versprochen hatte, bleibt dann nichts mehr übrig.
Riordan Roett – ein Mann sieht Krieg
Autor des Memos, das aus der Markterschließungsabteilung der Chase Bank stammt, ist ihr Berater Riordan Roett. Als ehemaliger Leiter der Lateinamerika-Studien an der John Hopkins School of Advanced International Studies, ist er beurlaubt. Roett soll besonders verbittert über die Vorfälle südlich des Rio Grande gewesen sein: hatte er doch leitenden Beamten der Chase Bank versichert, daß auf Zedillo – seinem langjährigen Gesprächspartner – Verlaß sei, wenn es um die Interessen der ausländischen InvestorInnen gehe. Beruhigt hatte die Chase Bank daraufhin ihre Investitionen in Mexiko erhöht. Als ein riesiges Handelsdefizit Zedillo zwang, den Peso abzuwerten, erwischte es die Chase eiskalt.
Eine harte Gangart der mexikanischen Regierung fordert Roett auch bei anderen Schwierigkeiten, die dieser Regierung ins Haus stehen. Bei den in fünf Bundesstaaten für dieses Jahr vorgesehenen Wahlen hat die in Mexiko regierende PRI nur düstere Aussichten. Roett schlägt vor, die PRI solle sich Wahlerfolge auf anderem Wege sichern. “Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.” Weiter schreibt er: “Korrekt erzielte Wahlerfolge der Opposition nicht anzuerkennen, wäre ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strategie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko einer Spaltung der Partei in sich bergen.”
Roett hat in Washington an allen Lobby-Fäden gezogen, um Unterstützung für seine Politik der “verbrannten Erde” in Mexiko zu erhalten. Er forderte den Kongreß auf, Clintons 40 Milliarden Spritze aus Geldern der Chase Bank und anderen InvestorInnen schnellstens zu bewilligen. Clinton selbst griff angesichts einer sicheren Niederlage im Kongreß zur Präsidialmacht und drückte sein Paket gegen den Willen des Kongresses durch.
Roett’s Strategie ist die des Lobbyisten: Er versorgte Bob Dole, den einflußreichen Sprecher der Republikaner im Senat mit ausgewählten Informationen, sprach vor dem Richtlinienausschuß des Senats und er beriet Beamte des Außenministeriums. Am 11. Januar 1995 sprach er vor mehreren hundert Führungskräften aus Politik und Wirtschaft auf einem vom Center for Strategic and International Studies (CSIS) organisierten Seminar.
Ein Seminar wird zum Fanfarenstoß
Bei dieser Gelegenheit soll Roett am Rande der Hysterie gewesen sein. Kunden würden ihn permanent fragen – so Roett -, warum die mexikanische Regierung die ZapatistInnen nicht unter Kontrolle bekommt. Roett meinte, aus der Sicht der InvestorInnen sei es wichtig, das Thema Chiapas so schnell wie möglich abzuhaken. Er räumte dabei ein, sein Aufruf zum Krieg, sollte Zedillo sich danach richten, könne negative internationale Auswirkungen haben. Aber bei kühnen Taten fielen immer politische Kosten an.
Die Ausführungen von Roett fanden geneigte ZuhörerInnen. Die Kolumnistin Georgie Anne Geyer schrieb wenige Tage später in einem Artikel: “Niemand auf diesem Seminar hat die mexikanische Situation besser erklärt als Roett.” Die anwesenden Fachleute und FinanzmanagerInnen – so die Kolumnistin – schienen sich einig, daß die ZapatistInnen zwar nicht für eine breite Revolte in ganz Mexiko stünden, sie aber der entscheidende Indikator, der Lackmustest für die Stabilität in Mexiko seien.
Dalal Baer, der Moderator der Veranstaltung, dankte Roett für seine Ausführungen und beklagte das “mexikanische Dilemma” zutiefst. Die mexikanische Regierung stehe unter dem Druck, daß politische System öffnen zu müssen. Die Finanzmärkte reagierten auf eine solche Zunahme der Demokratie nicht unbedingt positiv, da diese oft auch eine Zunahme an Instabilität nach sich ziehe, so Baer.
Auf dem Seminar forderte David Malpass, Direktor eines großen Finanzunternehmens, von Zedillo im Austausch für die von der US-Regierung organisierte Milliardenhilfe, eine Beruhigung der ausländischen InvestorInnen durch eine “gigantische Wiederherstellung des Vertrauens”. So schlugen Malpass und andere zum Beispiel weitere Privatisierungen vor, AusländerInnen sollten auch zu 100 Prozent Banken besitzen dürfen. Die Öffnung der mexikanischen Ölindustrie war ein weiterer Vorschlag.
Zedillo und die Mehrheit der PRI lehnten die “finale” Lösung des Riordan Roett zu diesem Zeitpunkt offiziell noch ab. Ein Beamter des mexikanischen Innenministeriums, der auch am Seminar teilnahm, bezeichnete den Kriegsaufruf Roetts als “nicht statthaft”.
Aber mexikanischen Finanzlobbyisten dürfte es bei Roett’s Analyse wahrscheinlich warm ums Herz geworden sein. Denn am 18.Dezember des vergangenen Jahres hatten sich schon mexikanische Geschäftsleute mit Zedillo getroffen, um von der neuen Regierung eine Offensive in Chiapas zu fordern.
Originaltitel: “Major U.S. Bank Urges Zapatista Wipe-Out: ‘A Litmus Test for Mexico’s Stability’, in:”Counterpunch”, Vol. 2. Nr. 3 vom 1. Februar 1995.
Memo der Chase Manhattan’s Emerging Markets Group
Zusammenfassung:
Die größte Bedrohung für die politische Stabilität Mexikos ist unseres Erachtens nach die augenblickliche Finanzkrise. So- lange die Regierung von Staatspräsident Ernesto Zedillo nicht geeignete Maßnahmen ergreift, den Peso zu stabilisieren und eine unkontrollierte Inflation zu vermeiden, wird es fast unmöglich sein, sich Themen wie Chiapas oder der Justiz- und Wahlreform zu widmen. Eine Verlängerung der Krise mit ihren negativen Auswirkungen auf den allgemeinen Lebensstandard wird vielmehr Arbeitskämpfe und soziale Unzufriedenheit provozieren.
Die Regierung Zedillo
Als Zedillo am 1. Dezember 1994 das Amt des mexikanischen Präsidenten antrat, schien dies ein neues Kapitel auf dem Weg zur Modernisierung der mexikanischen Politik einzuläuten… Der neue Präsident forderte eine Reform des Justiz- und Wahlrecht und eine friedliche Lösung des ein Jahr alten Aufstandes im südlichen Bundesstaat Chiapas. Er betonte, wie wichtig die Transparenz von Regierungsgeschäften und die Erziehung und Ausbildung der mexikanischen Bevölkerung sei. Zedillos Kabinett, das sich aus denselben Kreisen zusammensetzt wie das seines Vorgängers Salinas de Gortari, vermittelte den Eindruck von Kompetenz und Engagement… ( Chronologie der Peso-Krise) … Nur wenn die Regierung erfolgreich den Peso stabilisiert, ein sprunghaftes Ansteigen der Inflation verhindert und das Vertrauen der Investoren zurückgewinnt, wird es unserer Meinung nach für Zedillo möglich sein, sich der Agenda von Reformen zu widmen, die er am 1. Dezember aufgestellt hatte. Es gibt drei Felder auf denen die augenblickliche Währungskrise die politische Stabilität in Mexiko untergraben kann. Das erste ist Chiapas, das zweite sind die kommenden Wahlen in den Bundesstaaten und das dritte die Gewerkschaften, ihr Verhältnis zur Regierung und zur PRI.
1. Chiapas
Der Aufstand im südlichen Bundesstaat Chiapas ist jetzt ein Jahr alt und offensichtlich ist man noch immer keiner Lösung näher gekommen … Zwar neigt Zedillo zu einer friedlichen Lösung des Patts in Chiapas auf dem diplomatischen Weg, aber es ist schwer vorstellbar, daß die augenblicklichen Umstände eine friedliche Lösung zulassen. Mehr noch: je mehr die Währungskrise die Regierung in ihren Vorhaben sozio-ökonomischer Reformen beschränkt, desto schwieriger wird es für sie werden, breite Unterstützung für ihre Vorhaben in Chiapas zu gewinnen. Noch wichtiger: Marcos und seine Anhänger könnten beschließen, die Regierung mit einem Anstieg lokal begrenzter, gewalttätiger Aktionen in Verlegenheit zu bringen und die Regierung zu zwingen, den zapatistischen Forderungen nachzugeben, die eine politische Niederlage, die sie völlig bloßstellen würde mit, sich brächte.
Die Alternative ist eine militärische Offensive zur Niederschlagung des Aufstands. Das hätte einen internationalen Aufschrei zur Folge: Protest gegen den Einsatz von Gewalt und die Unterdrückung indígener Rechte. Während unserer Meinung nach Chiapas keine fundamentale Bedrohung der politischen Stabilität in Mexiko darstellt, wird es als eben solche von einer Vielzahl von Investoren wahrgenommen.
Die Regierung wird die Zapatisten ausschalten (eliminate) müssen, um zu demonstrieren, wie wirksam ihre Kontrolle über nationales Territorium und nationale Sicherheit ist.
2. Wahlen in den Bundesstaaten
Präsident Zedillo bekannte sich in seiner Ansprache zur Amtseinführung noch einmal zur Öffnung des parlamentarischen Systems auch für Oppositionsparteien. Das war in den vergangenen Jahren eines der Hauptthemen zwischen der PRI-dominierten Regierung einerseits und der PAN und der PRD andererseits. Der konservative Flügel der PRI bezog gegen eine politische Liberalisierung Position, während der Flügel um Zedillo die Öffnung als unvermeidlich und auch gerechtfertigt betrachtete. Die augenblickliche Währungskrise wirft die Frage auf, ob Zedillo und die Reformer die Stärke haben werden, die Ergebnisse der Wahlen von 1995 zu respektieren. Die Konservativen werden behaupten, die Krise rechtfertige eine Fortsetzung der Einparteienherrschaft, selbst wenn dies nur durch Wahlbetrug möglich sei. Die Opposition, die ohnehin die Wahlsiege der PRI generell anzweifelt, … wird ermutigt werden, dies weiter zu tun. Zedillo wird vor einer schwierigen Situation stehen: Er muß die Konservativen seiner eigenen Partei neutralisieren und gleichzeitig sein Bekenntnis aufrechterhalten, die Opposition auch gewinnen zu lassen, wenn sie das legitim getan hat…
Die Regierung Zedillo muß sorgfältig prüfen, ob sie von der Opposition fair an den Urnen erzielte Wahlsiege zuläßt oder nicht.
Korrekt erzielte Wahlerfolge der Opposition nicht anzuerkennen, wäre zwar ein ernsthafter Rückschlag in Zedillos Strategie der Wahlrechtsreform. Ein Verlust der PRI-Kontrolle würde aber das Risiko einer Spaltung der Partei in sich bergen.
Wir glauben, daß die Fähigkeit der Regierung Zedillo, die inhärenten Konflikte in der Agenda der Wahlen von 1995 zu lösen, letztendlich entscheidend sein wird. Nämlich, ob es der Regierung gelingt, ihr Versprechen zu halten, die mexikanische Politik zu liberalisieren.
