Ein Stolpern auf dem Weg zur neuen Verfassung

Im “Pakt von Olivos” (Vorort der Haupt­stadt, Wohnsitz des Präsidenten) hatten Menem und Alfonsín im November ver­gangenen Jahres nach wochenlangen Aus­einandersetzungen ihre Zusammenarbeit bei der Verfassungsreform besiegelt (vgl. LN 235). Gemeinsam haben Menems PJ mit 37 Prozent und Alfonsíns UCR mit 20 Prozent jetzt zwar die Mehrheit in der Verfassunggebenden Versammlung; da die Wahlbeteiligung aber trotz Wahl­pflicht bei nur 70 Prozent lag und fünf Prozent der Stimmen ungültig waren, ha­ben sich insgesamt nur etwa 40 Prozent der ArgentinierInnen für das Reformpro­jekt plus Wiederwahl ausgesprochen. Die Frente Grande hat es aber geschafft, sich mit insgesamt 12 Prozent als ernstzuneh­mende Konkurrenz zu etablieren. Die rechtsradikale MODIN unter Aldo Rico, die sich ebenfalls gegen Menems Reform ausspricht, erreichte landesweit fast neun Prozent, ein ähnliches Ergebnis wie bei den Parlamentswahlen im Oktober.

Die Hauptstadt wählte links

Ihren größten Erfolg hatte das Mitte-Links-Bündnis Frente Grande in der Bundeshauptstadt, wo sie mit 37,5 Prozent sowohl die PJ (24,4%) als auch die UCR (15,2%) weit abgeschlagen hinter sich ließ. Unter dem Spitzenkandidaten Carlos “Chacho” Alvarez hat sie hier ihren Stimmenanteil im Vergleich zum Oktober fast verdreifacht. Aber auch in eini­gen Provinzen war sie sehr erfolgreich: In der bevölkerungsreichsten Provinz Bue­nos Aires konnte der Filmregisseur Fer­nando “Pino” Solanas dem Ex-Präsidenten Raúl Alfonsín persönlich den zweiten Platz hinter dem amtierenden Gouverneur und Vizepräsidenten Eduardo Duhalde (PJ) streitig machen. Und in Neuquén ge­lang es dem Bischof Jaime de Nevares, dessen Kandidatur als Kirchenmann in­nerhalb der Frente sehr umstritten war, die traditionelle Vormachtstellung der Pro­vinzpartei Movimiento Popular Neuquino zu durchbrechen. Auch in einigen anderen Provinzen wie Entre Ríos, Santa Fe und Río Negro erreichte die FG gute Ergeb­nisse.
Von Anfang an hatte die Frente Grande sich vehement gegen Menems Projekt der Verfassungsreform plus Wiederwahl ein­gesetzt, im vergangenen Jahr hatten die FG und einige Teile der UCR zeitweilig sogar eine gemeinsame Kampagne des NO überlegt. Die Kehrtwendung Al­fonsíns weg von seiner vorher vehement vertretenen Ablehnung der Reform hin zur Unterstützung des menemistischen Re­formprojekts führte deshalb zu heftigen Konflikten innerhalb der UCR. Schon vor den letzten Wahlen hatte es kaum inhaltli­che Differenzen zwischen PeronistInnen und Radikalen gegeben, nach dem Ab­schluß des “Paktes” war die Trennlinie zwischen Regierung und Opposition gänzlich verwischt. Die FG hat deshalb viele Stimmen unzufriedener ehemaliger AnhängerInnen der UCR erhalten, die selbst mit knapp 20 Prozent noch 10 Pro­zent weniger als bei den Parlamentswah­len erhielt.
Aber auch ehemalige WählerInnen der Pe­ronistischen Partei gaben diesmal der Frente Grande ihre Stimme. Die PJ siegte zwar mit 37 Prozent der Stimmen, das sind jedoch fünf Prozent weniger als beim letzten Mal.
Menem sah auch nach der Abstimmung keinen Grund zur Selbstkritik und lehnte es ab, die jüngsten Korruptionsfälle als Erklärung für das schwache Abschneiden der PeronistInnen in der Hauptstadt und für den Er­folg der FG zu akzeptieren. Bis zum Ende hatten die PeronistInnen, vor allem auf Betreiben Menems, beispielsweise an Matilde Me­néndez auf dem zweiten Listenplatz fest­gehalten, obwohl sie als Chefin der staat­lichen Rentenversicherung PAMI wegen Bestechlichkeit angeklagt ist.

Protestwahlen in den Provinzen

Vor allem in den armen Provinzen des Nordwestens, in Jujuy und Salta zum Bei­spiel, gingen die jeweils nicht regierenden Parteien gestärkt aus der Abstimmung hervor. Überraschend war das vor allem in Tucumán, wo die PJ unter dem amtieren­den Gouverneur Ramón “Palito” Ortega gegen die Fuerza Republicana von Gene­ral Antonio Bussi verlor, der zur Zeit der letzten Militärdiktatur für Menschen­rechtsverletzungen verantwortlich war. Ortega wurde bisher als aussichtsreicher Kandidat für die Vizepräsidentschaft 1995 gehandelt, für die internen Ausscheidun­gen wird er zukünftig aber nur wenig Rückhalt haben.
Besonders erstaunlich war das Ergebnis in Santiago del Estero, wo soziale Unruhen und Demonstrationen gegen die peronisti­sche Provinzregierung Ende vergangenen Jahres darin gegipfelt hatten, daß Regie­rungsgebäude, Parlament und Justizpalast in Brand gesetzt wurden. Die daraufhin von Buenos Aires aus eingesetzte Übergangsregierung wurde finanziell sehr gut ausgestattet, um schnellstmöglich die Konflikte zu befrie­den. Trotz der Proteste im Dezember ge­wann die PJ hier unangefochten mit über 52 Prozent, allerdings wurden acht Pro­zent der Stimmzettel leer abgegeben. Eine Erklärung für den Erfolg der PJ könnte sein, daß sich die Proteste im Dezember auf die beiden großen Städte Santiago und La Banda beschränkt hatten.

Ein politischer Klimawechsel

Nach ihrem Überraschungserfolg im Ok­tober vergangenen Jahres, wo die Frente Grande auf Anhieb knapp 11 Prozent der Stimmen auf sich vereinen konnte, ist es ihr nun offenbar gelungen, das argentini­sche Zweiparteiensystem zumindest vor­läufig aus den Angeln zu heben. Zukünf­tig wird die nationale Parteienlandschaft also von vier Parteien bestimmt werden, denn auch die rechte MODIN hat es er­reicht, sich zu etablieren.
Doch bisher klaffen im Projekt der Frente Grande noch ganz erhebliche Lücken. Weder ist sie in allen Provinzen vertreten, noch hat sie als Partei eine wirkliche Ba­sis, ist bisher vielmehr Sammelbecken op­positioneller, vor allem linker WählerIn­nen gewesen und hat versucht, möglichst viele Gruppen zu integrieren. Das wird auch darin deutlich, daß ihre interne Struktur immer noch Thema heftiger Dis­kussionen ist, die sich vor allem um die Forderung nach offenen internen Wahlen drehen.
Auch für die Wirtschaftspolitik hat sie bisher kein Oppositionsprogramm vorgelegt, sondern sich auf sehr allgemeine Kritik am Neoliberalismus einerseits und an den sozialen Folgen der Maßnahmen Cavallos an­dererseits beschränkt. Doch ihr Erfolg läßt hoffen, daß mit der bloßen Verknüpfung von “Währungsstabilität” und “Menem” in Zukunft nicht mehr ganz so leicht Wahlen zu gewinnen sein werden.

Die Verfassungsänderungen

Möglichst schnell soll nun also die neue Verfassung verabschiedet werden, deren zentrale Teile schon damals zwischen Al­fonsín und Menem ausgehandelt worden waren: die Möglichkeit zur einmaligen Wiederwahl des Präsidenten, dessen Amtszeit aber verkürzt wird, und der in Zukunft auch nicht mehr katholisch sein muß. Zukünftig werden drei Senatoren für jede Provinz gewählt, zwei für die Mehr­heitspartei, einer für die Opposition, auch ihre Amtszeit soll verkürzt werden. Neu­geschaffen wird die Position eines “Kabinettschefs”, der vom Präsidenten er­nannt wird, aber vom Parlament abgesetzt werden kann und den Kontakt zwischen Regierung und Parlament erleichtern soll. Außerdem wird es zukünftig einen “Justizrat” geben, der für die Finanzen der Justiz verantwortlich ist und für die Er­nennung und Absetzung aller Richter, außer denen des Obersten Gerichtshofs, sorgt.
Verschiedene andere Punkte sind zwi­schen den Parteien noch umstritten wie zum Beispiel die Aufnahme plebiszitärer Elemente in die Verfassung, so auch eine Stärkung des Föderalismus und größere kommunale Freiheit. Außerdem besteht noch Uneinigkeit über verschiedene Ein­zelelemente, wie zum Beispiel Garantien für die kulturelle Identität der indigenen Völker, für Menschenrechte und die Gleichberechtigung von Frauen.
Der größte Streitpunkt ist aber immer noch die Besetzung des bisher absolut re­gierungstreuen Obersten Gerichtshofs. Die Ablösung von mindestens drei Richtern war im November eine Grundbedingung der UCR. Doch bisher sind erst zwei Stellen umbesetzt, und die ver­bleibenden Richter sitzen fest auf ihren Stühlen. Die PJ steht jetzt unter starkem Druck, den Forderungen des “Paktes von Olivos” nachzukommen, zumal sie in der Versammlung auf die Stimmen der UCR angewiesen ist.
Durch eine Änderung, die bisher von allen Parteien begrüßt wurde, soll der Haupt­stadt Buenos Aires mehr Autonomie als quasi eigene Provinz zugestanden werden. Ihr Bürgermeister soll demnach in Zu­kunft nicht mehr vom Präsidenten ernannt, sondern von der Bevölkerung gewählt werden. Nach den Ergebnissen der Ab­stimmung stellt sich jetzt die Frage, ob die PJ versuchen wird, diese Absprache rück­gängig zu machen. Denn eine Bürgermei­sterwahl im kommenden Jahr wird der Frente Grande die Möglichkeit eines weiteren Erfolges bieten.

Kasten:

Kommentar

Eine Wahl gegen die Überheblichkeit

Dies waren einige der Fragen um 18.01 Uhr, als die Schlacht der Interpretationen begann: Hat die Frente Grande durch die Stimmen der Intellektuellen gewonnen? Ist das der Beginn eines sozialistischen Vaterlandes? Sind das die Stimmen der Snobs? Ist das eine Abstimmung gegen die Korruption? Soll ich zurück aufs Land ziehen?
Es ist dasselbe Problem wie immer: Einige mögliche Antworten erzeugen nur immer neue Fragen, in dieser Reihenfolge: Den Berechnungen zufolge, wenn in Bue­nos Aires eine solche Anzahl Intellektu­eller wohnte, stünden wir einem neuen, übervölkerten Athen gegenüber. Die Theorie, die das Progressive mit dem Intellektuellen verknüpft, wertet es gleichzeitig ab und ist so Teil eines Schlüsselelements in der Analyse dieser Wahl: der Überheblichkeit. Die Überheb­lichkeit, die den Menem-Alfonsín-Pakt gebar (eine selbstmörderische Überheb­lichkeit im Falle des radikalen Ex-Präsi­denten), die Arroganz, die Matilde Me­néndez noch auf der Treppe zum Justiz­palast zeigte, als die Regierung schon da­bei war, die Wahlplakate mit ihrem Foto dem Reißwolf zu übergeben, die Über­heblichkeit, die das Zurschaustellen von Reichtum und Macht ungestraft davon­kommen läßt und zu der gefährlichen Naivität führt, an eine Zukunft zu denken, dabei aber den Tag vor dem Abend zu loben. Viel­leicht wurde gegen diese Überheblichkeit gestimmt.
– “Die Gesellschaft versteht mich nicht”- sagte Alfonsín, und vergaß, daß die Auf­gabe für ihn als Politiker umgekehrt ge­stellt ist: Er muß die Gesellschaft verste­hen.
– “Das sind Marxisten”- zeigte Menem mit dem Finger, gefährlich arglos wie eine Ausgabe von Reader’s Digest.
– “Mein Erfolg ist mir sicher”- prophezeite Duhalde ganz ruhig und reiste zwei Wo­chen vor der Abstimmung nach Indien. In Indien hätte nicht mal Gandhi zwei Tage vor der Unabhängigkeit versichert, daß er über die Engländer siegen würde. Ja, Du­halde hat gewonnen. Aber war er diesen Montag Morgen genauso ruhig, wie noch am Samstagabend?
Der “Menemistische Sektor für die Mittel­schicht”, also Amadeo, Corach, Toma, etc. hat seine Hausaufgaben wie ein folgsamer Grundschüler erledigt: Zielstre­big, um nur möglichst schnell fertigzu­werden, die Wiederwahl zu überstehen und dann ruhig weiter an die Zukunft ihrer Kinder zu denken (der eigenen natürlich, doch nicht Eurer). Der Durchschnitt der Radikalen war nicht weniger überzeugend oder zynisch: Jesús Rodriguez war noch trauriger als damals, als er während der Hyperinflation Wirtschaftsminister wurde. Um es anders auszudrücken: Niemand glaubte, was er tat, oder in Wirklichkeit handelten alle aus Motiven, die sie noch viel weniger zugeben können.
Ist das der Anfang vom Ende des Men­emismus? Weit gefehlt. Vielleicht ein Warnschuß, ein Zeichen der Aufmerk­samkeit auf all’ die Skandale. In den letz­ten Umfragen kletterte die Zustimmung für Menem auf 39 Prozent. Das zu verges­sen wäre genauso bescheuert, wie auf einem Wahlkampffoto zusammen mit der PAMI-Chefin abgebildet zu sein.
Von heute Morgen an hat die Frente Grande ein Problem. Es ist kein neues Problem, sondern das ewige Problem de­rer, die anfangen, Macht auf sich zu ver­einen. Es sind eigentlich einige Fragen: Werden sie großzügig genug sein? Wer­den sie ein Programm für das ganze Land entwickeln können? Werden sie den Übergang von der Theorie zur Praxis be­wältigen? Sind sie sich dessen bewußt, daß das erst der Anfang und nicht etwa das Ende ist? Werden sie an die Kinder denken (an Eure, nicht nur an die eige­nen)? Werden sie diese instabile, abrupte, argentinische Leidenschaft in eine dau­ernde und tiefgreifende Liebe verwandeln können? Werden sie die Spaltung der Spaltung vermeiden können? Werden sie die Situation in Argentinien richtig einschätzen?
Hoffentlich kriegen sie das hin.

Jorge Lanata (Página/12)
Übersetzung: Silke Steinhilber

“Kinder der Enttäuschung unter Alfonsín”

Ernesto Semán: Wie erklären Sie sich den Erfolg der Frente Grande?
Chacho Alvarez: Wir haben aus drei Gründen gewonnen. Erstens wegen des Paktes von Olivos, der hier in der Haupt­stadt einen negativen Effekt hatte: Ein ganzer Bereich im Radikalismus stand dem Pakt zutiefst ablehnend gegenüber. Zweitens wegen des Wunsches nach einer Opposition hier in der Stadt, um den Machtmißbrauch des Menemismus zu stoppen, und drittens, weil ein ideolo­gisch breites Spektrum von Menschen, Liberale eingeschlossen, des Machtmiß­brauchs aus moralischen Gründen müde ist und jetzt freier abgestimmt hat als zu anderen Gelegenheiten, wo es mehr um die Verteidigung der wirtschaftlichen Sta­bilität ging. Unser Sieg ist ein deutliches Zeichen für die Regierung, die dachte, daß die Leute auch in einer institutionellen Frage nach dem Geldbeutel abstimmen.

Nichtsdestotrotz hat die PJ ja eine be­trächtliche Stimmenzahl erhalten.
Ja, aus zwei Gründen: Einmal sind die Wähler enorm treu, und zweitens vergleichen sie die heutige Stabilität mit den Zeiten der Hyperinflation. Aber wenn es uns, die wir daran keine Verantwortung tragen, weil wir nicht regierten, gelingt, eine andere Perspektive anzubieten, dann können wir dem Peronismus Stimmen ab­ziehen, zugunsten eines politischen Pro­jekts, das mehr mit den Schwierigkeiten des Alltags zu tun hat.

Ändert sich das politische System durch dieses Ergebnis?
Der Wahlkampf hat gezeigt, daß die Re­gierung in dem PAMI-Bestechungsskandal um jeden Preis hart geblieben ist, mit dem Ziel, die ganze Problematik des “schwarzen Geldes”, der illegalen Finanzierung von Politik und des Systems von Beste­chungsgeldern zuzudecken. Wir haben angefangen, über Themen zu reden, die vorher der Zensur zum Opfer gefallen wa­ren, haben die offiziellen Spielregeln zwi­schen Regierung und Opposition verletzt. Ich glaube, daß zur Utopie der 90er Jahre gehört, den faulen Absprachen, Tauschge­schäften und der Korruption ein Ende zu bereiten.

Dieses Ergebnis hält Sie im Rennen um das Bürgermeisteramt von Buenos Aires.
Das stimmt so nicht. Von morgen an wer­den wir uns mit der Unidad Socialista an einen Tisch setzen, die uns am nächsten steht, und mit der zusammen wir ein glänzendes Wahlergebnis erzielt hätten. Wir werden Pläne für ’95 diskutieren, in denen das Bürgemeisteramt eine Rolle spielt. Da ist meine Kandidatur aber keine Bedingung.

Aber sie wissen doch schließlich, daß Sie mit dieser Abstimmung ihre Vor­teile gegenüber anderen Mitte-Links-Kandidaten erhöht haben.
Ja, aber wir wollen ernsthaft die politische Kultur Argentiniens verändern. Als wir der Unidad Socialista den ersten Listen­platz angeboten haben, war das kein Witz. Und jetzt sag’ ich wieder dasselbe: Man muß sich hinsetzen, um zu diskutieren, ohne irgendeine Kandidatur als Vorbedin­gung. Zusammen mit den Sozialisten kön­nen wir auch mit anderen Kandidaten die Bürgermeisterwahl gewinnen. Ich denke, wir können diese Apathie brechen, die da­von ausgeht, daß die Wiederwahl Menems beschlossene Sache ist. Und außerdem hätten wir gemeinsam auch schon in Santa Fe die Mehrheit haben können und ein noch besseres Ergebnis in der Provinz Bu­enos Aires.

Die Frente Grande gewinnt in den großen Städten an Boden. Aber in den Provinzen mit großen sozialen Proble­men, im Nordwesten zum Beispiel, hat sie Schwierigkeiten.
Ja, aber Sympathieströme sind nicht vorher­sehbar. Das kann von der Mittelschicht abwärts gehen, wie damals ’83 bei Alfon­sín oder wie bei Menem ’89, der unten an­fing, bei den Ärmsten, und später erreichte, daß ihm die Leute von den Bal­konen der Avenidas zuwinkten.

Sie vergleichen sich mit Alfonsín 1983?
Wir sind Kinder der Enttäuschung unter Alfonsín, des Scheiterns eines pluralisti­schen, progressiven, volksnahen Projekts. Für die Radikalen wird es schwierig sein, noch einmal ein ähnliches Programm zu entwerfen.

Wenn Sie an so etwas denken…
Ohne die Besonderheiten der Situation damals. Ich glaube, daß wir erreichen können, daß verschiedene soziale Grup­pen mehr politische Verantwortung über­nehmen. Schon jetzt verlagert sich die Zu­stimmung, jedenfalls nach dem, was ich im Wahlkampf gesehen habe, von der Mittel­schicht nach unten. Es gibt ähnliche Pro­bleme, Bildung zum Beispiel oder der schlechte Zustand der Stadt. Ich glaube, es gibt Forderungen, die deutlich gestellt werden müssen, besonders in einem Ka­pitalismus, der gesellschaftlich viele aus­schließt, aber auch von den politischen Märkten und in kultureller Hinsicht. Wenn wir das er­reichen, haben wir die Möglichkeit, eine neue politische Kraft mit Zukunft auf die Beine zu stellen.

Aber selbst mit diesem Ergebnis scheint es, daß die Frente sehr stark von Ihrer Figur abhängt.
Das glaube ich nicht. Die Frente Grande hat drei der zehn bestangesehensten Poli­tiker der Hauptstadt in ihren Reihen. Wenn wir ein Abkommen mit der Unidad Socialista erreichen, können wir eine Füh­rung etablieren, die wichtiger als der Ap­parat ist, und die hohe Erwartungen hervorrufen wird.

Aber trotzdem fehlt der Frente die Ba­sis.
Das ist wie bei Erundina in Brasilien. Ich habe mir angeschaut, was der PT pas­sierte, als Erundina in Sao Paulo gewann. Sie selbst sagt, daß ihr Sieg gefährlich war, und daß die Struktur der PT ein Hindernis für ihre Regierung war. Insgesamt hat ihre Struktur der PT eher Probleme bereitet als Lösungen erleichtert. Wir sollten uns also keine großartige politische Struktur vor­nehmen. In bezug auf die Basis wünsche ich mir, daß wir von der Vielzahl der Farbtöne ausgehend ein politisches Pro­jekt der Zukunft aufbauen.

Das soll reichen, um beispielsweise die Stadtverwaltung von Buenos Aires zu übernehmen?
Erundinas größtes Problem war die Ge­werkschaft der öffentlichen Angestellten, die ihr das Leben schwer gemacht hat. Das andere große Problem war die PT selbst. Erundina sagte einmal: “Man kann nicht gegen die Partei regieren, aber mit ihr auch nicht.”

Kann es sein, daß innerhalb der Frente Grande nicht alle so denken?
Das ist eine Spannung innerhalb aller pro­gressiven Kräfte. Die muß ich auch aus­halten. Viele Sektoren kritisieren, ich sei übermäßig light. Gut, dann sollen sie mir erklären, wie man die Dinge anders regeln kann. Man kann doch keinen Diskurs entwickeln, der niemanden erreicht, egal wie hart er ist. Ich habe keine Probleme, light zu sein. Das bedeutet nicht, schwä­cher oder weniger kritisch zu sein. Light zu sein, hat damit zu tun, daß man alles zur Diskussion stellt. Ich selbst habe den Peronismus in Frage gestellt, meine ei­gene politische Tradition. Warum kann ich dann nicht verlangen, daß auch andere das machen?

Die Jahrhundertwahlfarce

“ARENA hat die absolute Mehrheit ver­fehlt. Damit haben wir einen klaren Sieg bei den heutigen Wahlen errun­gen.” Als Rubén Zamora, Präsident­schaftskandidat des linken Oppositi­onsbündnisses aus der ehemaligen Guerilla FMLN und den bei­den klei­nen Parteien Demokratische Kon­vergenz (CD) und National-Revolutio­näre-Bewegung (MNR) in der Wahl­nacht des 20. März gegen 22 Uhr vor die Presse tritt, sind ihm nicht nur die Strapazen des Wahlmarathons anzumer­ken. Auch seine optimistische Einschät­zung des Wahler­gebnisses wirkt vor der versammelten Journa­listInnenschar ge­zwungen. Zumal sich zu diesem Zeit­punkt, als vor allem Einzelergebnisse aus der Hauptstadt San Salvador vorlagen, noch eine ab­solute Mehrheit für den rechtsextre­men ARENA-Kandidaten Ar­mando Calderón Sol abzuzeichnen schien.
Über­zeugender wirkte da schon Za­moras Kritik an den vielen “Unregelmäßig­keiten”, die es bei der Vorbereitung der Wahlen und am Wahltag selbst gegeben hatte (und die sich bei der Auszählung der Stimmen in den nächsten Tagen noch fort­setzen sollten). Unterstützt von den Mitglie­dern der ehemaligen General­kommandantur der FMLN, de­monstrativ hinter Zamora postiert, rief er die Wahl­helferInnen der Oppo­sitionskoalition dazu auf, bei der Aus­zählung in den Wahllo­kalen weitere Betrugsmanöver zu verhin­dern: “Wir wer­den mit friedlichen Mitteln um jede Stim­me kämpfen.”
In der Wahlnacht war noch unklar, ob es überhaupt einen zweiten Wahlgang bei den Präsidentschaftswahlen geben würde, dann dauerte es fast drei Wo­chen, bis für die Präsidentschafts-, Parlaments- und Gemeindewahlen ein offizielles Ender­gebnis feststand. Eigentlich als Jahrhun­dertwahlen ge­plant, geriet der Wahlgang vom 20. März zunehmend zur Jahrhun­dertwahlfarce. Hauptverantortlicher des skandalösen Ablaufes der ersten Wah­len nach dem Friedens­schluß zwischen Regie­rung und FMLN vor zwei Jahren ist der von den rechten Parteien dominierte Oberste Wahlrat (TSE).

Die wichtigsten Ergebnisse

Nachdem ARENA-Rechtsaußen Calderón Sol am 20. März bereits über 49 Prozent der Stimmen erreicht hat, ist nicht mehr zu erwarten, daß ihm die Präsidentschaft noch streitig ge­macht werden kann. Weit abgeschlagen landete Zamora mit 24,9 Prozent auf dem zweiten Platz. Die ChristdemokratInnen, die mit Napoleón Duarte bis 1989 noch den Präsidenten ge­stellt hatten, erzielten mit ihrem Kandida­ten Fidel Chávez Mena lediglich 16 Pro­zent. Entgegen der Absprache mit der FMLN/CD/MNR-Koalition rief die PDC-Führung ihre AnhängerInnen im zweiten Wahl­gang nicht zur Wahl von Zamora auf.
Bei der Sitzverteilung im Parlament sieht das Panorama etwas besser aus. Hier hat ARENA 44 Prozent und damit 39 Sitze erzielt. Doch die rechtsextreme PCN, de­ren Militärkan­didaten in den 60er und 70er Jahren sämt­liche Präsidenten stellten, konnte lediglich vier Mandate erringen. Damit haben die beiden rechten Parteien nur eine denkbar knappe Mehrheit von 43 der 84 Parla­mentssitze.
Die linke Opposition trat bei den Parla­mentswahlen – genauso wie bei den Ge­meindewahlen – getrennt an. Die FMLN erreichte mit fast 22 Prozent der Stimmen auf Anhieb 21 Sitze und ist damit auch im Parlament in Zukunft die größte Kraft der Opposition. Die Demokratische Konver­genz konnte nicht davon profitieren, daß ihr Vorsitzender Rubén Zamora Präsident­schaftskandidat der Oppositionskoalition war. Sie blieb unter fünf Prozent der Stimmen. Nachdem sie auch noch ihre Landesliste (64 Abgeordnete wurden auf Provinzlisten, 20 Abgeordnete auf einer landesweiten Liste gewählt) nicht recht­zeitig eingereicht hatte, verlor sie im Ver­gleich zu den letzten Wahlen acht ihrer neun Parlamentssitze. Die sozialdemokra­tische MNR blieb unter einem Prozent und wird im Parlament nicht mehr vertre­ten sein.
Der Niedergang der Christdemokratischen Partei, die heillos zerstritten ist und der noch immer die Korruptionsskandale aus ihrer Regierungszeit in den 80er Jahren anhaften, setzte sich weiter fort. Sie er­reichte nur noch 18 Parlamentssitze. Der einzige Abgeordnete der evangelikalen “Bewegung der Einheit” (Movimiento de Unidad – MU) wird wahrscheinlich mit der Opposition stimmen. Die MU kam auf 2,4 Prozent, die andere erst­mals bei Wah­len angetretene evangelikale Partei, die “Bewegung der Nationalen So­lidarität” (MSN), blieb unter einem Pro­zent und verlor deshalb ihren legalen Sta­tus als Partei. Nachdem mittlerweile 20 Prozent der Bevölkerung evangelikalen Sekten und Kirchen angehören, war mit einem höheren Ergebnis für die MU und vor al­lem für die MSN gerechnet worden.

ARENA-Durchmarsch bei den Gemeindewahlen

Bei den Gemeindewahlen reichte eine re­lative Stimmenmehrheit aus. Deswegen konnte ARENA, die landesweit ein sehr ausgegli­chenes Ergebnis erzielte, 207 der 262 BürgermeisterInnenposten erringen. Doch für die Opposition fiel das Ergebnis kata­strophal aus. Die FMLN erreichte in le­diglich 15 Gemeinden die Mehrheit. Diese liegen hauptsächlich in den ehemals kon­trollierten Zonen von Morazán und Cha­latenango. Immerhin konnte sie so sym­bolisch wichtige Gemeinden wie Per­quín, Arcatao und San José Las Flores gewin­nen. Doch außerhalb ihrer traditio­nellen Hochburgen (in der sie längst nicht alle Gemeinden gewann), wird sie nur in eini­gen wenigen Gemeinden (u.a. Suchi­toto und Nejapa) regieren. Dabei war ein Grundpfeiler der FMLN-Strategie, insbe­sondere von den Kommunen aus in den nächsten Jahren eine Gegenmacht von unten aufzubauen. Selbst in zurückhalten­den Schätzungen ging die FMLN davon aus, in mindestens 40 Gemeinden zu ge­winnen. Schmerzlich ist dabei auch, daß sie in keiner der Gemeinden des Armen­gürtels um die Hauptstadt wie Mejicanos, Soyapango oder Ciudad Delgado gewann. Während der Großoffensive im November 1989 hatte sie dort eine hohe Unterstüt­zung erfahren. In San Salvador profitierte der allgemein als schwach angesehene ARENA-Kandidat Mario Valiente von der hohen Stimmenzahl bei den Präsident­schaftswahlen für Calderón Sol und ge­wann mit 44 Prozent klar vor dem FMLN-Kandidaten Schafik Handal, der auf 21 Prozent kam.

Technischer Wahlbetrug

Auch wenn es keinen Urnenklau und an­deren “offensichtlichen” Betrug wie noch in den 70er Jahren gegeben hat, waren die Unregelmäßigkeiten doch so gravierend, daß von einem “technischen Wahlbetrug” ge­sprochen werden muß. Lediglich bei den Präsidentschaftswahlen ist das Ergeb­nis so deutlich ausgefallen, daß Calderón Sol höchstwahrscheinlich auch bei saube­ren Wahlen gewonnen hätte. Im Parlament und in den Gemeinden sähe die Situation ohne den fraude técnico jedoch ganz an­ders aus. In vielen Gemeinden haben die ARENA-Kandidaten mit einem äußerst geringen Vorsprung gewonnen, manchmal nur durch wenige Stimmen. Und in den wenigen Gemeinden, in denen die Wahl­beteiligung sehr hoch war, konnte die FMLN oft sehr gute Ergebnisse erzielen. Im Landesdurchschnitt nahmen nur circa 53 Prozent der Stimmberechtigten an den Wahlen teil. In Cinquera im Department Cabañas erreichte die FMLN bei einer Wahlbeteiligung von 85 Prozent 55 Pro­zent der Stimmen, und in El Rosario in Morazán kam sie bei 78 Prozent Wahlteil­nahme auf eine relative Mehrheit von 33 Prozent.
Diese Teilergebnisse sind deutliche Indi­zien dafür, daß die FMLN (und die ande­ren Oppositionsparteien) bei einer höheren Wahlbeteiligung um einiges besser abge­schnitten hätte. Insbesondere auf dem Land – und dort vor allem in den ehemali­gen Konfliktgebieten – warten viele Men­schen bis heute vergeblich auf ihren Wahlausweis (der im übrigen ab dem 1. Mai zusätzlich zum Personalausweis ein obligatorisches Dokument ist, um bei­spielsweise Geschäftsabschlüsse zu täti­gen oder um Anträge bei Behörden zu stellen).
Mindestens 350.000 Menschen waren erst gar nicht in die Wählerverzeichnisse auf­genommen worden beziehungsweise hat­ten keinen Ausweis erhalten, obwohl sie im Verzeichnis waren. Der Oberste Wahl­rat (TSE) hatte seit dem letzten Jahr auf vielfältige Weise den Einschreibungspro­zeß behindert. Die USA hatten deswegen sogar vorübergehend ihre Hilfe an El Sal­vador eingestellt. Aber auch am Wahltag selbst durften viele Menschen nicht wäh­len, obwohl sie einen Ausweis hatten. Al­lein aus Guarjila, einer Rücksiedlung in Chalatenango, sind mindestens 15 Fälle bekannt, in denen die dort fast geschlos­sen in der FMLN organisierten Bewohne­rInnen noch zwei Wochen vor den Wah­len im Verzeichnis standen, ihre Namen am Wahltag jedoch nicht mehr aufzufin­den waren. Die UN-BeobachterInnenmis­sion ONUSAL erklärte, daß rund 25.000 Menschen auf diese Art vom Urnengang ausgeschlossen wurden. In fast der Hälfte der Wahllokale sei es zu “Unregel­mäßig­keiten” gekommen”, die jedoch nur in wenigen Fällen schwerwie­gend gewesen seien.
Dabei tauchten ver­einzelt Urnen mit über 600 Stimmen auf, obwohl an keiner Urne mehr als 400 WählerInnen in den Listen standen. Ob­wohl die Wahllokale teilweise mit mehre­ren Stunden Verspätung geöff­net worden waren, wurden Tausende WählerInnen bei der Schließung der Wahllokale um Punkt 17 Uhr abgewiesen. Die Wahlprozedur zog sich so langsam hin, daß während der ersten fünf Stunden nur ein Viertel der re­gistrierten WählerIn­nen ihre Stimme ab­geben konnte. In vielen Fällen gaben die Menschen nach zweistündigem vergebli­chen Warten in der sengenden Sonne auf und gingen nach Hause.