3. Die Arbeiterbewegung
Die Arbeiterbewegung war über Jahrzehnte das Rückgrat der PRI. Die Bereitschaft der Arbeiterführung sich nach der PRI zu richten, war ein fundamentaler Bestandteil der Stabilität in Mexiko seit den 30er Jahren. Die augenblickliche Währungskrise droht diese Unterstützung wegen den negativen Auswirkungen auf Lebensstandard und Löhne zu unterlaufen. Der Wertverfall des Peso macht sich für den durchschnittlichen mexikanischen Arbeiter schon beim Erwerb der Güter für den alltäglichen Bedarf heftig bemerkbar …Die starken, strukturellen Verknüpfungen zwischen Regierung und Gewerkschaften haben sich in den letzten Jahren abgeschwächt. Die Regierung hat zwar noch Einfluß, aber keine völlige Kontrolle mehr. Wenn sich die Krise fortsetzen sollte, wären zwei Optionen für die Regierung denkbar: 1. sie weist die Forderung der Arbeiter nach mehr Lohn zurück – mit der Möglichkeit von Demonstrationen oder 2. sie gibt den Forderungen der Arbeiter nach und verschärft damit die ökonomische Krisensituation.
Schlußfolgerungen
Die mexikanische Währungskrise hat das Bekenntnis der Regierung Zedillos zu einer neuen Welle von Reformen überschattet – Reformen, die politische Verhandlungen zur Lösung der Chiapas-Krise und die Garantie fairer Wahlen auf Bundesstaats- und Gemeindeebene einschlossen. Offen bleibt, ob die mexikanische Arbeiterklasse eine länger anhaltende Periode von Lohnverlust und sinkendem Lebensstandard akzeptieren wird. Diese sozialen und politischen Fragen, die für den Präsidenten eine hohe Priorität haben, werden unvermeidlich zurückgestellt werden, solange bis die ökonomische Situation geklärt ist. Solange die Regierung Zedillos unfähig ist, den Peso zu stabilisieren und Inflation zu vermeiden, läuft sie Gefahr mit sozialen und politischen Unruhen konfrontiert zu werden.
…und wieder herrscht Krieg
4./5. Februar 1995:
Treffen von ca. 2500 VertreterInnen linksgerichteter Bewegungen zum “Dritten Nationalen Demokratischen Konvent” in Querétaro/ Mittelmexiko. Es wurde der Beschluß gefaßt, die Organisationsstrukturen der PRD zu nutzen, um durch deren Parteibasis eine “Nationale Befreiungsbewegung” zu bilden, die einer politischen Oppositionsbewegung gleichkommt, aber nicht den Status einer Partei hat. Die Forderungen nach einer Übergangsregierung und der Abschaffung der PRI als Staatspartei wurden nochmals bekräftigt.
8. Februar:
Razzien der Polizei in Mexiko-Stadt und Veracruz. Dabei wurden zwei Waffenarsenale entdeckt, die laut offiziellen Angaben Granatwaffen, Maschinengewehre, Handgranaten und Sprengstoff beinhalteten, laut inoffiziellen nur fünfzehn Waffen verschiedenen Kalibers und zwei Pistolen.
Verhaftungen mehrerer vermeintlicher Guerilla-FührerInnen, darunter Subcommandante Elisa, welche das Geheimnis des Subkommandante Marcos und anderer FührerInnen preisgegeben hätte. Elisa erklärte später, sie sei unter Drohungen gezwungen worden, ein vorgefertigtes Geständnis zu unterschreiben.
9. Februar:
Fernsehansprache Zedillos, in der die Polizei angewiesen wurde, fünf führende Personen der EZLN festzunehmen, unter ihnen Marcos, dessen Name Rafael Sebastian Guillén Vicente sein soll.
Beginnende Offensive des Militärs gegen die Zapatisten; in einem Kommunique wiederholen die Zapatisten ihr Dialogangebot.
10. Februar:
Etwa 2500 Soldaten der mexikanischen Armee marschieren in die von Zapatisten kontrollierten Gebiete ein, unterstützt durch hunderte Militärfahrzeuge und Lufteinheiten. Ungefähr zwölf Orte werden durch Panzereinheiten besetzt.
Die Zapatisten zogen sich erstmal in unzugängliches Gebiet zurück, hunderte von Indígenas flohen aus Angst vor den Regierungstruppen.
11. Februar:
Massendemonstrationen in Mexiko-Stadt. An der größten, auf dem Zócalo, nahmen über 100 000 Personen teil. Unter der Parole: “Wir sind alle Marcos”, forderten sie ein sofortiges Ende des Krieges, die Freilassung aller bisherigen Gefangenen und eine friedliche Lösung des chiapanekischen Konfliktes.
Bisherige Opfer seien offiziell ein getöteter ranghoher Soldat und ein Offizier des Regierungsheeres.
12. Februar:
Nach Angaben der EZLN wurden zwei Dörfer, Morelia und Las Guarrachas von vier Kampfhubschraubern bombardiert. Die mexikanischen Behörden bestritten dies, gaben aber trotzdem durch das Innenministerium bekannt, daß alle wichtigen Positionen in Chiapas wiedererobert seien. Militärsprecher sprachen von schweren Gefechten und einigen Toten auf beiden Seiten.
Währenddessen fanden Gouverneurs- und Kommunalwahlen im Bundesstaat Jalisco statt, bei denen die konservative Partei der Nationalen Aktion (PAN) die meisten Stimmen verbuchen konnte.
13. Februar:
Subcommandante Marcos meldet sich zurück und bestreitet die Enttarnung seiner Person durch die Regierung. Er behauptet, nicht Rafael Sebastian Guillén Vicente zu sein.
Inzwischen sind Tausende von Indígenas auf der Flucht: Nationale Menschenrechtskommissionen klagen schwere Verstöße gegen die Menschenrechte von seiten der Militärs an, es ist von Folterungen, Vergewaltigungen und Erschießungen die Rede.
Die guatemaltekische Armee verstärkt ihre Truppen auf 8000 Soldaten an der Grenze zu Chiapas, um Flüchtlingen die Einreise zu versperren.
14. Februar:
Der chiapanekische Gouverneur Eduardo Robledo tritt zurück, formal bat er den Kongress um zeitweilige “Freistellung”. Zur selben Zeit verkündet Präsident Zedillo vor Vertretern von Indígena-Organisationen, daß es keine weiteren Offensiven gegen die zapatistischen Gebiete mehr geben würde, sondern das Militär nur noch mit Patrouillen gegen Gewalttaten eingesetzt würde.
16. Februar:
Amnesty international veröffentlicht eine Erklärung, in der der mexikanischen Armee schwere Vorwürfe wegen Menschenrechtsverletzungen gemacht werden. Mehrere dutzend Menschen seien willkürlich verhaftet und gefoltert worden, einige wären vermißt.
19. Februar:
Die dritte Großkundgebung in einer Woche findet diesmal vor dem Nationalpalast in Mexiko-Stadt statt. Wieder nehmen mehr als 100 000 Menschen daran teil. Verhandlungslösungen und der Rückzug der Bundesarmee werden gefordert.
Während der vergangenen Tage befinden sich immer mehr Menschen aus chiapanekischen Dörfern auf der Flucht (siehe ausführlichen Artikel in dieser Ausgabe), die zurückgelassenen Dörfer gleichen Geisterorten.
Die Zapatisten fordern ebenfalls den Rückzug der Bundesarmee, als Grundvoraussetzung für den Dialog.
Exodus in der Selva Lacandona
Die BewohnerInnen von Morelia, einem Dorf unmittelbar hinter der letzten Militärsperre, wurden von einem Angriff im Morgengrauen überrascht. Alle 1300 BewohnerInnen und dort arbeitende Ärzte und LehrerInnen flohen vor den vorrükkenden Panzern. Ohne ausreichende Kleidung und nicht genügenden Nahrungsmitteln versuchten sie Schutz vor den Bomben und MP-Salven in den Bergen zu suchen.
Die Erinnerungen an den Überfall der Bundesarmee am 7. Januar 1994 sind noch präsent. Damals sind EinwohnerInnen gefoltert und verschleppt worden, ein Dorfmitglied ist seitdem verschwunden.
Um das nackte Leben zu retten verstekken sich inzwischen über 6000 Menschen in den Wäldern. Ohne Kleidung und Dekken, der Kälte ausgeliefert, ohne Nahrungsmittel, durch Unterernährung geschwächt und durch verschmutztes Wasser erkrankt, harren sie aus, eingeschüchtert durch Tiefflüge der Luftwaffe. Ihre Dörfer wurden von den Armeen geplündert, die Schule und Bibliothek in Morelia abgebrannt. In Lazare Cardenas, einem anderen Dorf aus dem die Menschen flohen, blieben drei Menschen zurück, die drei Tage von der Armee gefesselt und ohne Nahrung verhört wurden.
Unter den Flüchtlingen grassieren Durchfallerkrankungen, Tuberkulose, Fieber und Cholera. Medizinische Versorgung gibt es nicht.
In der Nähe von Guadalupe Tepeyac sind ebenfalls nur noch verwaiste, von der Armee besetzte Orte zu finden. Das Dorf ist am 9. Februar von 2300 Fallschirmjägern überfallen worden. Die Dörfer sind von der Armee zu Festungen ausgebaut worden. In Morelia sind Inzwischen 800 Soldaten mit Panzern vor Ort.
Die Flüchtlinge rufen in einem Appell zu sofortigen internationalen Hilfsmaßnahmen auf. Die Offensive geht weiter. Allen Versprechungen zum trotz rückt die Armee, vor allem mit Panzereinheiten, weiter vor. Die EZLN soll in Kämpfe verwickelt werden. Bisher hat sie ihre Truppen allerdings angewiesen, diese zu vermeiden und sich zurückzuziehen.
Insgesamt liegen 2700 Haftbefehle gegen vermeintliche Zapatisten vor.
“Wir schaffen eine neue Realität”
In dieser Zone, in der die Zapatistische Befreiungsarmee EZLN militärisch nicht präsent ist, haben Campesino-Organisationen verschiedenster politischer Richtungen zahlreiche Ländereien von Großgrundbesitzern besetzt, um dem historischen Ruf der landlosen Bauern nach Grund und Boden Geltung zu verschaffen. Eine dieser Organisationen ist die “Unión de Campesinos y Popular Francisco Villa”, die in 14 Gemeinden der Region Fraylesca aktiv ist. Trotz mehrerer bewaffneter Räumungsversuche durch von Großgrundbesitzern aufgestellte Söldnertruppen sogenannte Guardias Blancas befinden sich weiterhin 9 Fincas unter Kontrolle der Villisten. Als erstem internationalen Journalisten wurde mir am 1. Februar 1995 ein Besuch der seit dem 4. August letzten Jahres besetzten Finca Liquidambar gestattet.
“Wir sind keine Guerilla, sondern eine Campesino-Organisation, die einen unbewaffneten Kampf für ein menschenwürdiges Leben auf eigenem Land führt”, erklärte Eduardo, Führungsmitglied der UCPFV auf unserem Rundgang auf der Finca. “Vielleicht werden wir ökonomisch nicht besser leben, aber in Würde. Sie nannten uns dreckige Indianer. Mit diesen Beleidigungen ist jetzt Schluß.” Unser erster Weg führt uns in das Verwaltungsgebäude, wo ich auf Relikte bekannter und vermeintlich vergangener Zeiten treffe: Eine Wehrmachtsurkunde an der Wand, eine Bismarckbüste auf dem Schrank. Im Bücherregal entdecke ich neben “Die Schlacht von Stalingrad” und Berichten über das “Schicksal der 6. Armee” auch ein Werk des US-amerikanischen Ethnologen Oscar Lewis ” Zeugnisse von armen Mexikanern”. An der Zahlstelle, wo sich die KaffeepflanzerInnen ihren kargen Lohn abholten, prangt ein Aufkleber, der zynischer kaum sein kann: “Dinero en manos del pobre”, übersetzt: “Geld in Händen der Armen – armes Geld.”