Vorzeitige Absolution durch die Vereinten Nationen

All dies läßt vermuten, daß die ONUSAL-Zahlen viel zu niedrig angesetzt sind. Nach anderen Schätzungen durften 10-15 Prozent der WählerInnen nicht wählen. Doch ONUSAL-Missionschef Ramiro Ocampo hatte bereits am Tag nach den Wahlen erklärt, die Wahlen seien trotz der Unregelmäßigkeiten “akzeptabel”. Da vor allem auch die Christ­demokraten bereits signalisiert hatten, daß sie das Wahlergeb­nis akzeptieren würden, war es der Oppo­sitionskoalition aus FMLN, CD und MNR unmöglich, die Wahlen nicht zu akzeptie­ren und auf die Repräsentanz im Parla­ment zu verzichten. Eine Anfechtung der Wahl wäre nur mit einem geschlossenen Vorgehen der ge­samten Opposition mög­lich gewesen. Die FMLN hat die Wahlen in 65 Gemeinden angefochten, der TSE hat die Einwendun­gen jedoch in sämtli­chen Fällen zurück­gewiesen. ONUSAL und TSE beeilten sich denn auch zu versi­chern, daß sie die Probleme des ersten bis zum zweiten Wahlgang beheben würden. In den letzten Tagen vor der zweiten Runde gingen noch Gerüchte um, daß die Oppositionskoali­tion die Stichwahl boy­kottieren würde.
Die Vereinten Nationen, darauf fixiert, El Salvador als erfolgreiches Beispiel ihrer Arbeit darzustellen, haben sich zum wie­derholten Mal in diplomatische Zurück­haltung geflüchtet, statt Druck auf Regie­rung und TSE zu entwickeln. Denn daß der TSE nichts von alleine ändern würde, war abzusehen. So wurden bis zur Stich­wahl lediglich 20.000 zusätzliche Wahl­ausweise ausgestellt. Auch Rafael López Pintor, Chef der Wahlabteilung von ONUSAL, befand die Änderungen für “unzureichend”.

Viele wollen zurück in die Berge

Die vielen Hürden, die aufgebaut wurden, damit möglichst wenig Menschen, erst­mals an den Wahlen teilnehmen können, reichen allein jedoch nicht aus, um die niedrige Wahlbeteiligung und den Sieg von ARENA zu erklären. Der Opposition ist es nicht gelungen, einen bedeutenden Anteil der traditionellen NichtwählerInnen für sich zu mobilisieren. Die Zahl der WählerInnen ist im Vergleich zu den letzten Wahlgängen nur unwesentlich ge­stiegen, obwohl die FMLN diesmal selbst bei den Wahlen antrat und nicht mehr, wie bei früheren Wahlgängen, zum Boykott aufgerufen hat. Die Stimmen für die FMLN sind in erster Linie auf Verluste der Christdemokraten und der Demokrati­schen Konvergenz zurückzuführen. ARENA konnte die eigene Stimmenzahl sogar noch steigern. Über eine halbe Mil­lion SalvadoriannerInnen haben erneut der Rechten ihre Stimmen gegeben. Der FMLN und den anderen Oppositionspar­teien ist es nicht gelungen, sich diesen WählerInnen als glaubwürdige Alternative zu präsentieren. Natürlich hatte ARENA wesentlich mehr Geld zur Verfügung und hat dieses Geld im Wahlkampf geschickt eingesetzt. Offensichtlich hat die Partei den Regierungsapparat für Wahlkampf­zwecke mißbraucht.
Vor allem aber ist festzustellen, daß sich Hunderttausende von SalvadorianerInnen nicht für Politik interessieren . (Daß dies bei uns ge­nauso ist, tut nichts zur Sache. Immerhin gab es vor wenig mehr als einem Jahr­zehnt ein hohes Maß an politi­scher Mobi­lisierung in El Salvador. Und wenn 1979 oder 1980 die Regierung von unten ge­stürzt worden wäre, dann wäre es tatsäch­lich durch eine “Massenbewegung” ge­schehen.) Will die FMLN aber eines Ta­ges die Regierungsmacht erringen, muß sie dieses Problem lösen. Viel wird davon abhängen, ob die FMLN-Führung den Kontakt zur eigenen Basis, vor allem auf dem Land, weiter verlieren wird. Denn die Unzufriedenheit der Basis ist in allen Or­ganisationen groß. Der Friedensprozeß kommt nur schleppend voran, die Land­verteilung stagniert, Kredite bleiben aus, und die soziale Lage der KämpferIn­nen ist oft schlechter als während des Krieges. Zusätzlich fühlen sich die Leute von ihren Comandantes im Stich gelassen, die sie meist nur noch im Fernsehen zu Gesicht bekommen. Gerüchte – teils wahr, teils unwahr – über den neuen plötzlichen Wohlstand der Führung gedeihen in die­sem Klima besonders gut. Die Unzufrie­denheit wächst mit jedem Tag. Nicht we­nige wünschen sich, in die Berge zurück­zukehren und den bewaffneten Kampf wieder aufzunehmen.

Kasten:

“Ein unbeschreibliches Chaos”

Julie Scheer, Mitarbeiterin des Ökumenischen Büros für Frieden und Gerech­tigkeit in München, arbeitete in den letzten Monaten im Wahlkoordinations­büro des Na­tionalen Kirchenrates (CNI) von El Salvador. Am 20. März war sie Wahlbeobachte­rin im “Instituto Arce, Escuela de Brasil”, einem der zentralen Wahlorte der Hauptstadt San Salvador. In ihrem Augenzeugenbericht, den sie unmittelbar nach den Wahlen anfertigte, berichtet sie über eine Vielzahl von Verstößen gegen das Wahlgesetz.

Um Punkt sechs Uhr wurden die Wahlhelfe­rInnen und 18 VertreterInnen der neun teil­nehmenden Parteien, je zwei mit den Emblemen ihrer Parteien, einge­lassen. Um sieben Uhr hätten die Wahllo­kale geöffnet werden sollen, die Vorbe­reitungen verzö­gerten dies aber bis 8.15 Uhr. Tausende warteten schon seit Stunden. Als die Türen geöffnet werden sollten, kam es zum völligen Chaos. Es war unmöglich, die vorgese­henen Abstände zwischen den oft nur Zentimeter voneinander entfernten “Wahltischen” einzuhalten. Die Wahllisten wurden ir­gendwo hinter der Wahlkabine aufge­hängt, so daß die Wählenden erheblich behin­dert wurden, weil Andere vor­beidrängten, um auf der ent­sprechenden Liste ihren Namen zu suchen. Zwischen den Urnen und den Wahlhelfe­rInnen am Wahltisch drängten sich die Leute in der Warte­schlange, so daß diese gar nicht se­hen konnten, ob die Wahlzettel eingewor­fen wurden. Die Schlange der Wartenden blockierte den ganzen Hof. Der Durchgang war gerade fünf Me­ter breit, und just hier hingen die Gesamt­register für das Wahlzentrum. Hier also hätten die Leute eigentlich feststellen müssen, an welcher Urne sie sich anstel­len müßten. Dort – an der Urne – mußten sie ihre Namen in einem weiteren Re­gister suchen.
Am Eingang war nicht zu erkennen, in welcher der bei­den Schulen man/frau regi­striert war. Wir versuchten dem durch Zettel, die wir auf­hängten, abzuhelfen. Unsere Aufgabe war, den Leuten zu helfen. Schon die dritte Per­son, die ich suchte, war in den Listen nicht vorhanden. Drei anderen Wahlhelfe­rInnen ging es genauso. Ich habe zehn solcher Fälle dokumentiert, darunter von Leuten, die schon lange einen Wahlausweis besit­zen, mit dem sie auch schon gewählt hat­ten. Es gab den Fall eines Mannes, des­sen Name nicht auftauchte, der aber seinen 1973 verstorbenen Vater und seinen 1992 verstorbe­nen Bruder auf der Liste ent­deckte. Manche Leute standen nur auf der Liste ihrer Urne, nicht aber im Gesamtre­gister, oder die Nummer ihres Wahlaus­weises stimmte nicht mit ihrer Nummer im Register über­ein. In all diesen Fällen konnten die Leute nicht wählen. Die Wahlkabinen waren in den Lokalen zu 80 Prozent so aufge­stellt, daß sie ohne Pro­bleme eingesehen werden konnten. Sogar der Vertreter von ONUSAL an unserem Hauptstützpunkt meinte daher, daß von einer geheimen Wahl nicht die Rede sein könne.
ARENA hatte wesentlich mehr Beobach­ter in den Lokalen als zulässig (die opti­sche Wirkung war überwältigend), ver­teilte Fähnchen und anderen Klimbim vor den Zen­tren. Im Instituto Brasil brachten sie unentwegt Parteiaufkleber an den Ur­nen an., was zu größeren Turbulenzen führte. Wahlpropaganda im Lokal ist ver­boten, davon abge­sehen war jede Art von Wahl­kampf seit dem 16.3 untersagt. An einer Urne wurde eine solche Turbulenz offen­bar dazu genutzt, neun Wahlzettel zu stehlen. Um 17.30 Uhr begann die Aus­zählung, bei der wir dabei sein konnten. Es gab nicht die erwarteten Hakeleien darüber, ob die Stimmen nun gültig seien oder nicht.

“Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis…”

LN: Hat Sie das Ergebnis der Wahlen erstaunt?
Dada Hirezi: Ja, aber nicht wegen des ho­hen Stimmenanteils von fast 50 Prozent für ARENA, den ich niedriger erwartet hatte, sondern wegen der hohen Zahl von Menschen, die nicht wählten. Ich ver­meide bewußt den Begriff “Wahlenthaltung”, da viele, die wählen wollten, nicht wählen durften. Ich hätte nie geglaubt, daß es so viele Fehler im Wählerverzeichnis gibt. Selbst einige Funktionäre der Vereinten Nationen sind erstaunt über die hohe Zahl derer, die am Wahlsonntag nicht im Wählerverzeichnis aufgetaucht sind. Ich habe nicht damit ge­rechnet, daß die Wahlen so ungeordnet ablaufen…

Aber wenn die Menschen nicht im Wählerverzeichnis waren und keinen Wahlausweis hatten, erscheint dies auch nicht als Wahlenthaltung…
Richtig, genau davon wollte ich sprechen. Ich habe große Zweifel, ob die Zahlen, die der Oberste Wahlrat (TSE) veröffentlicht hat, richtig sind. Der TSE sprach von 2,7 Millionen Wählern, aber da waren eine Unmenge von Toten dabei. Ich habe am Wahlsonntag im Wählerverzeichnis die Namen mehrerer Verwandter entdeckt, die bereits tot sind. Es gibt unglaublich viele dieser Fälle. Oder die Leute durften nicht wählen, weil ihr Name nicht im Verzeich­nis auftauchte, jedoch ein Name der sehr ähnlich war. Das ist schon komisch, wo doch das Wählerverzeichnis und die Wahlausweise aufgrund der selben Daten erstellt worden sind. Also: ist das nur ein Fehler? Aber wie soll dieser Fehler ent­stehen? Und wenn es Absicht war? Was wurde damit bezweckt? Ich beschuldige niemanden, einen Wahlbetrug ausgeführt zu haben; ich habe auch keine Beweise. Aber die Zahlen beweisen, daß der TSE unglaublich schlecht und unverantwortlich gehandelt hat. Das hat selbst Armando Calderón Sol betätigt.

Gab es nun einen Wahlbetrug oder le­diglich – wie die FMLN dies ausdrückt – große Unregelmäßigkeiten?
Wenn die Unregelmäßigkeiten Absicht waren, war es Betrug. Wenn sie unab­sichtlich zustande gekommen sind, zeigen sie die Unfähigkeit des TSE, Wahlen zu organisieren. Aber dies ist letzlich gar nicht entscheidend. Was zählt ist, daß die Leute denken, daß das Ergebnis der Wahlen nicht legitim ist. Und dabei ist ganz gleich, wer gewonnen hat. Die Wahlen waren ein wichtiger Schritt in der Kon­struktion der Demokratie in unserem Land, und jetzt denken viele, daß dies in El Salvador nicht möglich ist.

Wird dadurch die Unzufriedenheit mit dem Friedensprozeß in El Salvador wei­ter anwachsen?
Das Vertrauen in die Möglichkeit, in El Salvador eine Demokratie zu errichten, war eine entscheidende Grundlage des Friedensprozesses. Dieses Vertrauen ist jetzt enttäuscht. Selbst die Rechte mißtraut dem Wahlergebnis und glaubt, daß sie Wahlen gewonnen hat, die nicht sauber waren. Es waren mindestens 15 Prozent, die von den Wahlen ausgeschlossen wur­den, wie ONUSAL-Chef Ramírez Ocampo sagt. 15 Prozent ist aber einfach zu viel. Gerade bei den Gemeindewahlen hätten die Ergebnisse sonst tatsächlich ganz anders ausgesehen. Das Ge­sprächsthema sind die Unregelmäßigkei­ten bei den Wahlen und nicht, wer ge­wonnen hat. Das ist sehr gefährlich.

Gerade in den Orten, in denen die “Wahlenthaltung” am niedrigsten war, hat die FMLN gewonnen, wie in Cin­quera oder in El Rosario. Sind das nicht deutliche Zeichen für einen Wahlbe­trug?
Das sind deutliche Zeichen. Ich wollte von diesen Fällen nicht sprechen, um nicht den Eindruck zu erwecken, daß ich es für schlecht hielte, daß ARENA ge­wonnen hat. Ich denke, es ist nicht ent­scheidend, wer gewonnen hat. Das größte Problem ist meiner Meinung, daß die Wahlen nicht sauber waren.

Was halten Sie von der Position von ONUSAL in diesem Zusammenhang? ONUSAL hat sofort nach den Wahlen gesagt, daß es zwar einige Probleme gab, die Wahlen insgesamt aber akzep­tabel seien.
Die offizielle Position von ONUSAL wi­derspricht der Haltung einiger ihrer Funk­tionäre, die von schweren Behinderungen in einigen Orten sprechen. Aber man muß sich auch in die Lage von ONUSAL ver­setzen. El Salvador ist für die gesamten Vereinten Nationen ein Vorzeigeland. Sie nennen es den erfolgreichsten Friedens­prozeß auf der ganzen Welt. Da ist es für die Vereinten Nationen fast unmöglich, Bereiche zuzugeben, in denen der Frie­densprozeß gescheitert ist. Das gab es schon öfter. Beim Amnestiegesetz, das es letztes Jahr gleich nach der Veröffentli­chung des Berichts der Wahrheitskommis­sion gab, war es so ähnlich. Die Vereinten Nationen protestierten nur sehr zurück­haltend, obwohl die Amnestie ein Skandal und ein Affront gegen die Vereinten Na­tionen ist. Aber ich kann die Zurückhal­tung der Vereinten Nationen fast verste­hen: El Salvador ist ihr Friedensprozeß. Und insgesamt kann sich das Ergebnis von ONUSAL sehen lassen, ihre Beteili­gung am Friedensprozeß war sehr wichtig.

Hätte ONUSAL aber nicht noch mehr erreichen können?
Auf jeden Fall, viel mehr. Manchmal hat ihnen die Konsequenz gefehlt, manchmal waren sie zu zurückhaltend.

Über 600.000 Menschen haben für ARENA gestimmt. Wie kommt es, daß ARENA eine so große soziale Basis ge­rade auch bei den Armen hat?
Dazu gibt es in ganz Lateinamerika viele Analysen. Das oberste Ziel der armen Be­völkerung ist zu überleben. Und irgend­wann fangen diese Menschen in ihrer Mi­sere an zu glauben, daß die Tatsache, daß sie überhaupt überleben können, ein Zu­geständnis der Mächtigen ist. Dann wäh­len sie auch noch deren Parteien und ge­ben sich mit dem Status Quo zufrieden. Sie fürchten sich vor dem Neuen. Jetzt können sie zumindest überleben. Wenn sich die Situation ändert, könnte es ja noch schlimmer werden. Au­ßerdem hat ARENA in ihrem Wahlkampf sehr ge­schickt Angst und Terror verbrei­tet: “Im Falle eines Wahlsieges der Lin­ken, gibt es wieder Krieg”, war eine häu­fige Parole von ARENA auf Wahlveran­staltungen.

Und wie war der Wahlkampf der Op­position?
Die Opposition hat nicht deutlich ge­macht, welche Alternative sie anzubieten hat. Damit meine ich vor allem die Christ­demokraten, die hätten deutlich machen müssen, daß auch sie ein Projekt für El Salvador haben. Dann wäre die Polarisie­rung im Wahlkampf vermutlich auch nicht so stark gewesen. Der Wahlkampf lief sehr US-amerikanisch ab. Es ging zu we­nig um Inhalte.

Und die Linke?
Die Wahlkampagne der Linken war sehr diffus. Und sie haben auf die Anschuldi­gungen von ARENA viel zu defensiv rea­giert. Rubén Zamora, der Präsident­schaftskandidat der Opposition, hat immer wieder betont, auch er stehe in Verhandlun­gen mit den Unternehmern, bei seinem Wahlsieg werde es keine wirtschaftli­chen Probleme geben. Aber wieso sollten die Menschen denn die Op­position wählen, wenn sie sich vor allem um die Unternehmer bemüht, das kann die Regie­rungspartei viel besser. Ich denke, daß die Opposition mit einer etwas offen­siveren Kampagne besser abgeschnitten hätte, vor allem bei den Mittelschichten der Städte und den öffentlichen Ange­stellten. Die Linke wollte die Polarisie­rung, wie sie im Krieg bestand, vermei­den. Aber als ARENA zu polarisieren be­gann, blieb die Oppositionskoalition de­fensiv. Das war ein Fehler. Mit einem de­fensiven Wahl­kampf kann man nicht auf die Attacken des Gegners reagieren.