Billardtisch und Hausbar
Auf einer Anhöhe, mit Blick über die mindestens 2.000 Hektar umfassende Kaffeeplantage, steht das Haus der Ex-BesitzerInnen. Die Villa “der Reichen”, wie die deutschen Finqueros hier genannt werden, ist von einem Blumengarten umgeben. Hier residierte das Ehepaar Margarita Schimpf und Laurenz Hulders mit ihrem Sohn, bis sie am 4. August letzten Jahres angesichts der rebellierenden Campesinos/as fluchtartig Liquidambar verließen. “Wenn die Reichen in ihr Haus wollen, können sie kommen und mit uns leben. Aber sie werden nicht mehr Land erhalten als wir alle.” Eduardo begleitet mich ins Innere des leerstehenden Gebäudes, dessen luxuriöse Ausstattung den Villistas am Tag der Besetzung die Sprache verschlug: Billard-Salon, Bodybuilding-Center, Hausbar, Weinkeller. “Die Getränke, vor allem Champagner und französische Weine, wurden nach der Besetzung ausgetrunken. Aber jetzt ist auf unserer Finca Alkoholverbot” erklärt Eduardo, “da das Geld der Familien für wichtigere Dinge ausgegeben werden soll.” Vorbei an zwei Swimming-Pools verlassen wir den Herrschaftssitz und betreten die Siedlung der Finca. Während in den wenigen Steinhäusern die Verwalter lebten, waren die KaffeepflückerInnen, in der Erntezeit etwa 2000 Personen, in Baracken untergebracht. “Hühnerställe” wurden diese etwa 120 Quadratmeter großen Holzbauten genannt, in denen ca. 100 Menschen monatelang “wohnten”. Bis vor einem halben Jahr waren hier die Zustände Wirklichkeit, die B. Traven in seinem Buch “Die Rebellion der Gehenkten” beschreibt. Neben der kleinen Kapelle, im Zentrum der Siedlung, befand sich die “Tienda de Raya”. In diesem Laden konnten die Campesinos ihre Fichas, statt Geld für die geleistete Arbeit ausgegebene Wertmarken, gegen Kleidung, Werkzeuge und billigen Fusel eintauschen. Für den Arbeitstag, der von 5 bis 20 Uhr dauerte, erhielten die KaffeearbeiterInnen Marken im Gegenwert von 8 Pesos, die Frauen unter ihnen weniger. Das portionierte Essen – Tortillas, Bohnen und Kaffee – wurde vom Lohn abgezogen. Medizinische Versorgung gab es in Liquidambar für die Peones nicht. Allerdings konnten diejenigen, die in der Nähe über eine kleine Parzelle Land verfügten, Kredite für den Kauf der Medikamente bei den Finca-BesitzerInnen aufnehmen. Als Gegenleistung mußten den Deutschen die Besitztitel überlassen werden. Durch diese Methode haben sich über die Hälfte der BewohnerInnen des in der Nähe von Liquidambar gelegenen Ortes Nueva Palestina verschuldet. Was mit den Menschen passierte, die über keine “Reserven” verfügten, läßt ein im Wald der Finca angelegter Friedhof vermuten. Holzkreuze ohne Namen und ohne Daten symbolisieren das Ende der Leidenswege zerschundener TagelöhnerInnen. Eduardo erklärt: “Hier sind diejenigen begraben, die ohne Familien gekommen waren, zum Großteil Guatemalteken, Nicaraguaner und Salvadorianer. Diesen illegalen Wanderarbeitern wurden bei Arbeitsbeginn von den Verwaltern die Papiere abgenommen, um Auflehnungen, vor allem gegen Betrug bei den Lohnzahlungen, vorzubeugen.” Falls es doch zu Protesten gegen die Verhältnisse kam, oftmals am arbeitsfreien Sonntag, wenn die Campesinos ihr Leid im Suff ertränkten, wurden sie von Aufpassern in das Gefängnis der Finca geworfen. Die folgende Geldstrafe wurde vom Lohn abgezogen. Diese Zustände sind jetzt vorbei.
Arbeit unter Selbstverwaltung
Es ist Abend geworden, die KaffeepflückerInnen bringen die Bohnen von den Feldern. Zum ersten Mal in ihrem Leben arbeiten die Menschen in Liquidambar unter Selbstverwaltung. Die Ernte ist gut und der Kaffeepreis gestiegen. Während der Tageslohn vor der Besetzung bei 8 Pesos lag, werden jetzt zwischen 60 und 100 Pesos (ca. 12 bis 20 US-Dollar) ausgezahlt, je nach gepflückter Menge Kaffee. Da die Produktionsanlage nicht wie in vielen anderen Fincas von den Ex-BesitzerInnen sabotiert wurde, läuft der Wasch- und Trocknungsvorgang relativ reibungslos. Auch beim Verkauf des zum größten Teil organischen Kaffees gibt es keine Probleme – nicht mehr. Die Boykottversuche der Großgrundbesitzer sind in dieser Region gescheitert, da sich die Kaffee-Aufkäufer das lukrative Geschäft nicht entgehen lassen wollen. Allerdings werden die Villistas in Liquidambar höchstens die Hälfte des reifen Kaffees ernten können. Das liegt vor allem daran, daß es die UCPFV ablehnt, fremde Leute einzustellen. Eduardo: “In den von uns besetzten Fincas sind die Arbeits- und Lebensformen unterschiedlich. Hier in Liquidambar wird alles kollektiv verwaltet und bearbeitet. Alle Menschen, die hier arbeiten, sind Mitglieder der Kooperative. Wir bezahlen uns, Männern und Frauen, die gleichen Löhne, das Essen ist für alle umsonst, und die Häuser – die Baracken werden nicht bewohnt – stehen den Familien zur Verfügung.”
Nach eigenen Angaben sind über 1000 Familien in der UCPFV organisiert, überwiegend in der Region Fraylesca. Die UCPFV existiert seit über vier Jahren, ist jedoch erst bei den Besetzungen von Liquidambar am 4. August und Prusia am 7. September letzten Jahres öffentlich unter diesem Namen aufgetreten. Eduardo: “Unsere ersten Aktionen waren die Besetzungen der Fincas Salvador Urbina und Agua Piedra Blanca am 16. Februar 1991. In den folgenden drei Jahren, wir nennen sie Etappe des Widerstandes und der Reifung, mußten wir lernen, mit für uns neuen Situationen fertigzuwerden. Räumungen, Festnahmen, Morde an unseren Mitgliedern durch Guardias Blancas, Wiederbesetzungen wechselten einander ab. In dieser Region ist die Repression gegen sich organisierende Campesinos/as durch die traditionell enge Verflechtung von GroßgrundbesitzerInnen, PolitikerInnen der seit über 60 Jahren regierenden PRI und dem Polizeiapparat besonders ausgeprägt. So wurden am 5. September Roberto H. Paniagua, ein für die Interessen der Campesinos/as ein-getretener Politiker der PRD, und am 30. Oktober 1994 ein Mitglied der UCPFV von Pistoleros der Finqueros ermordet. Eduardo: “Wir schaffen eine neue Realität, gegen die Unterdrükkung durch Guardias Blancas und Polizei. Dabei können wir nur auf unsere eigene Stärke, die unbewaffnete Organisierung, vertrauen.” Die blutigen Erfahrungen, die die Villistas machen mußten, erschweren die von ihnen angestrebten Legalisierungen der besetzten Fincas. Das Mißtrauen gegenüber den staatlichen Stellen sitzt tief. Ein nicht genauer definiertes Angebot des Gouverneurs, ihnen im Tausch gegen Liquidambar 1500 Hektar Land in einem anderen Landkreis zur Verfügung zu stellen, lehnte die UCPFV ab. Eduardo: “Wir wissen nicht, wo diese 1500 Hektar sein sollen. Dieses zu akzeptieren hieße, das Land den dortigen Campesinos wegzunehmen. Wir wollen keine andere Finca, sondern das Land, das seit Generationen von uns bearbeitet wird.”
Die Mütze bleibt drüber
Die Zukunft der von der UCPFV besetzten Finca ist ungewiß. Der Bruch des mit der EZLN ausgehandelten Waffenstillstandes durch die mexikanische Regierung läßt auch ein gewaltsames Vorgehen gegen die rund 700 in Chiapas enteigneten Ländereien befürchten. Verschiedene Großgrundbesitzervereinigungen haben die Existenz einer 700 Mann starken Armee von Guardias Blancas bestätigt. Jorge Constantino Kanter, Präsident der regionalen Landbesitzerunion, wurde am 30. Januar auf einer Pressekonferenz deutlich: “Wenn in 30 Tagen die besetzten Fincas nicht geräumt sind, werden wir selber die Initiative ergreifen. Unsere Aktionen werden sich speziell gegen Führer von Campesino-Organisationen richten.” In der Region Freylesca operiert nach Presseangaben das Todesschwadron “Frente Tiburcio Fernandez”, benannt nach dem Anführer der Konterrevolution in dieser Region während der 20er Jahre. Angesichts dieser Bedrohungen ist es verständlich, daß die Villistas weder ihre Namen nennen, noch sich ohne Gesichtsschutz fotografieren lassen.
Jenseits von Chiapas…?
Während diesseits und jenseits des “gran charco” mit einer gewissen Euphorie über die Möglichkeit der Bildung eines mexikoweiten zapatistisch-cardenistischen Bündnisses namens Movimiento de Liberación Nacional (MLN) angeregt debattiert wurde, beraten UnterhändlerInnen zwischen Weißem Haus, Wall Street und Los Pinos (dem Amtssitz des Präsidenten Zedillo) ebenfalls zeitgleich die letzten Bedingungen und Details. Dabei ging es nicht nur um den milliardenschweren transnationalen Dollarkredit für Mexiko, sondern auch um den Frontalangriff auf das EZLN und die mit ihm “sympathisierende” Zivilgesellschaft.
Im Nachhinein gesehen liegt die Bedeutung des Hamburger Treffens dennoch darin, zum einen ein Resümee der politischen und wirtschaftlichen Situation Mexikos zu ziehen, ein Jahr nach dem “Wiedereintritt der Gesichtslosen, der ewig Toten in die Geschichte”, dem öffentlichen Erscheinen des EZLN. Und zum anderen bot das Wochenende die Gelegenheit, das eigene Engagement und die eigene Solidarität mit einer neuartigen, zumindest ungewöhnlichen und vielfach mittels “Marcos-Folklore” schon wieder refunktionalisierten Bewegung zu reflektieren. Dem Europa-Vertreter der CND, Alejandro de la Paz, gelang es im Verlauf des Treffens, die beiden Diskussionsstränge – das schlichte Bedürfnis zu begreifen, “qué chingaos está pasando en México”, und den Wunsch nach einer eigenen Standortbestimmung gegenüber dem “Phänomen EZLN” – aufeinander zu beziehen. Denn wie Alejandro aus eigener Erfahrung zeigte, steht die von den zentralamerikanischen Guerrillabewegungen der siebziger und achtziger Jahre stark geprägte bundesdeutsche Soliszene ähnlich wie die mexikanische Zivilgesellschaft zunächst perplex vor einer bewaffneten Campesino-Bewegung, die weder Avantgarde-Ansprüche hat noch bereit ist, einen heroischen Stellvertreterkrieg für ganz Mexiko zu führen. Stattdessen zwingt sie die vielfältigsten Bewegungen, Organisationen, Parteien und Grüppchen dazu, ihre Einzelforderungen, Alternativen und Utopien in ein gemeinsames, aber plurales “neues Projekt der Nation” einzubringen.