Wie sehen Sie die Zukunft des Landes, vor allem falls ARENA, wie es zu er­warten ist, den zweiten Wahlgang ge­winnt und Calderón Sol Präsident wird?
Durch den Wahlsieg von Calderón Sol – ich bin mir sicher, daß er in der zweiten Runde gewinnen wird – wird es weitere Probleme im Friedensprozeß geben. ARENA wird versuchen, die Elemente des Friedensabkommens, die noch nicht er­füllt sind, weiter zu verzögern oder zu verhindern, zum Beispiel die Reform des Justizsystems. Bei der Polizei werden sie versuchen, die alte Nationalpolizei mit der neuen Zivilen Nationalpolizei zu ver­schmelzen. Aber das, was bereits erreicht ist, können sie nicht mehr umkehren.

Welche Auswirkungen hat das auf die salvadorianische Gesellschaft?
Das Problem ist, daß sich in El Salvador noch keine starke Zivilgesellschaft her­ausgebildet hat. Es ist wichtig, daß sich die Organisationen der Zivilgesellschaft, also etwa Gewerkschaften und Berufsver­bände, eine gewisse Autonomie von den politischen Parteien erkämpfen. Nur dann können sie auch zur Demokratisierung der Gesellschaft beitragen. Bislang sind diese Organisationen noch nicht stark genug, um die Demokratie in El Salvador zu tra­gen. Ich denke aber, wir werden hier bald eine sehr starke soziale Bewegung haben, die klare Forderungen an die staatlichen Institutionen stellt. Die Parteien sollten ih­rerseits versuchen, die soziale Bewegung zu unterstützen.

Und wie wird es mit der FMLN nach den Wahlen weitergehen? Wird sie einen Platz in der Gesellschaft finden? Und vor allem, kann sie ihre Einheit aufrechterhalten?
Die FMLN hat es von allen Parteien am schwierigsten, da sie ja noch nicht einmal zwei Jahre als politische Partei existiert. Die FMLN entstand aus gesellschaftlichen Organisationen, die subversiv tätig waren. Danach trat die FMLN in einen Krieg ge­gen das Regime ein, wurde dabei aber von der Zivilgesellschaft isoliert. Jetzt fällt es ihr am schwersten, sich in der Zivilgesell­schaft wieder zurechtfinden. Niemand hat das Recht, sie für ihre Probleme zu kriti­sieren. Die Transformation, die sie zu lei­sten hat, ist gewaltig.

Wird die FMLN sich spalten?
Ich denke, die FMLN sollte sich als Front oder Bündnis von fünf unabhängigen Parteien definieren. Dann wird es auch einfacher, die Unterschiede, die zwischen den fünf Parteien existieren, zu akzeptie­ren. Das ist die Transformation, die die FMLN leisten muß. Ob es eine Spaltung geben wird, weiß ich nicht. Es wird aber sicher etwas neues entstehen.

Werden alle fünf Organisationen wei­terbestehen, oder kann es sein, daß ei­nige verschwinden?
Langfristig werden höchstens drei Par­teien bestehen bleiben: das ERP, die FPL und die PCS. Die beiden anderen sind zu klein, um langfristig als unabhängige Parteien weiterzubestehen. Die RN wird wieder zu ihrem Ursprung, zum ERP, zu­rückkehren. Schwierig wird es für die PRTC, die schließlich aus keiner der an­deren Parteien entstanden ist, sondern als Projekt einer gemeinsamen zentralameri­kanischen Partei. Nur daß diese Versuche in den anderen zentralamerikansichen Ländern gescheitert sind.

Was wird aus dem ERP werden? Das ERP ist bereits gespalten, die Tendencia Democrática hat das ERP verlassen, ist aber weiterhin in der FMLN, ohne Mit­glied irgendeiner der fünf Organisatio­nen zu sein. Joaquín Villalobos hat be­reits seit einem Jahr intensive Kontakte zur Christdemokratischen Partei. Könnte daraus etwas Neues entstehen?
Die FMLN hat in den östlichen Landes­teilen, dort wo das ERP stark ist, am schlechtesten abgeschnitten. Dies wird auf die zukünftigen Diskussionen sicherlich Einfluß haben. Das ERP muß aufpassen, daß es seine soziale Basis nicht verliert. Eine Allianz mit den Christdemokraten möchte ich natürlich nicht ausschließen. Im Parlament wird die gesamte FMLN bemüht sein, mit den Christdemokraten eine gemeinsame Linie für Abstimmungen zu erreichen.

Niederlage im Frieden

Regierungsbeteiligung als Knackpunkt

Für Rafael Vergara Navarro, gescheiterter Kandidat der Partei für den Senat, beginnt der Abstieg der AD-M19 bereits unmittel­bar nach den Wahlen vor vier Jahren: Sündenfall war seiner Ansicht nach der Eintritt von Antonio Navarro Wolff als Gesundheitsminister in die Regierung des liberalen Präsidenten Gaviria.
In das gleiche Horn stößt auch Jorge Child, Ökonomie-Professor und ständiger Kolumnist der angesehenen Tageszeitung El Espectador, der der Kommunistischen Partei Kolumbiens nahesteht. Mit dem Eintritt in die Regierung sei die AD-M19 sozusagen mit fliegenden Fahnen zum Gegner übergelaufen. Ein anderer Kom­mentator bezichtigt Navarro Wolff gar des Betruges, weil er sich von den traditio­nellen Kräften habe vereinnahmen lassen und seine persönlichen Interessen über die der Bewegung und der Hoffnungen der WählerInnen gestellt habe.
Die AD-M19 hatte im Mai 1990 rund 700.000 Stimmen auf sich vereinigen können. Die Beteiligung an der Regierung hat nach der Auffassung von Jorge Child die Wäh­lerInnnen der AD-M19 ent­täuscht. Sie hätten die AD-M19 gewählt, weil sie mit ihrem sozialen Profil anders als die tradi­tionellen Parteien zu sein ver­sprach, die vor allem auf die Besetzung von Posten und Ämtern in Regierung und Verwaltun­gen erpicht sind. Die Altpar­teien, die Li­berale und die Konservative Partei, teilten sich seit Jahrzehnten die Macht im Land, und so waren Cliquen­wirtschaft und Kor­ruption die Regel.
In der damaligen politischen Situation gab es aber wohl keine Alternative zur Regie­rungsbeteiligung. Die AD-M19 hatte die Waffen niedergelegt, um in dem seit Jahr­zehnten polarisierten Land einen Friedens­prozeß einzuleiten. In diesem Sinne, so die Interpretation von Eduardo Chávez, bis zum Ende der Legislaturperiode Se­nator der AD-M19, “war die Partei in der Verpfichtung, den Frieden zu konsolidie­ren und zu beweisen, daß friedliches Zu­sammenleben möglich ist.” Er selbst er­hielt – aus der Guerilla in seine Heimat­stadt Cali zurückgekehrt – mehrere Mo­nate lang täglich mehrfach Mord­drohungen. Die Partei wollte bewei­sen, daß auch andere Kräfte das Land re­gieren können. Die Regierungsbeteiligung war Suche nach Konsens, nach einer “gei­sti­gen Entwaffnung” des Landes im Inte­resse des Friedens.

Fehlendes Profil

Ex-Gesundheitsminister Antonio Navarro Wolff kennt den Vorwurf der Korrumpie­rung durch den Ministerposten und des damit verbundenen Glaubwürdigkeits­ver­lustes seiner Partei sehr genau. Von sich aus kommt er als erstes auf diese Vor­würfe zu sprechen. Er verweist auf die Wahlergebnisse: In seiner Zeit als Mini­ster seien die Stimmen für die Partei von 700.000 im Mai auf rund 1 Million bei den Wahlen im Herbst 1990 zur Verfas­sungsgebenden Versammlung gesteigert worden. Offenkundig sei das Ansehen der Partei in dieser Zeit gewachsen. “Dies hatte mit der praktischen Politik als Ge­sundheitsminister zu tun.”
Als Hauptproblem der Partei in den letz­ten eineinhalb Jahren der Opposition macht Navarro Wolff dagegen den Man­gel an einem klaren Profil aus: “Das Pro­blem ist nicht, ob wir in der Regierung sind oder in der Opposition. Entscheidend ist, daß wir den Unterschied erfahrbar ma­chen. Wenn man sich in der Regierung nicht von den anderen unterscheiden kann, muß man raus.” Unnütz sei eben aber auch eine inaktive Opposition.
Den letzten Punkt kritisiert auch Jorge Child. Er verweist auf das Projekt der So­zialversicherung (mit Renten- und Kran­kenversicherung für einen großen und wachsenden Teil der Bevölkerung), das in den letzten zwei Jahren ein zentraler Ge­genstand der öffentlichen und parlamenta­rischen Debatte war. “In dieser sehr wich­tigen Debatte war die Position der AD-M19 wenig klar. Weder die Senatoren noch die Mitglieder des Repräsentanten­hauses haben sich daran beteiligt. In diesem Moment haben sie sehr viel Glaubwürdigkeit verloren.”
Den Vorwurf mangelnder aktiver Beteili­gung gerade an diesem wichtigen sozial­politischen Projekt weist die Senatorin Vera Grabe, eine der bekanntesten und populärsten Persönlichkeiten der AD-M19, entschieden zurück.
“Wir haben nur eine andere Position als die traditionelle Linke. Wir haben nie, auch nicht als Guerilla, nur Opposition gemacht und kritisiert, sondern immer Lö­sungsvorschläge unterbreitet. Selbst die konservativen Parteien und viele Leute erkennen an, daß das Gesetz zur Sozial­versicherung schlechter wäre, hätten wir nicht mit Vorschlägen und Lösungen kon­struktiv daran mitgearbeitet.”

Viele Listen, wenig Stimmen

Die Aufsplitterung in zu viele Listen gilt übereinstimmend als eine Ursache des Wahldesasters. Die Ex-Guerilleros konn­ten insgesamt mehr als 150.000 Stimmen auf sich vereinigen (unter Berücksichti­gung einiger Einzelkandidaturen sogar noch 100.000 mehr). Andere Listen ge­wannen mit 30.000 Stimmen einen siche­ren Platz im Senat. Aber: Die Allianza war mit 13 verschiedenen Listen im gan­zen Land angetreten. Das Debakel war programmiert. Was den großen Altpar­teien – mit ihrer Vielfalt von Richtungen und Flügeln, regionalen Patriarchen und Gruppen – genützt hatte, hat der AD-M19 das Genick gebrochen. Vera Grabe: “Was wir als eine Vielfalt geplant hatten, haben die Leute als Uneinigkeit interpretiert.”
Mit einer einzigen Liste angetreten, hätte die AD-M19 bis zu 5 Senatssitze gewin­nen können. Die Wahlschlappe wäre nicht so verheerend gewesen. Zu erklären blie­ben jedoch auch dann die deutlichen Stim­menverluste von 700.000 auf 150.000.

Zu viel persönlicher Ehrgeiz…

Die Vielzahl der Listen hat mit einer Aus­einandersetzung in der Partei zu tun, die an frühere Konflikte bei den Grünen in der BRD erinnert. Es gab ein schriftliches Versprechen der AD-M19 SenatorInnen, nicht wieder zu kandi­dieren, sofern sie nicht ausdrücklich von der Partei zur er­neuten Kandidatur auf­gefordert würden. Zu viele der einmal Gewählten fanden das Leben als Abgeordnete aber wohl zu in­teressant und kandidierten erneut. Ob mensch sich da halt versprochen hatte? Oder war es schlicht Existenzangst? Denn was macht ein Ex-Guerillero in einem Land, in dem die Hälfte der Bevölkerung sich den Le­bensunterhalt im informellen Sektor ver­dienen muß.

…und zu wenig Disziplin

Die Solidarität, die in der Gruppe zur Zeit der Guerilla vorhanden war, hat sich im Kongress aufgelöst und ist einem weitver­breiteten Individualismus gewichen. Im Krieg war mensch noch aufeinander an­gewiesen, im Frieden nicht mehr. Antonio Navarro Wolff sagt, es habe keine Diszi­plin bei den ParlamentarierInnen ge­herrscht. “Im Parlament gab es keine Lei­tung und keine einheitliche öffentliche Selbstdarstellung.” Dies habe dem Anse­hen der Partei sehr geschadet. Vera Grabe hält einen solchen Prozeß der Individuali­sierung innerhalb der Führungsruppe, den sie als Entwicklung einer gewissen Viel­falt bezeichnet, allerdings für unvermeid­lich. Konsequenz der vielen Jahre in der Guerilla, in der ausschließlich das Prinzip der totalen Gemeinsamkeit habe herrschen müssen.
Laut Navarro Wolff war es auch nicht möglich, eine von den ParlamentarierIn­nen unabhängige Parteistruktur aufzu­bauen. Unter anderem deshalb nicht, weil sie, die für kolumbianische Verhältnisse sehr hohe Einkommen haben, nicht bereit waren, Gelder für die Parteiarbeit zu Ver­fügung zu stellen.
Eduardo Chávez, ehemaliger Senator der AD-M19, sieht eine zu starke Konzentra­tion auf die Arbeit im Parlament. “Wir ha­ben die Dynamik des alltäglichen Kampfes der Bürger vernachlässigt. Das hat eine Art Isolierung zwischen der Füh­rung und dem normalen Bürger geschaf­fen, der von der Führung erwartet hatte, sie werde sich mehr um ihre alltäglichen Aktivitäten und Sorgen kümmern.”
Dabei scheint es inhaltlich weiterhin viele gemeinsame Positionen zu geben. Die Partei kritisiert die neoliberalen Wirt­schaftskonzepte, die einseitige wirtschaft­liche Öffnung des Landes von einem Tag auf den anderen durch die (neo)liberale Regierung Gaviria. Diese plötzliche Öff­nung für Importe hat die einheimische In­dustrie und Landwirtschaft einem Wett­bewerb ausgesetzt, der ihr schwer zu schaffen macht.
Gemeinsam tritt die AD-M19 für die Fort­setzung des Friedensprozesses mit der Guerilla ein. Ebenso stehen soziale Ent­wicklung, die Bewahrung der genetischen Vielfalt von Pflanzen und Tieren und umweltverträgliches Wirtschaften auf der Tagesordnung.

Die Liberalen – die großen Sieger

Die Liberalen sind nach den Wahlen vom März 1994 stärkste Fraktion und beherr­schen den Kongreß. Besonders erfolgreich waren die AnhängerInnen des liberalen Präsidentschaftskandidaten Ernesto Sam­per, der – so die Umfrageergebnisse Mitte April – der nächste Präsident Ko­lumbiens sein wird. Er verspricht den Kolumbiane­rInnen einen sozialen Kapita­lismus, setzt auf die menschliche Arbeits­kraft und will eineinhalb Millionen Ar­beitsplätze schaf­fen. Der Staat soll wieder stärker eine so­ziale Funktion übernehmen. Wobei – wie Jorge Child sagt – Samper keineswegs die Eckpunkte des Neolibera­lismus, wie In­ternationalisierung oder Privatisierung ne­giert, sondern nur einige Korrekturen vor­nehmen will. Die letzten Wahlergebnisse jedenfalls scheinen zu zeigen, daß das Versprechen eines sozia­len Kapitalismus vielen KolumbianerIn­nen attraktiver er­scheint, als die Kritik an der wirtschaftli­chen Öffnung, wie die AD-M19 sie vertritt.

Trübe Aussichten

Die Allianza Democrática-M19 hat mit dem Wahldebakel ihren bisherigen Zu­gang zu den Medien verloren. Sie hat kein Geld. Was also bleibt? Jorge Child sagt ohne wenn und aber ihr Ende voraus: “Die Demokratische Allianz ist dabei auseinan­derzufallen. Ein Teil dieses Prozesses hat auch mit der persönlichen Diktatur des Parteichefs zu tun.” Auch anderen Bewe­gungen, die sich in Kolumbien als soge­nannte Dritte Kraft etablieren wollten, sei dieser Prozeß nicht erspart geblieben. Er erwartet, daß viele Aktivisten von den tra­ditionellen Parteien aufgesogen werden, vor allem deshalb, weil diese Angebote für qualifizierte Leute machen. Die Libe­ralen seien ebenso wie die Konservativen nach außen sehr flexibel, mit verschie­denen Flügeln, die teilweise auch fort­schrittlichere Positionen vertreten und Re­formkräften offenstehen.
An eine Zukunft kann die AD-M19 wohl überhaupt nur denken, wenn sie ihre Strategie ändert und sozusagen an der Ba­sis wieder neu beginnt. Navarro Wolff: “Viele unserer Generäle müssen sich die Sterne abnehmen – und die Rolle der ein­fachen Soldaten erfüllen.” Notwendig sei eine Restrukturierung der Partei, der Auf­bau einer funktionierenden Parteiorgani­sation. Notwendig sei ferner eine von al­len bewußt akzeptierte Disziplin.
Vor allem aber muß sich die Partei auf lo­kaler Ebene in den Städten und Regionen als politische Kraft installieren. Vera Grabe: “Das ist der Moment, nach neuen Formen der zivilen. friedlichen Aktion zu suchen. Politik im institutionalisierten Rahmen zu machen hat, wie wir gesehen haben, seine Kosten. Das hat den Leuten oft nicht gefallen. Es liegt jetzt an uns, auf regionaler und lokaler Ebene für soziale Angelegenheiten zu kämpfen.”

Rückfall in den “bipartidismo”

Die Demokratische Allianz AD-M19 steckt in einer schweren Krise, die ihr Aus bedeuten kann. Die Schwäche der AD-M19 bedeutet für die KolumbianerInnen: weiterhin bleibt das traditionelle Zwei-Parteien-System beherrschend und mit ihm der fortgesetzte Kauf von Stimmen. Alte Seilschaften statt mehr Bürgerbeteili­gung und Demokratie. Keine Opposition und keine Kontrolle der Herrschenden. Schade – für Kolumbien.

Sicherheitskräfte außer Kontrolle

Daß auch die neue Verfassung von 1991,in der einige wichtige Punkte zur Einhaltung der Menschenrechte festgelegt sind,keine großen Veränderungen bewirkte,beweist die unverminderte Anzahl von Menschenrechtsverletzungen. Viele Opfer werden im Zuge von “sozialen Säuberungen” getötet, die meist von Todesschwadronen ausgeführt werden und sich gegen “sozial unerwünschte” Personen wie Homosexuelle, Prostituierte oder Straßenkinder richten.
Es gibt zahlreiche Indizien dafür, daß sich die Todesschwadronen überwiegend aus”Sicherheitskräften” zusammensetzen,wobei ungewiß ist, ob bei den “sozialen Säuberungen” ebenso auf Befehl gehandelt wird, wie es im Kampf gegen dieGuerilla der Fall ist. Allerdings ist bekannt, daß die Todesschwadronen Unterstützung von Großgrundbesitzern und Geschäftsleuten erhalten.
Aber nicht nur Menschen, die nicht in das soziale Wunschbild einiger Personen passen, sind in Kolumbien ernsthaft gefährdet. Auch MenschenrechtsaktivistInnensind massiven Drohungen ausgesetzt. Den
Menschenrechtsorganisationen werden Kontakte zu den Guerillas nachgesagt, weshalb bereits viele Mitglieder solcher Organisationen von Militärs oder paramilitärischen Gruppierungen ermordet wurden oder spurlos “verschwanden”.

Wer Kritik übt, ist ein Terrorist

Im Kampf gegen Drogenmafia und Aufständische haben Polizei und Militär eine weite Spanne an Handlungsmöglichkeiten. Anti-Terrorismus-Gesetze, die verschärfte Strafbestimmungen beinhalten, garantieren eine große Freiheit im Umgang mit “TerroristInnen”. Der Begriff “Terrorist” kann sehr willkürlich gedeutet werden,
und häufig fallen Personen, die lediglich Kritik an der Regierung üben, in diese Kategorie. Außerdem werden Angehörige von Gewerkschaften oder BewohnerInnen kleiner Dörfer beschuldigt, die Guerilla zu unterstützen, weshalb auch sie vor Verhaftung, Folter und dem “Verschwinden- lassen” nicht geschützt sind. Für brutale Mißhandlungen sind auch die “Mobilen Brigaden” bekannt, Sondereinheiten der Armee zur Aufstandsbekämpfung.
Ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung zu nehmen, liefern sich Armee und Polizei Gefechte mit angeblichen Guerilleros. Dabei getötete ZivilistInnen werden meist als “im Kampf gefallene Guerilleros” bezeichnet, oder es wird behauptet, sie seien während des Schußwechsels zwischen die Fronten geraten. Es sind auch Fälle bekannt, in denen Massaker an ZivilistInnen nachträglich der Guerilla, wie beispielsweise der FARC, oder der Drogenmafia, zugeschrieben wurden.
Die Armee bedient sich brutaler Foltermethoden, um von Kleinbauern, die sie der Mithilfe bei der Guerilla verdächtigt, Informationen über Aktivitäten der Aufständischen zu erhalten. Jene Bauern, die keine Informationen geben können, werden kurzerhand dazu verpflichtet, der Armee als Träger oder Wegweiser zu dienen. Wer sich weigert, muß damit rechnen, er- mordet, gefoltert oder verschleppt zu werden.
Obwohl es bei den meisten politisch motivierten Verbrechen viele Indizien, häufig sogar klare Beweise für die Schuld von Polizei oder Militär gibt, bleiben ausreichende Nachforschungen nach den Tätern meist aus. Auch wenn die Namen der Verantwortlichen bekannt sind, kommt es in den wenigsten Fällen zu Urteilen, was dann mit der “mangelnden Beweislage” begründet wird. Eine der wenigen Aus- nahmen ist der Fall des Oberstleutnant Luis Felipe Becerra Bohórquez, der 1993 aus dem Dienst der Armee entlassen wurde, nachdem ihm die Verantwortung für ein Massaker nachgewiesen wurde, bei dem ZivilistInnen ums Leben gekommen waren. Im Zuge von Aufstandsbekämpfungsmaßnahrnen hatten Truppen des Bataillons Palacé, dessen Kommandeur Becerra war, im Oktober 1993 das Dorf Alto de la Loma umstellt. Bei einer Razzia im Haus der Familie Ladino wurden mehre Personen geschlagen, junge Frauen vergewaltigt und daraufhin sieben Familienmitglieder erschossen. Auch die Nachbarn der Ladinos verloren bei diesem Übergriff fünf Familienmitglieder.
Doch dies war nicht das erste Mal, daß Becerra an schweren Menschenrechtsverletzungen beteiligt war. Bereits zuvor war er in einige Massaker verwickelt gewesen, hatte aber nie Konsequenzen ziehen müssen -im Gegenteil: Nachdem er 1991 vom Gericht für ein anderes Massaker zur Rechenschaft gezogen werden sollte, wurde der Haftbefehl gegen ihn nicht vollstreckt. 1992 wurde Becerra, nachdem das Verfahren auf die Militärjustiz übergegangen war, sogar zum Leiter der Abteilung für Presse und Öffentlichkeitsarbeit der Armee ernannt. Im April 1993 kam der Generalstaatsanwalt zu dem Schluß, daß die Beweise für einen Antrag auf Dienstentlassung nicht genügten. Erst als Becerra im Oktober 1993 erneut ein Blutbad angerichtet hatte, wurde er dafür zur Rechenschaft gezogen, jedoch lediglich vom Dienst suspendiert.

Regierung gesteht Menschenrechtsprobleme ein

1992 wurden vom Generalstaatsanwalt neue Zahlen über Menschenrechtsverletzungen veröffentlicht. Ihm lagen 2618 Beschwerden sowie Berichte über 3099 Opfer von Menschenrechtsverletzungen vor. Der größte Teil dieser Beschwerden richtete sich gegen die Nationalpolizei, aber auch der Armee wurden einige Mißhandlungen angelastet, überwiegend die besonders schweren Delikte, wie Massaker und “Verschwindenlassen”.
Präsident Gavina und andere führende Politiker leugnen zwar nicht die von den “Sicherheitskräften” begangenen Menschenrechtsverletzungen und erkennen das Problem der Straflosigkeit durchaus an. Doch zeigen sie keine ernsthaften Bemühungen, Grundlagen für eine bessere Kontrolle der “Sicherheitskräfte” und Möglichkeiten zur härteren Ahndung von Menschenrechtsverletzungen zu schaffen. Sie begründen dies mit Mängeln im Justizwesen, wie zum Beispiel fehlenden Finanzmitteln oder unzureichenden Ausbildungsmöglichkeiten. Der Generalstaatsanwalt nennt allerdings noch einige andere Gründe dafür, warum Nachforschungen auf diesem Gebiet nur sehr schleppend vorangehen. Ein Grund sei, daß viele Vergehen in ländlichen Gegenden begangen werden, wo sich die Sicherung von Beweismitteln recht schwer gestaltet. Darüber hinaus stellen auch die armeeinternen Strukturen ein Problem dar. Befehle ohne rechtliche Grundlage werden nicht schriftlich festgehalten, werden aber wegen des Befehlsgehorsams und aufgrund von Beförderungschancen ausgeführt. Der Korpsgeist, der innerhalb der Streitkräfte herrscht, verhindert eine Zusammenarbeit mit den ermittelnden Behörden. Zudem wird bei Ermittlungen im Normalfall den Unschuldsbeteuerungen der Beschuldigten Glauben geschenkt, im Gegensatz zu den Aussagen der Zeuginnen, die nicht nur als nicht glaubhaft an- gesehen werden. Im Gegenteil: Aussage- willigen drohen massive Repressalien. Auch die Ermittlungsbeamten werden häufig eingeschüchtert. Einige wurden sogar ermordet.
Von seiten der Militärbefehlshaber wird versucht, Verfahren zu verzögern oder gar vollständig einstellen zu lassen, indem sie keine Namen von Angehörigen der Streitkräfte weitergeben, versuchen, Beweismaterial zu manipulieren, beziehungsweise zu vernichten oder Haftbefehle nicht vollstrecken. Häufig werden auch Armeeoffiziere, gegen die ein Verfahren anhängig ist, befördert oder in andere Gegenden versetzt, damit sie in einen anderen Gerichtszuständigkeitsbereich kommen. Wenn es allerdings doch einmal zu einem Verfahren kommt, meldet die Militärjustiz sofort ihre Zuständigkeit an. Damit ist ein Freispruch der Angeklagten so gut wie gewiß, es sei denn, ein Fall erlangt so viel Publizität, daß ein angemessenes Urteil aufgrund des öffentlichen Drucks nicht ausbleiben darf. Die Möglichkeit des Militärgerichts, Verfahren gegen Mitglieder der “Sicherheitskräfte” selber zu übernehmen, blieb 1991 trotz Änderung der Verfassung weiterhin bestehen.
In seltenen Fällen werden Verurteilungen ausgesprochen, die sich dann allerdings meist gegen rangniedrigere Mitglieder der Sicherheitskräfte richten, da es sehr schwierig ist, die für die Befehle verantwortlichen Vorgesetzten ausfindig zu machen, auch wenn eindeutig belastende Aussagen von Untergebenen vorliegen. Beispielsweise wurden 1992 gegen 191 Angehörige der Streitkräfte und gegen 512 Beamte der Nationalpolizei Disziplinarverfahren eingeleitet. 403 davon zogen Schuldsprüche und Sanktionen nach sich (in 373 Fällen gegen die Nationalpolizei und 31 gegen die Streitkräfte). Es gab aber nur wenige Dienstentlassungen. Meist handelte es sich um geringe Geldstrafen oder zeitlich befristete Dienstsuspendierungen.

Militärjustiz deckt Täter

Objektive Ermittlungen und Urteilssprüche werden vom Militärgericht selten gewährleistet, was nur mit politischen Beweggründen zu erklären ist, da oft genug Urteile gegen Soldaten ausgesprochen werden, wenn sie nicht im Zusammenhang mit der Aufstandsbekämpfung stehen.
Auf formaler Ebene wurden in den letzten Jahren durchaus Maßnahmen getroffen, um die Einhaltung von Menschenrechten zu gewährleisten. So wurde zum Beispiel 1990 das Amt des örtlichen Bürgerbeauftragten geschaffen, der die Aufgabe hat, Berichte über Menschenrechtsverletzungen entgegenzunehmen und gegebenenfalls erste Ermittlungen durchzuführen. Polizei und Militär sind dazu verpflichtet, ihm alle in den letzten 24 Stunden erfolgten Festnahmen mitzuteilen, sowie ihm Zugang zu allen Einrichtungen zu gewähren, damit er sich über Aufenthaltsort und Zustand von Gefangenen in- formieren kann. Doch in vielen Fällen wird die Arbeit des örtlichen Bürgerbeauftragten durch die mangelnde Kooperationsbereitschaft stark eingeschränkt. Außerdem ist auch er Drohungen und Einschüchterungsversuchen ausgesetzt.
Durch die Gemeinderäte kann die Arbeit des Bürgerbeauftragten politisch beeinflußt werden, da diese sein Budget festlegen.
Mit Inkrafttreten der Verfassung von 1991 ist auch das Amt des Volksanwalts entstanden, der Teil der Generaistaatsanwaltschaft ist und eine gewisse Überwachungsfunktion über die Einhaltung der
Menschenrechte hat. Er führt keine Ermittlungen durch, dient aber als Anlauf- stelle und Berater für Opfer von Mißhandlungen und deren Angehörige, die die Möglichkeit haben. den Staat auf Schadensersatz zu verklagen. Der Staatsrat hat bereits vielen solchen Klagen stattgegeben, auch in Fällen, in denen die Verantwortlichen freigesprochen oder ihre Verfahren eingestellt worden waren.
Als weitere Maßnahme entstanden in Städten, in denen eine große Zahl von Menschenrechtsverletzungen bekannt ist, auf Initiative von Generalstaatsanwalt und I Volksanwalt Menschenrechtsbüros. Das erste wurde 1991 in Medellín eingerichtet und nahm bereits in den ersten 16 Monaten 3563 Beschwerden entgegen. In 3554 Fällen, die meisten davon willkürliche Festnahmen oder Mißhandlungen, wurde es tätig.
Außer einigen praktischen Maßnahmen zur Eindämmung der politischen Gewalt, wurden 1991 einige formale Aspekte in der Verfassung eingeführt, die – würden sie eingehalten – eine erhebliche Reduzierung von Menschenrechtsverletzungen herbeiführen könnten.
Die drei verschiedenen Stufen der Notstandsgesetzgebung können vom Präsidenten nicht mehr ohne Zustimmung aller Minister und auf unbegrenzte Zeit ausgerufen werden. Bei der dritten Stufe, dem Notstand, werden die Menschenrechte, Grundrechte und die Grundsätze des humanitären Völkerrechts außer Kraft gesetzt. Außerdem wurden, die Versammlungs-, Vereinigungs-, Meinungs- und Gewissensfreiheit, das Verbot der Folter sowie Vorkehrungen gegen willkürliche Verhaftungen und Mindeststandards für einen fairen Prozeß in die Verfassung aufgenommen.
Weitere wichtige Punkte wie das Verbot der Incomunicado-Haft, die Habeas-Corpus-Rechte und die Unabhängigkeit der Justiz wurden nicht mit in die Verfassung aufgenommen.
Die blutige Geschichte Kolumbiens der letzten Jahrzehnte hat gezeigt. daß viele Gesetze wirkungslos sind. Auch die juristischen Fortschritte im Menschenrechtsbereich, die in den letzten Jahren eingeführt wurden, scheinen bisher eher Ali- bicharakter zu haben. Nach wie vor wer-den MenschenrechtsaktivistInnen, wie etwa Mitglieder der kirchlichen Kommission “Justicia y Paz”, bei ihrer Arbeit schikaniert, bedroht und oft von Regierungsseite der Zusammenarbeit mit der Guerilla bezichtigt.
So beurteilt Javier Giraido auch die gesetzlichen Änderungen skeptisch: “Wenn auch neue Institutionen zum Schutz der Menschenrechte geschaffen wurden, so hat uns die tägliche Praxis gezeigt, daß keine von ihnen mit wirksamen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, um die Rechte tatsächlich zu schützen. Eher könnte man sagen, daß die Verwielfachung der Institutionen die Anklageprozesse und die Suche um Schutz verlängert, erschwert und durcheinander bringt. Alle diese neuen Institutionen fühlen sich ermächtigt, einander die Anklagen durch schriftliche Anordnungen zuzuweisen, wobei keine sich dazu im Stande sieht, die Probleme wirksam anzugehen.”