Wie soll die Unterstützung einer Bewegung aussehen, die versucht, sich jeglicher Form von Globalisierung zu entziehen? Was heißt “internationale Solidarität” im Kontext von Regionalautonomie, von Anerkennung kommunaler Souveränität? Auf dem Hamburger Treffen gab es nur zaghafte Andeutungen möglicher Antworten: Auf die Globalisierung und Transnationalisierung von Machtstrukturen soll mit dem Aufbau eines transnationalen Austausches vergangener und gegenwärtig praktizierter Erfahrungen, mit Strategien des Widerstands, der “Demokratisierung von unten”, des Er-Lebens von Autonomie reagiert werden. Jenseits des Scheiterns oder Erfolgs der CND beginnt Alejandro zufolge ein derartiger, spannungsreicher und auch widersprüchlicher Austausch im Rahmen der verschiedensten lokalen, regionalen und mexikoweiten Treffen. Der Austausch von MitgliederInnen der Frauenbewegung, der Slum- und Stadtteilinitiativen, der LehrerInnen- und StudentInnenbewegungen sowie nicht zuletzt der Campesino- und Indígena-Organisationen ist nun eingeleitet worden. Das Engagement bundesdeutscher Gruppen sollte seiner Ansicht nach diese Art der Zusammenarbeit aufgreifen durch unterschiedlichste Lernformen der Stiftung von Partnerschaften zwischen Gemeinden, Schulen, Organisationen etc. sowie durch das wechselseitige Schaffen von Gegenöffentlichkeiten bereichern. Dies würde es den verschiedenen sozialen Bewegungen gestatten, mittels Blick über den sprichwörtlichen Tellerrand die eigene Isolation zu überwinden und ihren spezifischen Kampf in einen allgemeineren Kontext zu stellen.
Ein konkretes Ergebnis des Hamburger Mexiko-Treffens ist der Aufbau eines direkten Kontakts zwischen den bundesdeutschen Gruppen und der CND sowie der oppositionellen, von Amado Avendaño koordinierten chiapanekischen “Übergangsregierung im Widerstand”. Über dieses neue Netz sollen unterschiedliche Aktionen in verschiedenen Städten organisiert werden, bei denen vor allem eine engere Zusammenarbeit mit den hier (noch existierenden) sozialen Bewegungen gesucht wird. Begünstigt wird diese Zusammenarbeit durch die Heterogenität der in Hamburg anwesenden Gruppen: Zu routinierten “Profis” der internationalistischen Szene und Gruppen, die aus kirchenbewegten oder akademischen Kontexten stammen und oft zu eher theoretischem Debattieren neigen, treten eher stadtteilbezogene und aus der eigenen konkreten Lebenswelt heraus engagierte Gruppen. Für diese sind Konzepte wie Autonomie nicht bloßer Diskussionsstoff, sondern vielmehr Alltagspraxis. Ob sich aus einem derart heterogenen Spektrum von Gruppen neue und effektive Aktionsformen entwickeln lassen, muß jetzt der Kampf gegen die von den Gläubigerbanken “transnationalisierte” militärische Repression der mexikanischen Demokratiebewegung zeigen.
Hart an der Grenze
Wieder einmal sorgt der Londoner Verlag Latin America Bureau dafür, daß ein vernachlässigtes Thema, gründlich und interessant geschrieben, einem breiten Publikum zugänglich gemacht wird. Die Rede ist von der US-mexikanischen Grenzregion im allgemeinen und den vielen MexikanerInnen, die dort leben, im besonderen. Augusta Dwyer durchstreift in “On the Line” eine Region, die sie prosaisch mit “verloren zwischen zwei Nationen” beschreibt.
Matamoros, Reynosa, Eagle Pass, Ciudad Juárez, Nogales, Douglas, Ciudad Acuna, Tijuana – klangvolle Namen, aber die Realität in diesen rasant wachsenden Städten in der Grenzregion ist hart. Der phänomenale Aufstieg der Maquiladoraindustrie hat sie genauso geprägt wie die daraus entstandenen negativen Folgeerscheinungen in der Umwelt: Flüsse voll mit Schwermetallen, miserable Luft und vergiftete Böden. In dieser Region war Dwyer unterwegs, auf der Suche nach Schicksalen hinter den eingezäunten Maquiladorafabriken, nach Schicksalen hinter den dünnen Wellblechen der Armensiedlungen, wo die Hoffnung immer die Himmelsrichtung Nord hat. Und es ist ihr gelungen. Dwyers Buch überzeugt immer dann, wenn sie das ausgiebig macht, was sie kann: journalistisch gut aufbereitet einzelne menschliche Schicksale als Folie für die Zwänge und Nöte zu benutzen, denen mehr oder weniger alle MexikanerInnen in dieser Region ausgesetzt sind. Etwa, wenn sie die Geschichte der schwangeren Petra erzählt, die wegen der aufgeblasenen Unnachgiebigkeit des Schichtleiters einer Maquiladorafabrik ihr Kind verliert. In diesem Sinn ist ihr Buch pathetisch und mitunter auch ein wenig missionarisch. Es versucht Verständnis für die Situation der MexikanerInnen zu wecken und ist auch eine Reaktion auf die antimexikanischen Polemiken in den USA im Zusammenhang mit den NAFTA-Verhandlungen. Und es proklamiert die internationale Gemeinschaft. Immer dann, wenn Dwyer die Mühsal bei der gewerkschaftlichen Organisierung der mexikanischen ArbeiterInnen beschreibt, spritzt die Tinte auch nach Norden. Ihre Hoffnung ist der Zusammenschluß über die Grenze hinweg. “Eine Grenze, vollgepackt mit Widersprüchen, geografisch und kulturell entfernt von ihren jeweiligen Machtzentren, trotzt einfachen Versuchen von Charakterzuweisungen. Feucht und subtropisch am einen Ende, wüstentrocken und gebirgig auf der anderen schneidet sie eine Linie quer durch zwei verschiedene Welten. Die eine ist das Zuhause. Die andere ist die ‘andere Seite’. Doch nach einer eingehenderen Untersuchung beginnen die Unterschiede zu verschwimmen, es entfaltet sich das Bild einer Region, die auf ihre Art einzigartig ist, sie ist weder USA noch Mexiko”, schreibt Dwyer über diese Region. Aber auch wenn die Grenze in den Köpfen nicht mehr da sein mag (was bezweifelt werden muß), so gibt es die Mauer am Rio Grande unbestritten immer noch. Diesen Aspekt hat Dwyer nicht außer Acht gelassen. Ihr Kapitel über die US-amerikanische Grenzpolizei, die Border Patrol ist einer der Höhepunkte ihres Buches.
Nur ein kleiner Wermutstropfen bleibt: Im Eifer der Recherche ist Dwyer mitunter der Sinn für das Ganze flöten gegangen. Anfangs beeindruckt die vorgelegte Datenmasse, aber mit voranschreitender Seitenzahl droht mensch in der Flut der eindrucksvoll vielen Zahlen den Überblick zu verlieren, was nicht weiter schlimm wäre, hätte ihn die Autorin nicht auch selbst ein wenig verloren. In bester Stimmung reiht sie ein Zahlenpaket ans nächste. Jede Episode wird, noch bevor sie zu Ende ist, abstrahiert, indem Dwyer sie mit eifrig zusammengestelltem Zahlenmaterial füttert; so lange, bis der Inhalt bricht. Das Ganze, so abgedroschen muß auch mal rezensiert werden, ist halt immer noch mehr als die Summe seiner Teile – auch wenn die Teile für sich doch alle wieder etwas Ganzes sind. Deshalb der LN-Serviervorschlag: Häppchenweise!
Martin Ziegele
Augusta Dwyer: On the Line. Life on the US-Mexican Border, London 1994, zu beziehen (wie übrigens alle Bücher des Latin America Bureau) über die Lateinamerika Nachrichten. Gneisenaustraße 2a. 10961 Berlin. 29,80 DM.
Hörbarer Aufstand
Guatemala geriet 1986 in die Schlagzeilen. Nach langer Militärherrschaft wurde der Christdemokrat Vinicio Cerezo in formal freien Wahlen zum Präsidenten gewählt. Die bundesdeutsche Regierung meinte, dieses Ereignis ausgerechnet durch Lieferung von Polizeifahrzeugen und -ausrüstung unterstützen zu müssen – zur Stärkung demokratischer Rechtsstaatlichkeit.
Rufen wir uns die Ereignisse noch einmal in Erinnerung: Als die Militärs von 1978-1983 in Guatemala eine “Politik der verbrannten Erde” praktizierten, mußte die BRD wie viele andere Geberländer ihre finanzielle Unterstützung herunterschrauben, wobei bemerkenswert ist, daß sie auch unter einer SPD/FDP-Regierung nie ganz eingestellt wurde. Der “Nationale Plan für Sicherheit und Entwicklung”, der 1982 vom Generalstab der guatemaltekischen Armee vorgelegt wurde, hatte eine gewisse Änderung der politischen Mittel zur Folge: Die Herrschaft von Militär und Großgrundbesitzern sollte nun durch gezielte militärische Schläge gegen die Guerrilla und durch eine breite Anti-Guerrilla-Kampagne gesichert werden, wozu ganze Dörfer zwangsweise “umerzogen” und in sogenannten Zivilpatrouillen zu Handlangern des Militärs gemacht wurden. In diesen Plan paßte es auch, scheindemokratische Institutionen einzurichten, um gegenüber den internationalen Geldgebern glaubwürdiger zu erscheinen.
Die Leichtgläubigkeit der Bundesregierung jedoch war erschreckend. Das offizielle Konzept sah vor, die vom Präsidenten kontrollierte Nationalpolizei als Gegengewicht zum Militär zu stärken – “zu einer wirksamen Verbrechensbekämpfung im Interesse der Bevölkerung und zur Verbesserung der Menschenrechtslage”, wie der Ministerialdirigent im BMZ Schweiger am 22.September 1986 schrieb. Einen Monat später hingegen war im Spiegel zu lesen, daß seit Cerezos Amtsbeginn (14. Januar 1986) bis August 551 Menschen ermordet und 198 verschleppt worden seien und nach Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen ein Drittel davon “auf das Konto der staatlichen Sicherheitskräfte gehen und politisch motiviert sind.”
Dennoch übergab der deutsche Botschafter in Guatemala am 11. Februar 1987 120 Fahrzeuge und über 140 elektronische Geräte an die Nationalpolizei.
Die Hoffnungen, die in den gewählten Präsidenten gesetzt wurden, waren vergeblich: Die Morde und schweren Menschenrechtsverletzungen ließen nicht nach, und es war offensichtlich, daß staatliche Stellen in Guatemala einen Teil der Verbrechen zu verantworten hatten, Nachforschungen über die Täter verhinderten und die 1985 vom Militär ausgesprochene Selbstamnestie nicht antasteten. Im Jahre 1988 verschärfte sich die Lage, als sich Cerezo nach dem gescheiterten Militärputsch im Mai dazu gezwungen sah, die Nationalpolizei dem Militär einzugliedern. Daß die Polizei im Sinne rechtsstaatlicher Demokratie handeln würde, war spätestens von da an nicht mehr denkbar.
Noch im Jahre 1989 wurde ein Antrag der Grünen im Bundestag bei Enthaltung der SPD(!) abgelehnt, die Polizeihilfe einzustellen. Aber erst als die USA ihre Zahlungen beendete, nachdem bei einem Massaker am 2.12.1990 13 Indígenas ermordet worden waren, zahlte auch die BRD die letzte Million nicht mehr aus.
Selbstverständlich ist die deutsche Polizeihilfe für Guatemala nicht das zentrale Thema des Buches. Worum geht es?
Nachdem der Rowohlt-Verlag ein für Juni 1994 angekündigtes Buch zur Lage in Guatemala (bisher immer noch) nicht herausgebracht hat, bietet Sterrs Buch einen tiefgründigen Einblick in die jüngste Geschichte des Landes und behebt damit den Mangel an einer aktuellen deutschsprachigen Darstellung. Es kommt Sterr vor allem auf die politische Geschichte an. Aber neben den sauber recherchierten, in verständlicher Sprache dargebotenen Fakten und Zusammenhängen ist es ein Buch, das bewegt. Der Autor hat auf seinen Reisen selbst das Land kennenlernen können, und es bestätigt sich die alte Erfahrung: Von soundso vielen Toten und Verletzten zu hören, ist schrecklich, aber doch abstrakt, also unvorstellbar. In seinen Ausmaßen wird das Leiden ahnbarer -begreifbar wohl kaum-, wenn es um den Einzelnen und die Einzelne geht. So fügt Sterr in seinen historischen Bericht zwei Reportagen ein. Hat man sie gelesen, dann bekommt auch der übrige Text ein anderes Gesicht.
Darüber hinaus ist es ihm gelungen, mit wichtigen Personen Guatemalas Interviews zu führen. Das Buch beginnt mit einem Gespräch mit Rigoberta Menchú. Später sind Interviews mit den comandantes der drei Untergruppierungen der Guerrilla URNG eingefügt, die für mich ganz besonders aufschlußreich waren, da es sich nicht um die üblichen Statements handelt, sondern die Befragten, unter ihnen der Sohn des guatemaltekischen Schriftstellers Miguel Angel Asturias, über ihre Herkunft und ihr Selbstverständnis sprechen. Bereits 1990 führte Sterr ein Interview mit dem Ex-Diktator Ríos Montt – dem im Januar 1995 frisch gewählten Parlamentspräsidenten – ; ein Blick aus anderer Perspektive also, der sehr zu denken gibt. Trotz allem Persönlichen verfällt Albert Sterr nicht dem Kult der Betroffenheit, sondern vermag es, fundierte Informationen und Statistiken mit dem alltäglichen Besonderen zu verbinden.
Das Buch schließt mit einer detaillierten Darstellung der Friedensverhandlungen, die bisher noch nicht abgeschlossen sind. So sind allem die sich heute mit Guatemala beschäftigen, breite Kenntnisse an die Hand gegeben, die über das Basiswissen weit hinausgehen.
In seinem Vorwort schreibt Sterr: “(Diese Arbeit)…wendet sich nicht in erster Linie an ‘Guatemala-Fachleute’, sondern richtet sich auch an diejenigen, die zum Beispiel das Land besuchen und sich vorher einen Überblick darüber verschaffen wollen, welche gesellschaftliche Realität die Maya-Ruinen und die indianischen Märkte umgibt.”
Wie schön wäre es, würden sich TouristInnen so vorbereiten.
Valentin Schönherr
Albert Sterr: Guatemala. Lautloser Aufstand im Land der Maya, Neuer ISP Verlag, Köln 1994, 290 S., 36,- DM.
Aus den Bergen des mexikanischen Südostens
Wir rufen alle sozialen und politischen Kräfte des Landes, alle aufrichtigen MexikanerInnen, alle die, die für die Demokratisierung des nationalen Lebens kämpfen, zur Gründung einer BEWEGUNG FÜR DIE NATIONALE BEFREIUNG auf, die die Nationale Demokratische Konvention und alle Kräfte einschließt, die unabhängig von religiöser Überzeugung, Abstammung oder politischer Ideologie gegen das System der Staatspartei sind. Diese Bewegung für die Nationale Befreiung wird mit allen Mitteln und auf allen Ebenen für die Einsetzung einer Übergangsregierung, für eine neue Verfassunsversammlung, für eine neue Verfassung und für die Zerstörung des Systems der Staatspartei kämpfen. Wir rufen die Nationale Demokratische Konvention und den Bürger Cuauthémoc Cárdenas Solórzano dazu auf, sich an die Spitze dieser Bewegung für die Nationale Befreiung zu stellen, die ein breites Oppositionsbündnis sein soll.
Wir rufen die ArbeiterInnen der Republik, die ArbeiterInnen auf dem Land und in der Stadt, die Colonos, die LehrerInnen und StudentenInnen Mexikos, die mexikanischen Frauen, die Jugendlichen des ganzen Landes, die KünstlerInnen und die aufrichtigen Intellektuellen, die konsequenten Gläubigen, die Basismitglieder der verschiedenen politischen Organisationen dazu auf, in ihrem Bereich und mit den Kampfformen, die sie für möglich und für notwendig halten, für das Ende der Staatspartei zu kämpfen und sich der Nationalen Demokratischen Konvention anzuschließen, wenn sie keiner Partei angehören, der Bewegung für die Nationale Befreiung, wenn sie in einer der politischen Oppositionskräfte aktiv sind.
Im Geist der III. Erklärung des Lacandon-Urwaldes verkünden wir:
Erstens: Der Bundesregierung wird die Wache über das Vaterland entzogen. Die mexikanische Flagge, das oberste Gesetz der Nation, die mexikanische Hymne und das Nationalwappen werden ab jetzt in der Obhut der Widerstandskräfte sein, bis die Legalität, die Legitimität und die Souveränität im gesamten nationalen Territorium wiederhergestellt sind.
Zweitens: Die ursprüngliche Politische Verfassung der Vereinigten Mexikanischen Staaten in ihrer Fassung vom 5. Februar 1917 wird für gültig erklärt. Ihr werden die Revolutionären Gesetze von 1993 und die Autonomiestatuten für die Indígena-Regionen beigefügt. Sie gilt, bis eine neue Verfassungsversammlung zusammentritt und eine neue Carta Magna verabschiedet.
Drittens: Wir rufen zum Kampf für die Anerkennung der “Übergangsregierung zur Demokratie” auf, in die sich die verschiedenen Gemeinden, sozialen und politischen Organisationen selber einbringen. So wird der in der Verfassung von 1917 vereinbarte Bundespakt aufrecht erhalten. Die Gemeinden und Organisationen schließen sich unabhängig von der religiösen Überzeugung, der sozialen Klasse, der politischefolgung sowie aufgrund von Krieg und Bürgerkrieg müssen das Recht auf Asyl begründen. Flucht aufgrund von Armut, welche die in der Allgemeinen Erklärung zu den Menschenrechten festgeschriebenen Mindeststandards eines menschenwürdigen Lebens verletzt, muß als Asylgrund anerkannt werden.
4. Deserteure und Kriegsdienstverweigerer aus Kriegs- oder Bürgerkriegsgebieten müssen Anspruch auf Asyl haben.
5. Die Länder Europas werden aufgefordert, Flüchtlinge und Asylsuchende vom Visumzwang z das Wahlgesetz reformieren, damit künftig saubere Wahlen, Glaubwürdigkeit, die Anerkennung aller nationalen, regionalen und lokalen politischen Kräfte gesichert sind. Die Übergangsregierung soll zu neuen allgemeinen Wahlen in der Föderation aufrufen.
3. Sie wird eine Verfassungsversammlung für die Schaffung einer neuen Verfassung einberufen.
4. Sie muß die Besonderheiten der Indígena-Gruppen, ihr Recht auf Autonomie und ihre Staatsbürgerschaft anerkennen.
5. Das nationale Wirtschaftsprogramm muß grundlegend verändert werden. Lüge und Verschleierung müssen beseitigt werden. Die ArbeiterInnen und BäuerInnen, die die HauptproduzentInnen des Reichtums sind, den sich jedoch andere aneignen, müssen künftig begünstigt werden.
Mexiko, Januar 1995.”
Die Seifenblase ist geplatzt
Salinas de Gortari, der erst im Dezember das Präsidentenamt an Zedillo abgegeben hatte, ist davon überzeugt, daß Mexiko den Peso bereits zu einem früheren Zeitpunkt hätte abwerten sollen. Seine Regierung habe jedoch im Vorfeld der Wahlen im Herbst aus Stabilitätsgründen nicht von ihrer Wechselkurspolitik abweichen wollen. Der PRI blieb so bis zum 20. Dezember immer noch ihre ökonomische Erfolgsbilanz, die sich ebenfalls auf Stabilität gründete: Geringe Inflation, die allerdings nur wegen eines immer größer werdenden Kapitalbilanzdefizites möglich war, machte die Staatspartei, im Bewußtsein der Wähler, zum einzigen Garanten der Stabilität und sicherte ihr bei den Präsidentschaftswahlen den Sieg. Die Oppositionsparteien PRD und PAN werfen dem Ex-Präsidenten Salinas inzwischen persönliche Bereicherung vor. Doch die USA, deren Präsident Bill Clinton immer wieder die unbeschränkten Importe von US-Waren nach Mexiko ohne entsprechende Pesoabwertungen lobte, fördern die Kandidatur Salinas zum Vorsitzenden der GATT-Nachfolgers WTO (Welthandelsorganisation) weiterhin. Salinas zeige hervorragende Führungsqualitäten, erklärte US-Handelsminister Ron Brown. Der venezolanische Wirtschaftswissenschaftler Moises Naim betonte dagegen, schon vor einem Jahr sei bekannt gewesen, daß der Wechselkurs des Peso korrigiert werden mußte. Die Regierung habe aber nichts unternommen, weil sie sich damals durch die günstigen makroökonomischen Daten gut nach außen habe darstellen können. Diese Seifenblase ist jetzt geplatzt. Der PRI ist zwar ihr wichtigstes Ziel, der Machterhalt, wieder einmal gelungen. Doch der Preis dafür ist hoch. Das Schockprogramm Zedillos wird natürlich vom Internationalen Währungsfond (IWF) unterstützt, in der Bevölkerung dürfte der Rückhalt allerdings nicht groß sein. Im Notstandsprogramm sind innerhalb der nächsten zwei Jahre lediglich Lohnsteigerungen von sieben Prozent vorgesehen. Die Unternehmen konnten nur zu dem Versprechen gebracht werden, die Preise nicht “ungerechtfertigt” zu erhöhen. Dieses “Abkommen für die Einheit”, das Anfang Januar von der Regierung mit dem Gewerkschaftsdachverband und den Unternehmen ausgehandelt wurde, soll die Inflation 1995 nicht über 19 Prozent schnellen lassen. Auch ist vorgesehen, die Staatsausgaben zu kürzen. Und die Preise bleiben für zwei Monate eingefroren, wohl vor allem, um den Sturz der mexikanischen Börse ins Bodenlose zu verhindern.
Doch inzwischen meldete die Gewerkschaft der Elektrizitätsarbeiter den Anspruch an, die Tarife frei auszuhandeln. Auch die Angestellten der staatlichen Presseagentur Notimex verlangen eine Lohnerhöhung von 22 Prozent. Und die Nationale Kammer der Weiterverarbeitenden Industrie (Canacintra), die 85 Prozent aller industriellen Arbeitsplätze in Mexiko repräsentiert, forderte ein sechsmonatiges Schuldenmoratorium und die Stundung von Steuerrückständen. Außerdem forderte der Verband Hilfe für Unternehmen, die vor der Abwertung Kredite bei ausländischen Banken aufgenommen hatten. Alle Importprodukte sind wesentlich teurer geworden, ebenso Benzin. Zwar ist die Erdölgesellschaft PEMEX seit 1938 in den Händen des Staates und soll es nach Aussagen von Regierungsvertretern auch bleiben. Doch der Druck aus den USA, PEMEX zu privatisieren, wächst. Immerhin war die mexikanische Regierung erstmals gezwungen, Kredite der USA und Kanadas zu Stützungskäufen zu verwenden. Denn die Kapitalflucht setzte sofort bei der Abwertung des Peso ein. Ausländische Anleger haben angeblich bis zu zehn Milliarden Dollar an der Börse in Mexiko verloren. Damit muß wieder um Kapitalanlagen in Mexiko geworben werden. Zwar sind diese Summen überwiegend im nichtproduktiven Bereich eingesetzt worden, denn Spekulation verspricht höhere Gewinne, doch die Sicherung ausländischer Kapitalanlagen in Mexiko steht bei den Geberländern ganz oben.