Späte Gerechtigkeit

Die Urteile riefen Genugtuung in der Öffent­lichkeit hervor: Sollte in Chile Gerechtigkeit doch möglich sein? Auch die politische Rechte beeilte sich zu versichern, daß das richterliche Urteil selbstverständlich zu re­spektieren sei und die Verurteilung der Ex-Polizisten das Ansehen der chilenischen Poli­zei absolut nicht beeinträchtige. Aus zwei Gründen hat der Fall der degolla­dos die chilenische Öffentlichkeit fast ein Jahrzehnt be­schäftigt: Zum einen wegen der demon­strativen Brutalität des Verbre­chens (den Opfern wurden die Kehlen durch­schnit­ten) und zum anderen, weil das polizei­li­che Terrorkommando trotz erdrückender Indizien und engagierter richterlicher Wahr­heitssuche nicht rechtskräftig ver­urteilt wer­den konnte.
Die Ermordung der drei Männer, Mit­glieder der Kommunistischen Partei, am 30. März 1985 war die “Antwort” des po­lizeieigenen Geheimdienstes an die KP, deren bewaffneter Arm, die Frente Patriótico Manuel Rodrí­guez (FPMR) unter anderem Anschläge ge­gen Polizisten verübt hatte. Keines der drei Opfer gehörte jedoch der FPMR an. Außer­dem sollte davor gewarnt werden, weiterhin die Verbrechen eines staatlichen Terrorkom­mandos aus den siebziger Jahren zu untersu­chen, wie dies José Parada, einer der drei Ermordeten, getan hatte.
Die drei Opfer wurden in zwei Aktionen je­weils am hellichten Tag und auf offener Straße von Polizisten in Zivil entführt, ge­fol­tert und verhört. Zwei, bezie­hungsweise einen Tag danach wurden die drei Leichen mit durchschnittenen Kehlen neben dem Weg zum Flughafen gefunden. Die Botschaft sollte nicht nur KP und FPMR, sondern auch weitere Opposi­tions­kreise erschrecken. Im März 1985 befand sich Chile im Ausnahme­zustand, den Pi­no­chet im November an­ge­sichts der auf­kom­men­den na­tio­na­len Pro­test­be­weg­ung ver­hängt hatte. Daß der staatliche Terror­apparat zugeschla­gen hatte, war trotz aller Dementis offen­sichtlich: Die Verkehrs­polizei hatte einen Tatort abgesichert, ein Hubschrauber über­flog einen Einsatzort, und angesichts des seit Monaten herr­schenden Ausnahmezustands konnte kein Fahr­zeug nachts ohne Sonderer­laubnis zum Ort der Ermordung fahren. Die kurze Zeitspanne zwischen Entführung und Er­mor­dung machte außerdem klar, daß es den Entführern allenfalls in zweiter Linie da­rum ging, von den Opfern Infor­mationen zu bekommen.
Dieser demonstrative Terror erschien selbst dem Pinochet-Regime zu jenem Zeitpunkt politisch nicht opportun, das durch Verhand­lungen mit der Christ­demokratischen Partei versuchte, das Op­po­si­tionsbündnis zu spal­ten. Es waren kon­krete Hinweise des militäri­schen Ge­heim­dienstes CNI an den untersu­chenden Rich­ter Cánovas, die zur Anklageer­he­bung gegen Polizeioffiziere führten. Poli­zei­chef Mendoza, Mitglied der damaligen Mi­li­tärjunta, mußte auf Druck Pinochets zu­rücktreten, Nachfolger wurde sein früherer Stellvertreter Stange.
Bereits unter Mendoza, aber weiter unter Stanges Amtsführung, hat die Polizei zwar ihre Zusammenarbeit mit der Justiz öf­fent­lich beteuert, die Aufklärung aber in Wirk­lichkeit nicht nur behindert, sondern mit der Einrich­tung eines “Kreativen Ko­mitees” zur Gestal­tung der Aussagen vor dem Richter dessen Arbeit gezielt sabo­tiert. In kluger Voraus­sicht, daß sie eines Ta­ges als Sündenböcke doch der Justiz preis­gegeben werden könn­ten, ließ einer der beschuldigten Offiziere bei einer “La­ge­besprechung” mit Stange heim­lich ein Ton­band mitlaufen, das er schließlich dem Rich­ter als Beleg “tätiger Reue” – er­folg­los – übergab. Dieses kompromit­tie­rende Be­weis­stück brachte Richter Juica dazu, Stange Vernachlässigung seiner Pflichten und Behinderung der Justiz vor­zuwerfen, wo­für allerdings, so Juica, die Militär­justiz zustän­dig sei.
Zwei Richter – zunächst, bis zu seiner Pen­sionierung, Cánovas, danach Juica – ha­ben in neun(!) Jahren penibler Er­mitt­lungen das Verbrechen trotz aller Behin­de­rungen zu klä­ren versucht. Was schließ­lich zur Identifizie­rung und Verurteilung der einzelnen Tatbe­teiligten führte, war die “Kron­zeugen­regelung”, die eigent­lich zum “Kampf gegen lin­ken Ter­ro­ris­mus” erlassen worden war. In drei Fällen hat der Richter deshalb die Strafen von “le­bens­läng­lich” auf 15 be­zie­hungs­weise 18 Jahre re­du­ziert.
Nach Ostern demonstrierten kleine Studen­tInnengruppen vor dem Haupt­quartier der Polizei. Wie üblich löste die Polizei die De­monstration auf, allerdings ohne die ge­wohnte Brutalität. Sympa­thi­santInnen der Polizei durften natürlich un­behelligt ihre So­lidarität bekunden. Massendemonstrationen von linken Grup­pen gab es jedoch nicht. Zu den Märschen der Angehörigen der degolla­dos während der Ostertage kamen kaum mehr als 2000 Personen, die den Rücktritt Stanges for­derten. Die Gruppe er­reicht mit ihren Auf­rufen weiterhin nur einen kleinen Teil der Bevölkerung. Massenmobili­sierung, er­klär­te inzwischen der sozialistische Innen­mi­nister Correa, sei von der Regierung auch nicht er­wünscht gewesen. Sie habe zu­vor entspre­chende Signale an die sozia­len Bewegungen gegeben.

Aus(zeit) für Stange

Noch keinen Monat im Amt, sah sich Freis Regierung unerwartet vor einem heiklen Problem: den Abgang des schwer angeschlagenen Polizeichefs, General Stange, zu erreichen, ohne über brauch­bare verfassungsmäßige Instrumente dafür zu verfügen. Eigentlich hatte sich die Re­gierung vorgenommen, das Thema der unter der Diktatur begangenen Menschen­rechtsverletzungen nicht offensiv anzuge­hen, um nicht die eigene Ohnmacht ange­sichts der von Pinochet hinterlassenen Verfassung vor Augen geführt zu be­kommen. Als jedoch Stange die Behinde­rung eines Strafverfahrens zweifelsfrei nachgewiesen wurde, sah Frei die Gele­genheit für gekommen, im Konflikt mit der Polizei an Profil zu gewinnen.
Anlaß der Krise waren die Urteile in ei­nem gegen Polizisten geführten Terrori­stenprozeß (s. Beitrag “degollados”). Der zuständige Richter erhob schwere Vor­würfe gegen die chilenische Polizeifüh­rung. Sie habe unter der Verantwortung Stanges die Ermittlungen gegen die uni­formierten Mörder gezielt sabotiert. Eine Tonbandaufnahme belastet den obersten Carabinero persönlich. Richter Juica for­derte ein Verfahren gegen Stange und ge­gen weitere inzwischen pensionierte Polizeigenerale vor einem Militärgericht wegen “schwerer Verletzung militärischer Pflichten”.
Die von Pinochet hinterlassene Verfas­sung verwehrt dem chilenischen Präsi­denten bis 1997 das Recht, die Oberkom­mandierenden der Streitkräfte oder den Polizeichef zu entlassen. Der Appell der Regierung, Stange solle aus freien Stük­ken zurücktreten, blieb erfolglos. In de­monstrativer Provokation erklärten die obersten Generale Stange gegenüber ihre uneingeschränkte Loyalität sowie die des gesamten Polizeikorps.

Freis Schlappe

Angesichts dessen brachte Präsident Frei seine persönliche Autorität und die seines Amtes ins Spiel. In einer eineinhalbstün­digen Audienz versuchte er vergeblich, Stange von der moralisch-politischen Notwendigkeit seines Rücktritts zu über­zeugen. Trotzig trat Stange noch im Re­gierungspalast vor die Fernsehkameras und erklärte, er denke nicht an Rücktritt.
Nach Stanges Weigerung befand sich die Regierung in der Zwickmühle. Zwei ver­fassungsrechtlich mögliche Wege, die Einberufung des Nationalen Sicherheits­rates oder eine Verfassungsklage, wären voraussichtlich am Widerstand der extre­men politischen Rechten gescheitert, die sich um Stange scharte. Ein Verfahren vor einem Militärtribunal wäre nicht nur langwierig gewesen. Darüber hinaus wa­ren ernsthafte Zweifel an der Bereitschaft der Militärrichter angebracht, Stange zu verurteilen. War es typisch chilenisch, daß zwei Tage später zwischen Regierung und Polizeiführung doch noch eine Lösung ausgehandelt wurde?
Auf Antrag der Polizeiführung wird die Militärjustiz, aber unter einem zivilen Richter, nun die Vorwürfe gegen Stange und Konsorten untersuchen. Stange hat Urlaub genommen – ob dieser dreißig Tage dauert, wie er selbst erklärt hat, oder unbegrenzt ist, wie dies die Regierung verlauten ließ, ist ungewiß. Derselbe Stellvertreter Stanges, der noch am Kar­freitag provozierend die Loyalitätsadresse an seinen Chef verlesen hatte, unter­schrieb das Urlaubsgesuch seines Vorge­setzten und spricht inzwischen von “null Problemen” mit der Regierung.
Wie es dem Verteidigungsminister nach dem Affront gegenüber Frei gelungen ist, die Polizeiführung doch noch davon zu überzeugen, daß sie um ihres eigenen Images willen Stanges Abgang zustimmen müßte, ist bislang nicht bekannt gewor­den. Die Streitkräfte verhielten sich in der Öffentlichkeit zurückhaltend. Vermutlich hätten sie sich im Nationalen Sicherheits­rat, in dem sie über vier von acht Stimmen verfügen, auf die Seite der Carabineros geschlagen. Dennoch hat das Militär of­fenbar mit der – wenn auch geringen – Möglichkeit gerechnet, daß sich einer ih­rer Vertreter im Sicherheitsrat gegen Stange wenden könnte. Immerhin waren es Informationen aus militärischen Ge­heimdienstkreisen gewesen, die zu den Verurteilungen im degollado-Prozeß ge­führt hatten. 1985 hatte sich die Militär­junta von der Ermordung Manuel Guerre­ros, Santiago Nattinos und José Paradas distanziert. Pinochet hatte seinerzeit sogar den für das Terrorkommando verantwort­lichen Polizeichef Mendoza geschaßt. Zu­dem hat das Militär anscheinend kein großes Interesse an einer Konfrontation mit der Regierung. Das vordringliche In­teresse des Militärs besteht in der Auf­rechterhaltung des gegenwärtigen Zu­stands der kontrollierten Demokratie. Allzu großer Wirbel um den angeschlage­nen Polizeichef käme also durchaus un­gelegen.
Mehrere Zeitungen spekulieren, wann und wo Pinochet seinen Kollegen getroffen habe, um diesen umzustimmen. Da das gespannte Verhältnis zwischen beiden all­gemein bekannt ist, ist es eben nicht so, als würde ein Mann Pinochets geopfert. Der Urlaub Stanges, der ein erster Schritt zur Amtsniederlegung sein könnte, ist demnach in erster Linie als das Ergebnis interner Auseinandersetzungen innerhalb des Repressionsapparates zu werten.

Frei wird von der Presse gerügt

Das Krisenmanagement der Regierung er­hielt in den Medien weitgehend schlechte Noten. Die zunächst gewählte Form der öffentlichen Auseinandersetzung, der Ap­pell an Stanges Gewissen, die Tatsache, daß Frei ihm Bedenkzeit eingeräumt hatte: all das wurde als Fehler, als falsche Stra­tegie gerügt. Doch zweifelsohne hat die öffentlich ausgetragene Debatte Stanges Position geschwächt und letztendlich dazu beigetragen, daß Polizei- und Militärfüh­rung ihn zu seiner Entscheidung drängten.
Es erscheint paradox, daß Pinochet als Präsident im August 1985 den damaligen Polizeichef und Putschkomplizen Men­doza zum Rücktritt zwingen konnte, der demokratisch gewählte Präsident heute je­doch machtlos bleibt und auf die Unter­stützung der “Sicherheitskräfte” angewie­sen ist. Frei hat den Versuch unternom­men, aus der unter legalen Aspekten aus­sichtslosen Position politisch-moralischen Druck wirken zu lassen, mußte sich je­doch seine Grenzen zeigen lassen. Nun tritt der kompromittierte Polizeichef zwar nicht zurück, aber seinen Urlaub an.
Es wird sich jetzt zeigen, ob wichtige Fra­gen zwischen Regierung und Polizei ge­klärt werden können: die Entwicklung ei­ner Politik der inneren Sicherheit, die mit demokratischen Zuständen vereinbar ist. Bislang entscheidet die Polizei autonom über ihre Einsatzpraxis – kein Minister ist weisungsbefugt. Zu klären wäre auch die eindeutige Zuordnung der Polizei unter das Innenministerium. Die doppelte Ab­hängigkeit von Verteidigungs- und In­nenminister, Erbschaft der Diktatur, be­deutet in der Praxis Autonomie. Ange­sichts der herrschenden Verhältnisse kann die Regierung diese Fragen nur im Ein­vernehmen mit jener Polizeiführung lösen, mit der sie sich im Konflikt befindet.

Inti-Illimani und Quilapayún auf Europatournee

Da ist zum einen Quilapayún, eine Gruppe, die 1965 in Chile ge­gründet wurde. Sie versucht, latein­ame­rika­nische Folklore mit Ele­menten aus der Pop­musik und der experi­mentellen Musik zu ver­knüpfen. Die Gruppe lebt seit 1973 in Frankreich und verbrachte dort 15 Jahre im Exil. Wiederholte Aufenthalte in Chile haben das Leben des Ensembles in den letzten Jahren stark verändert. So hat die Möglichkeit, Chile und Europa gleichzei­tig erleben zu können, die Gruppe sehr be­reichert. Freilich überwiegt nach wie vor die lateinamerikanische Prägung. Neben traditionellen Instrumenten werden auch Klavier, Synthesizer und E-Gitarren ein­gesetzt. Quilapayún hat bisher 25 Lang­spielplatten aufgenommen, die allesamt den Wunsch nach permanenter Einmi­schung in die Politik – wider alles Unrecht – lebendig werden lassen.
Inti-Illimani entstand 1967 in Santiago de Chile und spielte anfangs als reines Folk­loreensemble. Zwar haben sie sich im Laufe der Zeit auch von der Musik ande­rer Kulturen und Stilrichtungen beeinflus­sen lassen, sie spielen jedoch nach wie vor auf – überwiegend traditionellen – akusti­schen Instrumenten. Vor dem Putsch wurde Inti-Illimani staatlich gefördert und galt neben Quilapayún als ein wichtiger Teil der “Nueva Canción Chilena”, einer Musikbewegung, die folkloristische mit politischen Elementen verband. Während einer Tournee 1973, die sie auch nach Berlin führte, wurde die Gruppe vom Putsch überrascht, eine Rückkehr war unmöglich: Bis 1988 lebten sie im Exil in Italien. Inti-Illimani wurden mit ihrer Mu­sik zu einem Symbol des Widerstands ge­gen die Diktatur in Chile. Als die Gruppe nach 15 Jahren wieder ins Land einreisen durfte, entschied sie sich, endgültig zu­rückzukehren. Seitdem mischen sie sich wieder verstärkt in die Probleme vor Ort ein, viele Tourneen führen sie jedoch im­mer noch ins Ausland.
Im folgenden drucken wir Auszüge aus einem Interview mit Jorge Coulón von der Gruppe Inti-Illimani ab. Es geht dabei um die Erfahrungen des Exils und die Verän­derungen der Musik während dieser Zeit, beziehungsweise um die aktuelle Platte.

Interview mit Jorge Coulón (inti illimani)

Frage: Hat das Exil eure politische Ein­stellung verändert?
J.C.: Ja, natürlich hat es einen starken Ein­fluß auf uns gehabt – im negativen wie im positiven Sinne. Jedenfalls war eine Ver­änderung unvermeidlich. Wir fanden uns in einer völlig anderen Realität wieder, inmitten ganz anderer Aus­ein­ander­setzungen, Debatten. In Chile hatten die Menschen 17 Jahre lang keine Mög­lich­keit zu einer wirk­lichen Diskussion, be­zieh­ungsweise sich neuen Ideen zu stellen – hier stag­nierte alles. Wir da­gegen in Italien taten gar nichts anderes, als permanent zu diskutieren, mit neuen Ideen zu spielen. Wir lebten während des Exils mitten in einem Land, das im politischen Bereich die weltweiten Ereig­nisse der letzten Jahre vorwegnahm – die italienischen Kommu­nisten gelangten zum Bei­spiel zu Positionen, die Gor­batschow später in der Sowjetunion vertrat.
In Chile gibt es aus mei­ner Sicht zwei Grup­pier­ungen, die in ihrer Ideo­lo­gie so dogmatisch sind, daß es kaum möglich ist, mit ihnen zu diskutieren: das Militär und die Kom­mu­nistische Partei. Der him­mel­weite Unterschied liegt natürlich darin, daß ich mich den Kommunisten sehr ver­bunden fühle…

Seid ihr weiterhin eine politische Gruppe?
Wir selbst sehen uns in der Hauptsache nicht als eine “politische” Gruppe – im Sinne einer Botschaft, die wir mit Musik un­ter­legen. Wir sind Musiker, die po­liti­sche Po­si­tionen haben; wir haben un­seren Platz in der Ge­sell­schaft und greifen die vorhandenen Probleme auf. In diesem Sinne sind wir politisch.