Das Ausland fängt den Peso auf
Vertreter der mexikanischen Regierung reisten deshalb nach New York und Tokio und priesen auch in Frankfurt am Main die Vorzüge des Standortes Mexiko. Enrique Vilatela, Präsident der Banco Nacional de Comercio Exterior und Leiter der vom mexikanischen Finanzministerium nach Europa entsandten Delegation, verkündete in Frankfurt, daß über konkrete Finanzarrangements nicht gesprochen worden sei. Doch mit der Deutschen Bank und der Dresdner Bank, so hieß es in Bankenkreisen, beteiligten sich zwei deutsche Großbanken an einem Stützungskredit von drei Milliarden Dollar. An diesem Kredit, über dessen Modalitäten nichts bekannt wurde und der Teil eines 18 Milliarden Dollar – Paketes ist, sind insgesamt 30 internationale Geldinstitute beteiligt. Zusätzlich wollen die USA Kreditbürgschaften von bis zu 40 Milliarden Dollar bereitstellen, um Mexikos kurzfristige Zahlungsverpflichtungen auf einen längeren Zeitraum umschulden zu können.
Durch diese offene Unterstützung der US-Regierung stiegen die Börsenkurse am 13. Januar erstmals wieder um 4,61 Prozent an. Auch der Peso konnte sich um 30 Centavos auf 5,30 pro Dollar verbessern.
Produktion vorübergehend gestoppt
Währenddessen plant VW de México, die Autoproduktion ab dem 23. Januar für eine Woche zu unterbrechen, da die mexikanische Inlandsnachfrage zusammengebrochen ist. Die Arbeiter des VW-Werkes in Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquiladoras werden oft unter Umgehung der Arbeitsrechte Halbfertigprodukte aus den USA zusammengefügt und wieder in die USA re-importiert. Jede Lohnsenkung erhöht die Profite beträchtlich.
Börsensturz in Brasilien und Argentinien
Der Einfluß der mexikanischen Krise auf ganz Lateinamerika ist währenddessen unübersehbar. Mexiko als eines der größten und entwickeltsten Länder des Subkontinents, das zudem durch den NAFTA-Vertrag mit den USA und Kanada verbunden ist, symbolisierte bis zum 1. Jn Puebla sollen für diese Zeit nur die Hälfte des Lohnes erhalten. Bereits jetzt wird nur noch Kurzarbeit gefahren. Auch die Mercedes-Benz AG hat die Produktion vorübergehend gestoppt. Der Sprecher der Bayer-AG, Friedrich Gottschalk, betonte dagegen die Vorteile der Pesoabwertung für seinen Konzern. Mexiko sei bisher bei den Lohnkosten “nicht unbedingt wettbewerbsfähig” gewesen. Die Krise verbilligt die arbeitsintensive Produktion, wie sie u.a. an Mexikos Nordgrenze besteht. In den dortigen maquSA, die auf diese Weise den gesamten Kontinent stabilisieren wollen, beginnt nun zu wanken. Auch Brasiliens erst letztes Jahr neugeschaffene Währung Real, die noch immer höher als der Dollar bewertet wird, wird abgewertet werden müssen. Bereits jetzt ist der Börsenkurs in Sao Paulo um fast 12 Prozent gefallen. Ähnliches gilt für den Nachbarstaat Argentinien: Dort mußte die Börse einen Sturz von 10 Prozent hinnehmen. Falls sich die Krise ausweiten sollte, könnte die von den USA geplante Ausweitung des Freihandelsabkommens NAFTA auf den gesamten Kontinent auf Schwierigkeiten stoßen. Der extrem ungleich verteilte Reichtum in Lateinamerika erscheint zwar in den Handelsbilanzen nicht, könnte aber langfristig die Stabilität der Wirtschaftsentwicklung gefährden.
Kasten:
Situation in Chiapas eskaliert, doch der Dialog beginnt
Der Bischof von San Cristóbal de las Casas, Samuel Ruíz, der CONAI (Nationale Vermittlungskommission) angehört, verneinte einen Zusammenhang zwischen der Pesoabwertung und “dem erneuten Ausbruch von Feindseligkeiten in Chiapas und dem Beginn von einigen Gesprächen.” Der massive Polizeieinsatz am 6. Januar gegen eine Kundgebung für die Auszahlung ausstehender Löhne der Coalición Campesina Estudiantil del Soconusco (COCES) in Tapachula, bei der ein sechsjähriges Mädchen ermordet wurde, ist nur ein Beispiel für den Regierungsstil der Regierung Robledo in Chiapas. Nachdem am 10. Januar in 5 Regierungsbezirken Rathäuser von unabhängigen Campesinoorganisationen besetzt wurden, kam es in der Gemeinde Chicomuselo zu 7 Toten, darunter drei Polizisten. Bischof Samuel Ruíz äußerte dazu in einem Interview, dort sei “jetzt eine gewisse Ruhe eingetreten. So weit ich weiß, wird dort mit Verhandlungen begonnen, die dieses spezielle Feld betreffen.” Immerhin seien allerdings die ganaderos, Viehzüchter, die private Todesschwadronen befehligen, bei zwei der Besetzungen zusammen mit der Polizei aufgetaucht. Trotzdem könne nicht von einer Koordination der ganaderos mit den Sicherheitskräften gesprochen werden. Da in Chiapas zum selben Zeitpunkt und am selben Ort zwei Regierungen gebildet wurden, besteht das Problem der Übergangsregierung im Aufstand, die von Amado Avendaño repräsentiert wird, darin, anerkannt zu werden. Samuel Ruíz sagte dazu: “Ihr Programm besteht in der Ausarbeitung einer Verfassung, damit in Chiapas eine neue Verfassung verabschiedet werden kann. Dies wird ein wichtiger Impuls sein, um die mexikanische Verfassung zu ändern. Denn die Dinge, die sich hier in Chiapas ändern müssen, werden über Chiapas hinaus wichtig sein. Beispielsweise die Anerkennung der Ethnien als konstituierender Bestandteil der nationalen Realität und nicht als marginale Gruppen, die man respektieren muß. Der Kursverfall des Peso wird die indigene Bevölkerung besonders hart treffen, denn trotz Subsistenzproduktion sind sie doch auf Kredite angewiesen. Kredite, die jetzt unter erschwerten Bedingungen zurückzuzahlen sind. Denn an stabile Devisen gelangen in Chiapas nur die Viehzüchter, die in die USA exportieren und Hotelbesitzer, die vom Tourismus profitieren.
Am 15. Januar trafen sich erstmals seit den gescheiterten Gesprächen vom vergangenen März wieder VertreterInnen der Regierung und der EZLN. Innenminister Esteban Moctezuma traf auf dem Territorium der EZLN mit drei Repräsentanten der EZLN zusammen, um einen Ausweg aus der gegenwärtigen Gefahr eines erneut ausbrechenden Krieges zu finden. Zuvor hatten die Zapatistas den Waffenstillstand nochmals bis zum 18. Januar verlängert. Ergebnisse dieses Treffens wurden nicht bekanntgegeben, doch Folgetreffen sind vorgesehen. Zuvor schon hatte die EZLN nach der Besetzung mehrerer Ortschaften und dem anschließenden Eindringen von Regierungstruppen in das Territorium der Zapatistas den Waffenstillstand erst bis zum 6., dann nochmals bis zum 12. Januar verlängert. Mittlerweile verkündete die EZLN einen unbefristeten Waffenstillstand und strebt in Verhandlungen mit der Regierung einen dauerhaften Frieden an.
Ya basta!
Mit der Besetzung mehrerer Städte in Chiapas vermasselte die EZLN am 1. Januar 1994 der mexikanischen Regierung ihren feierlichen “Eintritt in die Erste Welt”. Nicht mehr vom NAFTA war die Rede, sondern von der Armut und Unterdrückung der indianischen Bevölkerung im Süden Mexikos. Der Aufstand markierte zugleich den Beginn der “ersten Revolution des 21. Jahrhunderts”, und dies, obwohl das “Ya Basta” der EZLN vor allem auch eine Absage an die Modernisierung Die Abschaffung der ejidos, des Gemeindelandes, und die Zerstörung der lokalen Märkte durch die “neoliberale Kolonialisierung” des NAFTA ist das Todesurteil für die traditionellen Formen kollektiven Zusammenlebens. Dieses Todesurteil wollen die Indígenas nicht hinnehmen, wie Veronika Bennholt-Thomsen verdeutlicht: “Die Indígenas sind sehr geduldig, aber wenn ihnen ihre letzte Existenzbasis, der Boden für die Selbstversorgung mit Grundnahrungsmitteln, weggenommen wird, dann reißt auch ihre Geduld: Basta! Ya Basta! Sie möchten keine Lohnarbeiter sein, denn das widerspricht ihrer Weltsicht und Kultur, und ihre schlechten Erfahrungen damit haben sie nur bestärkt. Lohnarbeit macht nicht frei, sondern abhängig. Geld kann man nicht essen, außerdem reicht es nie und sein Wert ist prekär. Wenn die indianischen Rebellen Tierra y Libertad Den Sturz der ewigen PRI-Regierung hat die EZLN nicht erreicht, womit auch selbst die ZapatistInnen kaum gerechnet haben. Doch mit ihrem Aufstand und der Einberufung des “Demokratischen Nationalkonvents” haben sie vermutlich mehr erreicht als alle oppositionellen Bewegungen der letzten Jahrzehnte in Mexiko: “Männer und Frauen erobern ihren Platz in der Geschichte zurück, ihr Handeln, das sie als gemeinsam und kollektiv entdekken. Sie sind nicht mehr anonyme Zuschauer, sondern werden so mutige Akteure”, schreibt Subcomandante Marcos, Sprecher und Medienstar der EZLN, und sieht als Ergebnis der ersten Monate des Kampfes: “Etwas ist aufgebrochen in diesem Jahr, nicht nur das falsche Bild der Moderne, das der Neoliberalismus uns verkauft hat, nicht nur die Falschheit der Regierungsprojekte, der institutionellen Almosen, nicht nur das ungerechte Vergessen des Vaterlandes gegenüber seinen ursprünglichen Bewohnern, auch das rigide Schema einer Linken, die darin verhaftet ist, von und in der Vergangenheit zu leben.”
Genau in diesem Sinne ist der ZapatistInnen-Aufstand auch die “erste Revolution des 21. Jahrhunderts” und die EZLN die “erste Guerilla des 21. Jahrhunderts”. Sie konnte stark werden, weil sie nicht (mehr) zu der Avantgarde gehört, “die soweit vorne gehen, daß sie allein sind”. Lange waren die ersten Kader der Guerilla allein im lacandonischen Urwald und im Hochland von Chiapas. Ohne Basis pflegten sie einige Jahre ihr politisch-militärisches Avantegardekonzept und blieben isoliert – bis sie sich von alten Gewißheiten verabschiedeten: “Warum konnte die EZLN wachsen? Und nicht nur wachsen, sondern in eine Explosion münden, die ein festgefügtes, hartes, gewaltiges, monströses Land bis in seine Grundfesten erschütterte – Mexiko. Sie vermochte dies, weil sie entgegen aller Regeln – in ihrer Entstehungsphase eine große Niederlage erlitt (und seither immer wieder erleidet), die genau ihren Erfolg begründet. Sie ließ zu, daß die Realität die Theorie zunichte machte, daß das gelebte Leben ein Denken überwand, das festen Strickmustern folgte, mit Kompaß und Handbuch als Anleitung.”
Auch die Topitas, das Redaktionskollektiv aus mehreren Lateinamerika-Solidaritätsgruppen, haben darauf verzichtet, ein Handbuch mit fertigen Erklärungen zu erstellen. Ihr Lesebuch ist eine gelungene Mischung aus Erklärungen der EZLN, Interviews, Reportagen, Analysen und einem Fotoessay. Ebenso werden Widersprüche und Zweifel (beispielsweise am Kult um die mexikanische Nationalfahne) nicht ausgespart.
Viel Raum erhält Marcos, den der mexikanische Journalist Hermann Bellinghausen als “Paradoxon” charakterisiert: “Er ist der bescheidene Diener dieser Campesinos und gleichzeitig ihr Führer.” Doch die Marcos-Lastigkeit von Ya Basta! geht in Ordnung. Seine poetischen Analysen der mexikanischen Realität, die Anekdoten aus dem Zusammenleben mit dem alten Antonio und der kleinen Toñita oder seine Briefe an Journalisten, Volksorganisationen und Kinder beeindrucken durch Klarheit und Ironie, ihr Pathos wirkt selten deplaziert. In einem Brief an ein Kind faßt er in wenigen Worten Ursache und Zweck des Aufstandes zusammen: “Hier haben wir schlimmer als Hunde gelebt. Wir mußten wählen: weiter wie Tiere leben oder wie würdige Menschen sterben. Die Würde ist das einzige, das man nie verlieren darf … nie.” Gleichsam als Ausblick auf die weiteren Kämpfe schrieb Marcos vor wenigen Monaten: “Ein neuer Wind kommt auf, er kommt mit Lüften aus der Vergangenheit und mit einer Brise, die unverwechselbar nach Zukunft riecht.”
Bleibt zu hoffen, daß Ya basta! das Ziel der HerausgeberInnen erfüllt: “Vielleicht sollten wir überhaupt dieses Buch zum Anlaß nehmen, über uns und unsere Geschichte nachzudenken, über unsere Art, Themen und Ideen solange theoretisch zu wälzen, zu zerreden, zu bezweifeln, bis es keinen Grund mehr gibt, praktisch zu werden, Ya basta zu sagen…”
Topitas (Hg.): Ya basta! Der Aufstand der Zapatistas, Verlag Libertäre Assoziation, Hamburg 1994, 364 Seiten, 28,- DM
Eine neue Literaturgeschichte
Das Vorhaben, eine Literaturgeschichte des noch nicht zu Ende gegangenen 20. Jahrhunderts zu schreiben, bringt einige Probleme mit sich. Da ist zunächst die Unmenge an AutorInnen und Büchern, aus der irgendwie ausgewählt werden muß, mit dem Ziel, den Rahmen eines Taschenbuchs nicht zu sprengen. Sodann stellt sich die Frage, wie diese Auswahl zu ordnen, weiter, wie mit den “Rändern” umzugehen sei, man denke an AutorInnen, die in Nordamerika oder Europa leben und teilweise in anderen Sprachen schreiben. Und nicht zuletzt ist es heikel, die persönlichen Vorlieben und Vorbehalte zugunsten einer halbwegs objektiven Darstellung zurückzuhalten, die den LeserInnen möglichst viele Freiräume bei der eigenen Lektüre läßt.
In seinem Vorwort geht Strosetzki auf diese Probleme ein und stellt die Prinzipien dar, nach denen er das Buch geschrieben und an die er sich durchgängig gehalten hat.
Die Auswahl der SchriftstellerInnen folgte dem Grundsatz, daß ihre Bedeutung in der Literaturwissenschaft Lateinamerikas und Europas weitgehend unumstritten sein soll. Die Verkaufszahlen in deutschen Buchläden spielen dabei keine Rolle, denn viele AutorInnen gerade der ersten Jahrhunderthälfte wurden und werden hier – im Gegensatz zu Amerika – kaum gelesen. Andererseits geht Strosetzki nur vorsichtig auf Werke des letzten Drittels des Jahrhunderts ein, da ihre Bedeutung für die Literaturwissenschaft oft noch nicht abzusehen ist. So ist zwar Isabel Allende ausführlich, Gioconda Belli jedoch nur knapp erwähnt, und der hierzulande häufiger gespielte chilenische Dramatiker Ariel Dorfman fehlt ganz. Das bedeutet auch, daß unbekanntere Autoren vor allem Mittelamerikas und der Karibik keine Aufnahme fanden. Aber vielleicht ist das die Aufgabe einer Literaturgeschichte, die in 20 Jahren geschrieben wird.
Strosetzki geht länderweise von Nord nach Süd vor, stellt jedoch Nicaragua (mit dem modernismo bei Rubén Darío) und Guatemala (mit dem magischen Realismus bei Miguel Angel Asturias) an den Anfang. Tatsächlich macht die Einteilung nach Ländern hier mehr Sinn als die traditionelle chronologische. Besonders deutlich wird das dadurch, daß Strosetzki jedem Kapitel einen knappen, ein- bis zweiseitigen Geschichtsabriß voranstellt. Die Themenwahl vieler AutorInnen wird dadurch verständlicher, etwa die mexikanische Revolutionsliteratur oder die argentinische Gaucho-Literatur. Wo die Themen sich nicht auf die Ländergeschichte beziehen lassen, erzwingt er nichts, und die vielfältigen Verflechtungen innerhalb Lateinamerikas wie auch die Beziehungen zu Europa bleiben nicht unberücksichtigt.
Bei den erwähnten “Rändern” gilt – mit Ausnahmen – die Regel, daß diejenigen AutorInnen erwähnt werden, die auf Spanisch beziehungsweise Portugiesisch schreiben. Genauso bleiben europäische Autoren völlig unberücksichtigt, die in Lateinamerika lebten und über lateinamerikanische Themen schrieben, wie Anna Seghers oder B. Traven. In formaler Hinsicht findet die testimonio-Literatur eines Miguel Barnet genauso Platz wie die Essayistin Elena Poniatowska und die dezidiert historiographischen Werke Eduardo Galeanos.
Wichtig zu erwähnen ist noch der Anhang. Zunächst werden fremdsprachige Zitate übersetzt, wobei leider einige fehlen; für das Verständnis mancher Passagen ist das eine empfindliche Lücke. Daran schließt sich eine Liste besonderer Art: In alphabetischer Reihenfolge hat Strosetzki alle erwähnten Werke aufgeführt und die Titel übersetzt. Ist das Buch auf Deutsch erschienen, steht der entsprechende deutsche Titel. Wenn der jeweilige Titel jedoch nicht wörtlich übersetzt wurde, fügt er eine entsprechende Übersetzung an. Beispielsweise heißt es da: “El siglo de las luces (Alejo Carpentier); in deutscher Fassung: Explosion in der Kathedrale; deutsch wörtl. [Das Zeitalter der Aufklärung]”.
Was für ein Buch liegt uns nun vor? Strosetzki schrieb eine “kleine” Literaturgeschichte. Sie reicht nicht aus, wenn es um Details im Werk eines Autors geht und kann die übrige Sekundärliteratur nicht ersetzen. Wenn er “Hundert Jahre Einsamkeit” zwei thesenartige Seiten widmet, kann das nicht befriedigend über den Roman Auskunft geben, und das Fehlen von Carlos Fuentes’ frühem Meisterwerk “Aura” mag schmerzen.
Was das Buch leistet, und zwar in vorbildlicher Weise, ist ein gut lesbarer Überblick. Die AutorInnen werden nicht lexikonartig aufgelistet, sondern ihre thematischen und stilistischen Zusammenhänge werden – manchmal artistisch – benutzt, um einen fortlaufenden Text zu schreiben, der von Laien und Fachleuten gleichermaßen zum Nachschlagen wie zur Bettlektüre verwendet werden kann.
Christoph Strosetzki: Kleine Geschichte der lateinamerikanischen Literatur im 20.Jahrhundert, Beck’sche Reihe, München 1994, 360 S., 24.- DM.
Tierra: Umwelt und Mitwelt indigener Völker
Auf der zweiten Weltkonferenz für Menschenrechte, die im Juni 1993 in Wien stattfand, wurden wichtige Verpflichtungen für die Vereinten Nationen vereinbart: eine Dekade für Indigene Völker zu starten und ein voraussichtlich permanentes Forum einzurichten. Parallel dazu veranstaltete das österreichische Lateinamerika-Institut ein Symposium zu der Frage nach den Rechten indigener Völker, um einen Dialog zwischen WissenschaftlerInnen, indigenen VertreterInnen und ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten zu ermöglichen. In 14 Beiträgen dieses Buches werden die Ergebnisse dieses Treffens dargestellt.
Der Titel des Sammelbandes greift die zentrale Frage der internationalen Auseinandersetzung um die Rechte der indigenen Völker auf. “Tierra”: Forderung nach Land. Tierra, wird uns im Vorwort erklärt, sei die “Lebensgrundlage eines jeden indianischen Volkes”, und entsprechend sei die Forderung nach einer legalen Basis für territoriale Ansprüche und politische Autonomie eng mit der Ökologie und den indigenen Land- und Nutzungsrechten verbunden.
Reale und formelle Politik
Seitdem die UNO 1982 die “Arbeitsgruppe für Indigene Völker” einsetzte, gibt es formelle und regelmäßige Kontakte mit VertreterInnen indigener Völker. Die Aufgabe dieser UN-Gruppe ist es, wie es im Beitrag von Julian Burger erklärt wird, “Entwicklungen, die die indigenen Völker beeinträchtigen, zu beobachten und Standards für den Schutz ihrer Rechte auszuarbeiten”. Wie die Umsetzung dieser Standards auf internationaler Ebene vorangeht, zeigt die Tatsache, daß der Deklarationsentwurf der UN über die Rechte der indigenen Völker, erst im Februar 1995, zwei Jahre nach seiner Verabschiedung, von der Menschenrechtskommission der UN angenommen wird. Ob diese Deklaration auf die verschiedenen Regierungen einwirken wird bleibt noch abzuwarten.
Der tägliche Kampf der indigenen Völker wird in den Beiträgen der ExpertInnen aus Entwicklungsprojekten dargestellt. Berichte über Venezuela und Ecuador zeigen, wie die rechtliche Stellung ihrer Reservate den Indígenas keinen Schutz vor der Ausplünderung ihrer Bodenschätze seitens des Staates gibt. Durch die Militarisierung der Zone und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlage sind sie stark bedroht. Andere Beispiele dagegen zeigen, wie in Guatemala und Brasilien sich die Indígenas gegen die Interessen des Staates wehren. In Guatemala erobern die Kekchí-Indianer die Region Petén mit Bauernsiedlungen, in denen ihre traditionellen Strukturen und ihre Identität aufrechterhalten werden. In Brasilien ist das Gebiet der Zuflüsse des oberen Rio Negro eine der wenigen Regionen des Amazonasbeckens, in dem seit Jahrhunderten verschiedene indianische Völker nahezu die einzigen ständigen BewohnerInnen sind. Wie die 19 Volksgruppen dieses Gebiets zusammenleben und ihre kulturelle Vielfalt aufrechterhalten, könnte ein Vorbild für andere Gesellschaften werden…
Menschenrechte und Indianität
Ethnische Rechte der indigenen Völker als speziell begründeter Anspruch innerhalb der Menschenrechte zu betrachten, erfordert eine Definition der Indianität. Bei Rodolfo Stavenhagen werden die konzeptuellen Problemfelder, die dadurch entstehen, benannt: Individuelle und kollektive Rechte, ethnische Minderheiten und indigene Völker auf der ganzen Welt. Als Gegengewicht steht der Beitrag von Leo Gabriel über die “Indianisierung” der Volksbewegungen in Lateinamerika. Er vertritt die These, daß durch die neuen Transformationsprozesse in diesem Kontinent Begriffe wie Ethnie, Rasse und Klasse nicht mehr gültig sind. Als Folge der neoliberalen Wirtschaftspolitik organisiert sich die Zivilgesellschaft in Volksorganisationen, um die Armut zu bekämpfen. Darin ist die indianische Identität der gemeinsame Nenner, unter dem sich auch Mestizen und andere benachteiligte Gruppen finden.