Wie beurteilt ihr heute die doch sehr kämp­ferischen, pamphle­ta­ri­schen Tex­te, die ihr unter Allende und bis Mitte der siebziger Jahre schriebt?
Eigentlich haben wir immer darauf ge­achtet, in un­se­ren Texten nicht zu pla­ka­tiv, zu ober­fläch­lich engagiert zu sein. Eine Ausnahme war natürlich der “Canto al Programa” (eine Sammlung von “Agitprop”-Liedern über die Vorzüge der so­zialistischen Regierung). An­sonsten legten wir schon von jeher Wert auf das Poetische in unseren Lie­dern. Politische Aus­sagen haben auch ihren Platz, aber für einen Wahl­kampf würden wir in­zwischen keine Lieder schreiben – dazu wären sie uns viel zu kurzlebig.
Ich glaube, daß unser altes Kampflied aus der Allende-Zeit “El pueblo unido” in sei­ner Aussage weiterhin gültig bleibt. Da wir jedoch in keinster Weise auf einer Nos­tal­gie­welle reiten wollen, sin­gen wir es fast nur noch im Ausland…

Hat sich das neoliberale Modell aus eu­rer Sicht auch auf die Musik-Szene in Chile ausgewirkt?
Ich bin nicht der Ansicht, daß Konkurrenz an und für sich schlecht ist – so­lange es sich um die Gunst des Publikums dreht. Heute gibt es eine harte öko­nomische Konkurrenz zwi­schen den Gruppen. Im Ge­gensatz zu den Allende-Jahren, als wir “Inti-Illimani” gründeten, gibt es heute natürlich kaum noch eine öffentliche – staat­liche – Unter­stüt­zung für eine Ent­wicklung von Musik. Besonders die jun­gen Musiker haben es schwer, wenn sie sich nicht völlig den Be­ding­ungen des Marktes anpassen wollen. Die Authenti­zität geht dabei verloren – aber das ist heute freilich überall so. Vielleicht müßte man als Musiker versuchen, wieder einen engeren, direkteren Kon­takt zu ihrem Pu­blikum her­zustellen. Wenn die Musi­ker sich gegen die Kommerzialisierung der Musik-Szene wehren wollen, müssen sie ihre gesell­schaftliche Funktion wie­der wahrnehmen.

Was ist in der Zeit des Exils mit Eurer Musik geschehen?
Wenn man unsere erste und unsere letzte Produktion gegenüberstellte, könnte man einen extremen Bruch feststellen; bezieht man aber all das ein, was in den 20 Jahren dazwischen passiert ist, dann erkennt man durchaus einen lang­samen, kon­ti­nuierlichen Wan­del, eine logische Ent­wicklung. Das Exil hat uns natürlich enorm be­einflußt, durch Musik­stile, die wir in Europa kennenlernten und vorher kaum gekannt hatten – zum Beispiel die mediterrane Musik oder die des Balkans. Auf irgendeine Art und Weise, und sei es unbewußt, haben alle diese Stile ihre Spuren bei uns hinterlassen; in Chile hät­ten wir uns mit Sicherheit anders entwik­kelt.
Was unsere Texte betrifft, so hat sich manches ge­ändert, aber vieles ist immer gleich geblieben: Beispielsweise haben wir von Anfang an auch an­spruchsvolle Texte ver­wendet, Texte von Dichtern wie Patricio Manns, an­der­erseits aber greifen wir Volkslieder und poesía popular auf oder vertonen sie neu. Diese sind zwar auch von “philologischem” Interesse, wichtiger ist aber die gewisse Naivität, die Ursprünglichkeit, die sie auszeichnet.

Auf Eurem letzten Album finden sich neben instrumentalen Stücken einige bekannte latein­amerikanische “Schla­ger” – wie der vals peruano “Fina Estampa” -, aber nur wenige neue Texte. Seid Ihr vorsichtiger ge­worden?
Na ja, ich weiß nicht. Viel­leicht könnte man das als vorsichtig bezeichnen. Ängst­lichkeit ist es jedenfalls nicht. Was die “Schlager” angeht: am Anfang sahen viele es als eine Art Provokation, daß wir diese “Musik zweiter Klasse” spielten. Tat­säch­lich kennt aber diese Lieder wirklich jeder in Lateinamerika und sie schaffen eine Identität, die man nicht unter­schätzen sollte; in den traurigsten und emo­tio­nal­sten Momenten des Exils haben alle diese Lieder gesungen und nicht etwa das “Venceremos” oder “El pueblo unido”…

Tourneedaten:
Inti-Illimani:
24.05. Amsterdam * 28.05. Berlin, 20 Uhr, Passionskirche am Marheinekeplatz * 01.06. Münster, 20 Uhr, Uni, Hörsaal 1 * 02.06. Trier * 03.06. Halle, Open-Air, tagsüber. (Genaueres bei D. Ott, 0761-31690) * 04.06. Greifswald, Open-Air (siehe Halle).

Quilapayún:
30.04. Leipzig, 14.30 Uhr, Sachsenplatz * 01.05. Erfurt, 11.30 Uhr (Ort erfragen bei D. Ott, 0761-31690) * 07.06. Frankfurt a.M., 16 Uhr, Opernplatz * 09.06. Berlin, 17 Uhr, Lustgarten.

Karneval in Rio

Rio ist nicht die einzige Stadt Brasili­ens, deren Karneval berühmt ist. Eine alte Konkurrenz besteht zwischen Sal­vador, der Hauptstadt von Bahia, und Rio. Salva­dor steht für den Straßen­karneval, tan­zende Massen hinter den “Trio Eletricos”. Zwar hat auch Rio einen Straßenkarneval. In fast allen Stadtvierteln werden “blocos” organi­siert, die singend und tanzend durch die Straßen ziehen und abends geht es zu den “bailes”, den Bällen, die inzwi­schen auch in den ärmeren Teilen der Stadt durch die Stadtverwaltung ge­sponsort werden. Der Höhepunkt des Karnevals in Rio ist aber zweifelsohne der Umzug der besten Karnevalsschu­len in dem eigens dafür erbauten Sta­dion, dem Sambo­dromo. Die 16 besten “Sambaschulen” marschieren hier in der Nacht des Sonn­tags und Montags. Das Spektakel dauert jeweils etwa zehn Stunden und endet erst am frühen Morgen. Jede der Sambaschu­len bringt 3000 bis 5000 Menschen auf die Piste, aufwendige Wagen mit Szenen zum Thema des jeweiligen Sambas, farben­prächtige Kostüme. Eines der Kli­schees über den Karneval in Rio lau­tet: “Die Leute sind arm, aber sparen das ganze Jahr für ein Kostüm.” Nein, der Aufwand ist inzwischen so groß, daß kein Armer mehr dafür sparen kann. In diesem Jahr geben die größ­ten Sambaschulen je­weils etwa 600.000 US-Dollar für ihren Auf­marsch aus. Der Karneval ist tatsächlich zu einem großen Geschäft ge­worden.
600.000 US-Dollar wollen also verdient sein. Da ist erstmal die Schallplatte mit den Sambas der 16 Schulen, verlegt durch Sony. Dann die Fernsehrechte. Hinzu kommt der Eintritt, für bessere Plätze von 250 US-Dollar aufwärts, Logen werden zu unglaublichen Prei­sen an Sponsoren ver­kauft, die dann Prominente einladen. Und selbst einen Platz im Umzug kann man kaufen. Aber 1000 US-Dollar kann eines der schickeren Kostüme schon leicht ko­sten. Und nicht zu vergessen die Wer­bung, allen voran die Brauereien. Die­ses Jahr hat der Marktführer Brahma (Abkürzung für Brasilianisch Hopfen und Malz) das Sambodromo über­nommen. Die Vermarktung wird durch eine Vereinigung der Sambaschulen der ersten Liga selbst organisiert. Doch das alles reicht nicht aus. Die Schulen brauchen Sponsoren, und die haben sich in den letzten Jahren nicht lum­pen lassen. Die Herren des ille­galen Glücksspiel in Rio, die “bicheiros” ha­ben schon vor Jahren die Leitung fast aller Sambaschulen über­nommen. Das “Tierspiel”, jogo do bicho, ist eine Institu­tion in Rio. Obwohl offiziell verboten, kann man an fast jeder Stra­ßenecke auf Nummern setzen, die in­zwischen die ur­sprünglichen Tiere er­setzt haben. 20.000 Menschen wer­den von den bicheiros beschäftigt; und obwohl(?) illegal, gehört das jogo do bicho zu den wenigen Einrichtun­gen, von dem alle Einwohne­rInnen Rios glauben, daß sie funktionie­ren. Die Drahtzieher dieses Glückspiels ha­ben sich also in den letzten Jahren mit einer Ausnahme aller Sambaschulen be­mächtigt, um so ihr Ansehen zu er­höhen. Zweifelhafte Figuren, denen Verbindun­gen zum Drogen- und Waffenhandel nachgesagt werden, sind somit zu den Herren eines der bewun­dertsten Schau­spiele der Welt gewor­den. (Dieses Jahr mußte allerdings die Créme der bicheiros Karneval im Gefängnis verbringen, ver­urteilt wegen Steuerhinterziehung.)
Diese Entwicklungen haben kritischen Stimmen Nahrung gegeben, die dem Kar­neval in Rio die totale Dekadenz beschei­nigen. Der Niedergang habe schon mit der Konstruktion des Sam­bodromos Anfang der achtziger Jahre angefangen. Die Spontaneität der Umzüge, das ungezügelte Treiben auf der Straße, wurde in Beton gebändigt. Baumeister war der Kommu­nist Oskar Niemeyer, der Betonmonster liebt. Damit wurde der Karneval “zivilisiert” und für den Konsum der Rei­chen zu­bereitet, die heute bei Champagner und Hummer in den Logen sitzen.

Samba: die subversive Musik der Hügel

Dabei hatte alles ganz anders begon­nen. Anfang des Jahrhunderts war der Karne­val eine Domäne der Reichen. Sie fuhren in offenen Autos und Kut­schen durch die Straßen und warfen Konfetti in die Menge. Die genoß die freien Tage, amü­sierte sich am Rande, in den dunklen Gas­sen, und spielte eine Musik, die schwarze Sklaven mit nach Brasilien gebracht hat­ten: den Samba. Die ersten “sambistas” waren allesamt Schwarze und wohnten auf den Hügeln der Stadt, den “morros”, wo die Armen sich niederließen, nachdem eine Stadtreform sie aus dem Zentrum vertrieben hatte. Die Polizei verfolgte die “sambistas”, und auch zu Zeiten des Karnevals war ein allzu ausgelas­senes Treiben den Hütern des Geset­zes ein Dorn im Auge. “Wir waren schon üble Bur­schen”, sagte einer von ihnen, Cartola, der später zu einem der bekanntesten Samba­komponisten wer­den sollte. Die ersten sambistas waren so etwas wie die Punks der zwanziger Jahre in Rio. Aber bald gab es Bestre­bungen, der gesellschaftlichen Ächtung zu entrinnen. 1928 wurde die er­ste Sambaschule gegründet. Der Name rührt nicht etwa daher, da die Mit­glieder lernen mußten, Samba zu spie­len oder zu tanzen. Die Sambaschule war eher eine Art Übungsraum, damit die Musikgruppe sich vorbereiten und Feste veranstalten konnte.

Alle lieben Mangueira

Eine der ersten Sambaschulen war “Bahnhof Mangueira”, benannt nach ei­nem Armenviertel, das sich neben ei­nem Halteplatz der Vorstadtzüge er­streckt. Tatsächlich schafften es die von der Poli­zei verfolgten “sambistas” schnell, den Karneval zu erobern. Und so wurde aus dem betulichen Fest der Vornehmen das wilde, ausgelassene Vergnügen, das bis heute durch die eindringlichen Rhythmen der Schwar­zen Musik geprägt ist. Der Preis dieses Erfolges war die Vereinnah­mung des Sambas durch die Eliten und den Kommerz. Aus einer subversiven Mu­sik der Vorstädte wurde so ein harm­loses und akzeptiertes Vergnügen, aber eben auch eine der Formen, durch die die Schwarzen Anerkennung und Er­folg er­ringen konnten. Und die Sambas haben sich immer mehr zu einer Art Marschmu­sik verschnellert und vermanscht.
Mangueira ist heute die beliebteste Sam­baschule in Brasilien, jeder Brasi­lianer hat nicht nur einen Fußball­verein, sondern auch eine Samba­schule, für die er sich be­geistert ein­setzt. Und niemand würde bei den Farben rosa-grün an etwas anderes denken als eben an Mangueira. Viel­leicht ist aufgrund dieser Popularität Mangueira auch die einzige der großen Sambaschu­len, die ohne Verbindung mit dem illega­len Glücksspiel überle­ben kann.
Samba und Karneval lassen sich also nicht vorschnell auf einen Nenner bringen, sie sind ein widersprüchliches Phänomen. Daß noch nicht alles nur Kommerz ist, läßt sich am besten bei einem Besuch ei­ner der Sambaschulen erfahren. Lange vor dem Karneval schon beginnen die Ein­übungen, bei denen der aktuelle Samba immer wie­der gespielt wird, bis auch der letzte Fan den Text mitsingen kann. Das Gelände von Mangueira liegt wie schon zu Zeiten der Gründung direkt am Fuß des Hügels. Der Raum ist eine riesige Turn­halle, stämmige Wächter sorgen davor für Ordnung. Brav entrichten wir den Ein­trittspreis, Män­ner zahlen das doppelte wie Frauen. Beim Eingang scheinen wir aber fast die einzigen zu sein, die bezahlt haben. Vor uns geht eine große Gruppe ein­fach so durch, freundlich begrüßt von den Kontrolleuren, man kennt sich. Klar, die Leute vom “Hügel” zahlen nicht, nur die Fremden werden zur Kasse gebeten.
Die Sambas ähneln einander sehr, der ak­tuelle wird mindestens eine halbe Stunde lang wiederholt, schließlich muß der Vor­sänger beim Umzug auch über eine Stunde lang durchhalten. Die Monotonie läßt die Tänzer in Trance geraten, nicht umsonst heißt es, man müsse in den Samba fallen. Hier bei Mangueira wie bei den meisten Sam­baschulen ist die Ge­schichte des Sam­bas lebendig. Hauptak­teure sowohl bei der Gruppe wie bei den Tanzenden sind die Leute vom Hügel, der das Herz der Schule bildet. Die Einheit von Armenviertel und Sambaschule exi­stiert noch, bezahlt wird nicht und die be­sten Tänzer und die schönsten Frauen be­kommen umsonst das Ko­stüm gestellt.
Die Stimmung ist ausgezeichnet, die Leute von Mangueira glauben, den Titel schon in der Tasche zu haben: “Nur wer schon gestorben, tanzt nicht hinter Mangueira her” lautet der tief­sinnige Re­frain, den inzwischen ganz Rio singt.
Es ist der herbe Charme der Hügel und Vorstädte, der heute den Samba und den Karneval noch leben läßt, ihn vor der voll­ständigen Kommerzialisie­rung und dem Untergang im organi­sierten Spektakel rettet. Hier ist die Quelle der Kreativität und einer trotzi­gen, ausgelassenen Le­bensfreude, nicht in den sterilen Studios der Reichen. Die Kraft der Hügel, der Armenviertel ist die Basis des Karnevals, deren Hö­hepunkt der Tourist, sei er aus Europa oder Brasilien, in seinem Logen­platz genießen kann. Karneval ist daher auch mehr als nur ein paar ausgelas­sene Tage, die eine Existenz im Jam­mertal ver­gessen lassen. Er ist Ausdruck einer Kul­tur des Vergnügens und der Lebensfreude, die an den Ta­gen des Karnevals ihren lu­xuriösen Ausdruck findet.
Das schlimme Klischee “arm aber fröh­lich” drängt sich geradezu auf. Zwei­felsohne, die Allerärmsten amü­sieren sich auch im Karneval nicht. Sie sammeln vielmehr den Abfall auf, su­chen nach Bierdosen und Lebensmit­telresten. Aber wer nicht so tief unten leben muß, schafft es in der Regel, Geld für ein paar Bier zusammenzube­kommen. Die vielen Kar­nevalsbälle sind ein billiges Vergnügen. Eine der besten Beschreibungen der Kraft des Sambas liefern die Sänger Gilberto Gil und Caetano Veloso auf ihrer letzten LP: “Der Samba ist Kind der Trauer und Vater der Fröhlichkeit. Er ist der große Umwandler”. Die Fähigkeit zur Hingabe an das Vergügen, die nicht aus Tumbheit sondern aus Trauer und Begehren wächst, ist eine bewunderns­werte Eigenschaft der BrasilianerInnen. So also läßt sich bei al­ler Kritik am Kommerz die Faszination verstehen, die der Karneval in Rio und vielen an­deren Städten Brasiliens immer noch auf alle Welt ausübt. Zum ersten Mal seit Jahren sind die Hotels wieder aus­gebucht. Rio wird in diesen Tagen zur Hauptstadt der Lebensfreude und das tut der geschundenen Seele der Stadt und ih­rer EinwohnerInnen gut. So singt dann der Vorjahressieger, die Sambaschule Salgueiro, unbekümmert alle Klischees herunter: “Mein Rio ist ein Rio der Freude, vor Glück außer Rand und Band. Rio die wunderbare Stadt, Visitenkarte meines Brasiliens, Rio der Mulatas und des starken Sam­bas, des Fußballs. Ach, wie mein Herz explodiert”. Ja, und wenn 100.000 Menschen in der Nacht dieses Rosen­montags solche Verse singen, dann werden sie plötzlich wahr.