Natur als Mit- und Umwelt
Aus ökologischer Sicht zeigen die Berichte der Experten über die indigenen Auseinandersetzungen mit dem Staat eine alternative Lebensweise, in der die Natur als Mit- und Umwelt erlebt wird. Es ist beeindruckend zu erfahren, wie in den zwei Vorträgen, die von Indianer-Vertretern in Wien gehalten wurden, der Kampf um die Umwelt gleichgesetzt wird mit dem Kampf um das eigene Leben. Dieses Naturkonzept ist Gegenstand der Menschenrechtsdiskussion, weil es ein anderes Rechtsverständnis darstellt als das von Europa in die Kolonien übertragene und heute international gültige. Eine Alternative zu diesem juristischen Problem wird von Wolfgang Dietrich analysiert, sowie im Beitrag von Otmar Höll, in dem die juristischen Hindernisse zu einer nachhaltigen Entwicklung gezeigt werden.
Ob die Internationale Dekade der Indigenen Völker, die im Dezember 1994 begonnen hat, dazu beitragen wird, die Lage der Indígenas zu verbessern, bleibt noch offen. Was der Sammelband zeigt, ist die Vielschichtigkeit eines Problems, das durch den europäischen Kolonialismus vor 500 Jahren in den Trikont-Ländern in Gang gesetzt wurde.
Tierra: Indigene Völker, Umwelt und Recht./ Doris Cech u.a., Frankfurt a.M. 1994,. ISBN 3-86099-131-0 (Brandes und Apsel), 180S.,ca 28DM.-
“Nenn nie Chiquita nur Banane!”
“Profanes und Heiliges, Geschmackloses und Hintergründiges, Albernes und Gewitztes in einem wunderlichen Bananengarten vereint”, verspricht das Haus der Kulturen der Welt in seinem Programmheft. Gemeinsam mit einem Frankfurter Journalisten und Bananen-Sammler namens Wulf Goebel sind rund 600 Kunstbananen und Bananenkunst-Objekte zusammengetragen worden. Ziel sei, so Goebel, “der Banane das zurückzugeben, was sie seit alters her hat: KULTUR.”
Um die Spur der Banane durch Zeiten und Kontinente aufzuzeigen, reiht sich Objekt an Objekt: Bananenstauden auf jahrhundertealten Seidenmalereien aus China und Südkorea, Radierungen europäischer Forscher aus dem 18. Jahrhundert, die die kuriose gelbe Frucht minutiös abbilden, kolorierte Postkarten von kolonialen Bananenplantagen und -märkten, Werbetafeln aus Emaille und Bananenimitate aus Pappmaché und Wachs, die Anfang dieses Jahrhunderts europäische “Kolonialwarenläden” zierten. – Es ist noch gar nicht so lange her, daß die Banane in einigen Gebieten der Welt vom exotischen Luxusartikel zum weit verbreiteten Nahrungsmittel wurde.
Früchte, die die Welt verändern…
Viele unserer Landsleute halten die Kartoffel für ein sehr deutsches Gewächs, obwohl diese erst vor wenigen Jahrhunderten aus Amerika nach Europa gebracht wurde. Ähnlich geht es wahrscheinlich vielen LateinamerikanerInnen mit einem ihrer alltäglichen Nahrungsmittel, der Banane. Ursprünglich aus Asien stammend, gelangte die gelbe Frucht durch arabische Kaufleute zunächst nach Afrika, bevor sie nach einem Umweg über die Kanarischen Inseln erst Anfang des 16. Jahrhunderts von den portugiesischen Eroberern nach Panama gebracht wurde. Mittlerweile zählen insbesondere die zahlreichen Kochbananenarten in Lateinamerika zu den wichtigsten Nahrungsmitteln. Die riesigen Monokulturen mit Süßbananen für den Export entwickelten sich in diesem Jahrhundert in einigen Ländern zum dominierenden Faktor in Wirtschaft und Politik, was einigen mittelamerikanischen Staaten das berüchtigte Etikett “Bananenrepublik” aufdrückte.
Als Ende des 19. Jahrhunderts die US-amerikanische “United Fruit Company” in Panama ihre erste große Bananenplantage gründete, war die gelbe Frucht sowohl in Nordamerika als auch in Europa noch ziemlich unbekannt. Eine winzige Ladung von zwölf Büscheln Bananen, die 1902 in Bremen eintraf, konnte nur schwer verkauft werden. Einer der Gründe, die lange Zeit den Import erschwerten, waren die mangelnden technischen Möglichkeiten, die Früchte beim Transport zu kühlen. Daran scheiterten auch Bemühungen der Deutschen, aus ihren eigenen Kolonien – insbesondere aus Kamerun – Bananen einzuführen. Erst 1910 verkehrten die ersten Dampfer mit Kühlmaschinen zwischen den Kanarischen Inseln und Europa. Von da an stiegen die Bananenimporte aus den südlichen Ländern nach Europa in rasantem Tempo: 1937 wurden 146 800 Tonnen Bananen ins Deutsche Reich exportiert, 1973 bezog die Bundesrepublik bereits mehr als das Vierfache, nämlich 700.000 Tonnen. Im Gegensatz zu anderen exotischen Früchten ist die Banane mit extrem niedrigen Zöllen belegt und sogar billiger als viele einheimische Produkte. Nach und nach vertrieb das krumme Früchtchen den Apfel vom Rang als Lieblingsobst im bundesdeutschen Wohlstandsparadies.
“Deutsche, kauft deutsche Bananen!”
Aber damit war der Höhepunkt noch nicht erreicht. Der kam erst mit dem Fall der Mauer, als die Banane nicht nur zum lang entbehrten Gaumenschmaus der Ostdeutschen wurde, sondern zum Kultobjekt, zum verheißungsvollen Fetisch des hemmungslosen Konsums. Die Ausstellung dokumentiert die Auswüchse der damaligen Bananeneuphorie, die auch zum billigen geistigen Nährstoff für satirische Ergüsse westdeutscher Spötter wurde. So posierte eine fiktive “Zonen-Gaby (17) im Glück”, nämlich “mit ihrer ersten Banane”, auf dem Titelbild der Zeitschrift “Titanic”. “Birne zaubert” als Bananenjongleur im handlichen Daumenkino, der “geheime Stasi-Schatz” ist natürlich als riesiges Bananendepot dargestellt. “Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört”, höhnte Klaus Staeck und zeichnete eine Bananenschale, aus der eine fette Fleischwurst quillt.
Die Banane wurde als Inbegriff neudeutschen Spießertums verwurstet, als inflationäres Symbol der Wiedervereinigung als deutsch-deutsche Bananenrepublik. Den absurden Widerspruch zwischen Bananenkult und Ausländerhaß bringt ein Graffiti auf den Punkt: “Deutsche, kauft deutsche Bananen!”
Auf den “Schlachtfeldern” des brasilianischen Malers Antonio Henrique do Amaral wird die Banane auf ganz andere Art und Weise zur politischen Metapher: Seine Serie von sieben hyperrealistischen Ölbildern, die während der brasilianischen Militärdiktatur entstand, zeigt von Gabeln durchbohrte und zerquetschte, von Strikken strangulierte Bananen. Das in den Farben Brasiliens gemalte gelbe, grüne und zuweilen blutrote Fruchtfleisch, die bajonett- oder gitterartigen Metallforken erwecken Assoziationen an Gefängnis und Folter.
Das obskure Objekt der Begierde
Warum regt ausgerechnet die Banane die Phantasie von Kunst- und Kommerzschaffenden an? Allein am exotischen Image kann es kaum liegen, denn dann hätten ja auch die Zitrone oder die Ananas recht gute Chancen. Den heimischen Apfel hat sie ja, wie bereits erwähnt, schon längst in vielerlei Hinsicht ausgestochen. Zwar nannten immerhin noch die Beatles ihre Plattenfirma “Apple”. Doch hatte dieses Symbol, wenn wir der Ausstellung glauben, längst nicht so weitreichende Wirkungen wie die Banane, die Andy Warhol für das Plattencover seiner Freunde von “Velvet Underground” entwarf. Seitdem wimmelt es von Bananen und Bananenschalen auf den LP-Hüllen und Tourneeplakaten von Leonard Cohen, Chris Rea, “Banana Rama” und wie sie auch heißen mögen. – Aber eigentlich fing ja alles schon viel früher an, nämlich in den zwanziger Jahren mit Josephine Bakers neckischen Bananenröckchen oder später mit Harry Belafontes “Banana Boat”-Song.
“Wenn wir die Banane richtig betrachten, wird sie schnell zu einem mysteriösen, fast beunruhigenden Objekt”, meint Vilem Flusser, der im Programmheft als “namhafter Philosoph unserer Zeit” ausgewiesen wird. Liegt vielleicht in der phallischen Form der geheimnisvollen Frucht der Schlüssel zum tieferen Verständnis des Bananenkultes? – Die Ausstellung präsentiert das Pin-Up für Schwule – Bananenbüschel als provokatives Feigenblatt über kräftigen Lenden – das Werbeplakat für “Hot Rubber-Kondome”, deren Funktion am Objekt einer wehrlosen Banane demonstriert wird, und Erotikbüchlein mit geschmackvollen Titeln wie “Die Kunst, Bananen zu schälen”.
Bananeneintopf – Genuß ohne Reue?
Der schwarze Transvestit, die dicke schwarze Frau, das junge schwarze Modell auf der Chiquita-Reklame – sie alle tragen auf den Fotos exotische Bananenröckchen und lächeln uns freundlich und zutraulich an. Wir lächeln zurück und gehen weiter zu den anderen Ausstellungsgegenständen, den unzähligen Kuscheltieren, Scherzartikeln, Schlüsselanhängern, Aschenbechern, Haarspangen und Lampenschirmen – alles Banane. Für jeden modernen Geschmack ist etwas dabei. Eine Ausstellung für die ganze Familie. Die Kinder drücken sich staunend die Nasen platt an den Vitrinen mit den süßen, poppigen Gegenständen oder können sich noch mal auf Video Highlights aus Walt Disney`s Dschungelbuch reinziehen. Für wissenshungrige Erwachsene gibt es in einer Ecke zumindest ein paar kritische Videos zu den Anbaubedingungen von Bananen.
“Die Ausstellung dient dem Lachen, dem Lernen, dem Genießen und manchmal auch dem Wundern”, so die OrganisatorInnen vom Haus der Kulturen der Welt. Bewußt wurde, laut Anna Jacobi, zuständig für Öffentlichkeitsarbeit, auf Tafeln mit detaillierten Hintergrundinformationen oder gar Kommentaren verzichtet. Wenn sich gesellschaftliche Bezüge nicht gerade aufdrängten, wie etwa bei dem Thema Wiedervereinigung, wurde gar nicht erst versucht, Zusammenhänge herzustellen. Dabei wäre es beispielsweise interessant gewesen, das Verhältnis zwischen Bananenkult, Exotismus und rassistischen Stereotypen etwas genauer unter die Lupe zu nehmen. Wie kommt denn die schwarze Frau im Bananenröckchen auf die Chiquita-Reklame?
Sollte derart schwere Kost dem Ausstellungspublikum nicht zugemutet werden? – Auch wenn die Bananenspeise in reichhaltigen aufeinanderfolgenden Gängen serviert wurde – Geschichte, Kunst, Pop, Kitsch usw. – kam ich aus der Ausstellung mit dem Grundgeschmack heraus, einen etwas undefinierbaren Eintopf im Magen zu haben.
“Alles Banane” noch bis zum 20. Februar im Haus der Kulturen der Welt, John-Foster-Dulles-Allee 10, 10557 Berlin. Tel. 030/ 397870