Skandal bei der Preisverleihung

Drei Tage später kommt der Katzen­jammer. Bei der Auszählung der Punkte, die eine Jury verteilt, hält es den Präsidenten von Salgueiro nicht mehr auf dem Stuhl. Er droht, die Jury anzugreifen, schreit lautstark “Betrug” und muß schließlich von der Polizei abgeführt werden. Publikumsliebling Salgueiro, der den Sieg schon in der Tasche zu haben glaubte, landet nur auf dem zweiten Platz. Noch größer die Enttäuschung bei Mangueira: ein magerer und skandalöser 13. Platz. Die Tränen fließen ungehemmt. Mangueira hatte zweifelsohne den populärsten Samba dieses Jahres. (Nicht nur) Rio sang fast nur diesen einen Samba. Er ist eine Hommage an Bahia (die große Karnevalskonkurrentin) und dessen vier große MusikerInnen: Caetano Veloso, Gilberto Gil, Gal Costa und Maria Bethania, die alle an dem Umzug teilnahmen. Mangueiro war es so ge­lungen, vier absolute Größen der po­pulären brasilianischen Musik zusam­menzuführen. Ein Geniestreich, und alle glaubten an den Sieg.
Das schlechte Abschneiden von Man­gueira war Auslöser für eine Diskus­sion, die nicht ganz neu ist. “Zuviel Kommerz, zuwenig Samba” resümiert die alte Garde der Schule. Tatsächlich hatte Mangueira die Politik der Ver­marktung am konsequentesten verfolgt und eine Mangueira-GMBH gegrün­det, die Pauschalreisen zum Karneval mit Platz in der Mangueiraloge zu horrenden Preisen verkaufte. Und die zu große Zahl von verkauften Kostü­men hatte dazu geführt, daß ganze Teile des Umzugs von (brasilianischen) Touristen dominiert wurden, die zwar zahlen, aber nicht tanzen können. Die “Decharakterisierung”, die zuneh­mende Distanz des Managements der Schule vom Morro, der Favela, wurde als Grund für das Desaster angesehen. Immerhin, die Diskussion zeigt, daß die Kommerzialsierung des Karnevals problematisch ist und dazu neigt, den Untergrund, aus dem der Samba seine Kraft bezieht, zu zerstören. Und die Siegerin: Die Sambaschule Imperatriz, mit einem technisch perfekten Umzug, der niemanden begeisterte, die Jury aber auch keine Fehler entdecken ließ. Für die Leute auf der Straße war das Urteil klar: Eine Woche nach dem Karneval wurde bei einem großen Freilichtkonzert der Samba des Jahres 1994 gespielt und begeistert mitgesun­gen: Natürlich, der von Mangueira.

Kasten

Zwischen Rebellion und Schwachsinn

Jeder Samba der Schulen hat Text und Thema. Die sind oft belanglos bis peinlich. Aber immer gibt es Ausnah­men. Dieses Jahr hatten ohne Zweifel die Unidos de Viradouro den interes­santesten Samba: Eine Ehrung an Teres de Benguela, eine Prinzessin, die als Sklavin von Afrika nach Brasilien verschleppt wurde, dort floh und im Pantanal zur Führerin eines “Quilombos”, eines Staates von ent­laufenen SklavInnen wurde: “Die Re­bellion entzündete die Flamme der Freiheit, den Traum der Freiheit im Quilombo […] Eine goldene Sonne wird leuchten. Das Licht Terezas wird nicht erlöschen und Viradoura wird erstrah­len in der neuen Ära.”
Das Ganze präsentiert nicht von Tou­ristInnen und ohne die sonst üblichen (weißen) Modelle, sondern fast aus­schließlich von den dunkelhäutigen AnhängerInnen der Schule. Resultat: ein dritter Platz, der in Niteroi, der Heimat von Viradouro wie ein Sieg gefeiert wurde. Peinlich hingegen wirkt die Freiheitslyrik der Siegerin Impe­ratriz. Die besingt die beim Karneval äußerst beliebten Indigenas (guter Vorwand, um viel Haut zu zeigen), al­lerdings mit eher unbrauchbarem Auf­hänger: Besungen wird die Präsentie­rung von Indigenas am französischen Hof im 16. Jahrhundert. “Mon amour c’est si beau” heißt’s auf französisch. Weiter: “Brasilien, das Bild der Nackt­heit und des Mutes”. Und im Refrain: “Ich bin Indio, ich bin stark, ich bin Sohn des Glückes, ich bin natürlich, ich bin Krieger, ich bin das Licht der Freiheit.” Nun ja, für die meisten en­dete die Verschleppung nach Frankreich tödlich.

Der Preis der Demokratie oder was kostet ein Abgeordneter

Nach Angaben einer der größeren Firmen der Branche, Meio e Mensagem, gibt ein Kandidat für das Landesparlament etwa 600.000 bis 800.000 US-Dollar aus. Wer ins Bundesparlament kommen will, muß hingegen 1,5 bis 2 Millionen Dollar hinle­gen. Dies, so sagt die Firma, gelte für eine Kampagne mittlerer Größe.
Natürlich geht es auch billiger, erheblich billiger. KandidatInnen, die populär sind, oder die eine feste Stammwählerschaft haben (in einer Stadt oder einer Gewerk­schaft) kommen mit erheblich weniger aus. Insbesondere die KandidatInnen der Linken können mit den hier angegebenen Summen nicht aufwarten. Ihre Kampa­gnen beruhen auf der “Militanz”, dem eh­renamtlichen Einsatz vieler. Dennoch geht der Bundesabgeordnete der PT (Arbeiterpartei) Paulo Paim davon aus, daß er für seine Wiederwahl etwa 40.000 US-Dollar ausgeben muß. Ivanir Santos, Kandidat der PT in Rio und der Schwar­zenbewegung verbunden, will hingegen mit etwa 15.000 Dollar den Sprung ins Landesparlament schaffen.
Diese Zahlen werden nur auf dem Hinter­grund des brasilianischen Wahlsystems verständlich: JedeR KandidatIn muß – auch bei den linken Parteien – seinen ei­genen Wahlkampf führen. Ist seine Kan­didatur durch die Partei einmal bestätigt, ist er oder sie, abgesehen von einigen zentralen Wahlmaterialien, weitgehend auf sich angewiesen. Denn am Wahltag kreuzen die WählerInnen keine Parteienliste, sondern nur einen Namen an. Die anderen Namen auf der Liste einer Partei sind für die einzelnen KandidatIn­nen also auch Konkurrenten, der Kampf um Stimmen wird auch und gerade im La­ger der PT-WählerInnen geführt. Aber die Konkurrenz ist nicht grenzenlos: Die Stimmen der meistgewählten Abgeordne­ten werden umverteilt. Ein erheblich ver­einfachtes Beispiel: Wenn zu dem Einzug ins Landesparlament 10.000 Stimmen notwendig wären und der/die meistge­wählte KandidatIn einer Partei über 15.000 Stimmen erreicht, könnte auch die Nummer 2 mit 5.000 Stimmen einziehen.

Und wieviel kostet ein Präsident?

Dieses System hat Konsequenzen für die politische Kultur. Zum einen konzentriert sich der Wahlkampf nicht auf Parteien, sondern auf Personen. Dieser hochgradi­gen Personalisierung entkommt auch die PT nicht, die am ehesten den Charakter einer Partei mit Programm aufweist und kein reiner Wahlverein ist. Zum anderen sind die Kampagnen völlig auf Spenden angewiesen, eine Wahlkostenerstattung wie in der BRD gibt es in Brasilien nicht. Als der Bestechungsskandal um Ex-Präsi­dent Collor aufbrach, ging es zunächst hauptsächlich um die illegale Finanzie­rung seiner Kampagne. Nach dem damals gültigen Parteiengesetz durften juristische Personen (also Unternehmen) keine Spen­den geben; die Sache war illegal. Inzwi­schen sind Spenden von Unternehmen legalisiert, maximal 180.000 US-Dollar können sie offiziell ihren KandidatInnen zufließen lassen. Dennoch vermutet Car­los Mendes, als Richter für die Wahlauf­sicht zuständig, daß von den erwarteten fünf Milliarden Dollar, die in die Wahl­kampagnen gehen, mindestens 2 Milliar­den illegal bleiben. Die Gründe liegen auf der Hand: Oft ist das Geld illegal erwor­ben und in vielen Fällen soll die massive Unterstützung eines Kandidaten, etwa durch Baufirmen, nicht ruchbar werden.
Die linken Parteien können ihre finan­zielle Schwäche am ehesten auf lokaler (durch konkrete Arbeit vor Ort) und auf nationaler Ebene ausgleichen. Bei letzte­rer spielt natürlich die Popularität Lulas eine große Rolle, aber auch die Tendenz zur Protestwahl. Während sich Abgeord­nete durch konkrete Versprechungen für einen bestimmten Ort oder eine Siedlung Stimmen angeln, werden an einen Präsi­denten andere Erwartungen gerichtet: Schluß mit der Inflation, wirtschaftlicher Aufschwung. Am schwierigsten ist an­scheinend die mittlere Ebene. Die PT stellt zwar viele BürgermeisterInnen in Brasilien, aber keinen Gouverneur. Kein Wunder: Eine Kampagne für den Gouver­neursposten kostet etwa 20 bis 30 Millio­nen Dollar, in Sao Paulo bis zu 100 Mil­lionen.
Ja und wieviel kostet ein Präsident? – 150 bis 200 Millionen Us-Dollar, meint Meio e Mensagem.

(Quelle für die Angaben von Meio e Men­sagem: Jornal do Brasil, 17.4.1994)

Großgrundbesitz erobert Amazonien

Niemand weiß so recht, wie die Firmen im einzelnen zu Gebieten dieser Größenord­nung gelangen. Fest steht, daß der Um­fang der Flächen, die nicht in Privatbesitz sind, in den letzten Jahren drastisch zu­rückgegangen ist: Der Bundesstaat Ama­zonas verlor in den letzten zehn Jahren fast 10 Millionen (!) ha Staatlichen Lan­des. Davon wurde nur 2.884.961 Hektar in Indianerreservate oder Naturschutzgebiete umgewandelt. Die Experten der INCRA können nicht erklä­ren, wie der restliche Teil des Landes in private Hände gelangt ist. Es wird ver­mutet, daß Schenkungen von Gemeinden beziehungsweise deren Bürgermeister an ihre Klientel eine große Rolle dabei spie­len.
Inzwischen ist in Manaus, der Haupt­stadt des Bundesstaa­tes, ein parlamentari­scher Untersuchungs­ausschuß über den Ver­bleib der staatli­chen Ländereien einge­setzt worden. Der Vorsitzende des Aus­schus­ses, Ereno Be­zerra, nimmt an, daß der größte Teil des Gebietes in unproduk­tiven Grundbesitz verwandelt wird. “Der Groß­grundbesitz in Amazonas ist in den letzten zehn Jahren in alarmierendem Ausmaß gewachsen,” er­klärt er.
Offensichtlich bereiten die Holzfirmen lang- oder mittelfristig eine Verlagerung ihrer Aktivitäten in den Bundesstaat Ama­zonas vor. Dieser zeigt bisher die niedrig­sten Entwaldungsraten, weil ein Straßen­netz praktisch nicht existiert und der Schiffstransport langwierig ist. Da in den verkehrstechnisch besser erschlossenen Gebieten Amazoniens das wertvollere Holz langsam zu Ende geht, kann sich bei steigenden Holzpreisen bald lohnen, wei­ter ins Innere Amazoniens vorzudringen.
Die Firmen handeln dabei nach dem alt­bewährten Motto: “Legal – Illegal – Scheißegal”. Denn eigentlich müßte jeder Landerwerb von über 2.500 Hektar (nach der Landesverfassung von Amazonas so­gar von 1.000 Hektar) durch das nationale Par­lament oder den Landtag genehmigt wer­den.
Die fast unvorstellbare Ausdehnung der Latifundien (definiert als Betrieb, dessen Fläche sechshundertmal größer ist als ein durchschnittlicher Betrieb in einer Re­gion) ist kein Phänomen, das auf den Bundesstaat Amazonas beschränkt ist, sondern prägt die gesamte Amazonasre­gion. 1986 besa­ßen von den achtzehn größten Landbesit­zern Brasiliens fünfzehn Land in Amazo­nien und zwar eine Fläche von 162.000 Quadratkilometern, mehr Land als das Gebiet der Neuen Bundes­länder plus Niedersachsen. Insge­samt be­saßen Latifundisten in Amazonien 1986 1,4 Millionen Quadratkilometer, ein Ge­biet also, das fast viermal so groß ist wie die Bun­desrepublik.
Diese Zahlen können gut dazu dienen, die in Brasilien wieder aufgekommene Dis­kussion um die Demarkierung der India­nergbiete zurechtzurücken. Konservative Kreise versuchen nämlich mit dem Hin­weis auf die große Ausdehnung der India­nergebiete, diese in Frage zu stellen und insbesondere die Demarkierung des Ge­biets der Yanomami wieder rückgängig zu machen. In die aktuelle, allerdings nur schleppend vorankommende Verfassungs­reform versuchen diese Kreise eine Ände­rung einzubringen, die die Demarkierung der Indianergbiete zur Sache der Bundes­staaten macht. Der Effekt wäre klar: In Staaten wie Roraima (in dem das Gebiet der Yanomami liegt), wo der lokale Groß­grundbesitz dominiert, wären einer Revi­sion der Demarkierung Tor und Tür ge­öffnet. Die Zahlen über den Zuwachs des Großgrundbesitzes belegen aber, daß nicht die Indianergebiete sondern die Explosion der unproduktiven Latifundien das Grundproblem der Landfrage in Amazo­nien ist.
Es zeigt sich auch, daß gesellschaftliche Veränderungen in Amazonien nicht an der Landfrage vorbeikommen. Dies betrifft auch den Umweltschutz. Was nützt die Einrichtung einiger Schutzgebiete, wenn die Latifundien sich so ungeniert und un­kontrolliert ausbreiten können. Gerade die Landfrage ist aber in Entwicklungspro­grammen wie dem berühmten Pilotpro­gramm der G-7 ausgespart. Was immer noch auf der Tagesordnung in Amazonien steht ist eine einschneidende Landreform, ohne die alles Gerede von “nachhaltiger Entwicklung” Makulatur bleibt.

Itaparica 5 Jahre nach der Flutung

Der Pater hat zu einer Versammlung ein­berufen. Es soll ein Staudamm gebaut werden. Niemand weiß so recht, was das ist. Unser Land wollen sie überfluten? Unmöglich. Oder hat doch der alte Pro­phet recht, der vor langer Zeit weissagte: Der Sertao wird sich in ein Meer verwan­deln?
Die Versammlung fand im Jahr 1973 in Rodelas statt, einer kleinen Stadt im Bun­desstaat Bahia. Es ging um den Fluß Sao Francisco, der den heißen und trockenen “Sertao” im Nordosten Brasili­ens wie eine Lebensader durchfließt. Bis Februar 1988, als der Staudamm Itaparica seine Pforten schloß, um den 840 Qua­dratkilometer gro­ßen Stausee aufzufüllen und Energie zu erzeugen, sind noch tau­sende von Ver­sammlungen, Streiks und Demonstratio­nen durchgeführt worden. Wie ist der Streit weitergegangen, der auch das bun­desdeutsche Parlament be­schäftigt hat? Wie sieht es fünf Jahre nach der Flutung aus?

Eine Fahrkarte nach Sao Paulo

Was ein Staudamm für die Flußbevölke­rung bedeutet, wurde den BäuerInnen klar, als sie in den 70er Jahren sahen, wie zehntau­sende von Menschen vom Sao Francisco vertrieben wurden, um dem größten Stau­see der Welt Platz zu ma­chen, dem 400 Kilometer flußaufwärts gelegenen So­bradinho. Viele hatten der verantwortlichen Energiebe­hörde CHESF keinen Glauben geschenkt und wurden von dem unaufhaltsam an­steigenden Flußwasser zur Flucht ge­drängt. Als Ent­schädigung bot die CHESF vielfach eine Fahrkarte nach Sao Paulo – ohne Rück­fahrt.
Hier in Itaparica sollte alles ganz anders kommen. Die LandarbeiterInnengewerk­schaften in den betroffenen Kommunen wurden von kämpferisch orientierten ArbeiterIn­nen übernommen, schlossen sich zum Pólo Sindical zusammen, stellten Forde­rungen: Recht auf Umsiedlung, Land gegen Land. Entschädigung für je­des Haus, jeden gepflanzten Obstbaum. Be­wässerungsland für alle, die am Fluß leb­ten und arbeiteten, auch für die, die kein eigenes Land besaßen.

Der große Sieg – vorläufig

Itaparica wurde mit Mitteln der Weltbank finanziert. Deren bundesdeutscher Ver­treter befürwortete Mitte der 80er Jahre die Freigabe weiterer Mittel, obwohl be­kannt war, daß die CHESF offensichtlich nichts tat, um einen akzeptablen und durchführbaren Umsiedlungsplan für die über 5000 betroffenen Familien vorzule­gen. Im Dezember 1986 schließlich be­setzten die BäuerInnen die Baustelle des Stau­damms für mehrere Tage. Die CHESF rief die Polizei, das Militär rückte an. Doch die Diktatur war schon zu Ende. Die Hartnäckigkeit der Bauern hatte einen bis heute unerhörten Sieg davongetragen, nationale und internationale Solidaritäts­bekundun­gen taten ihr übriges, um nach zähen Ver­handlungen zu einer Verein­ba­rung zu kommen, an die die CHESF bis heute ge­bunden ist.
Rodelas ist heute genauso wie die Städte Petrolandía, Iticuraba und Barra do Tarra­chil sowie tausende von Hektar fruchtba­res Land vom Itaparica-Stausee begra­ben. Die Städte wurden anderswo wieder auf­gebaut, doch fruchtbares Land war nicht hinreichend vorhanden, so daß etwa die Hälfte der betroffenen Bauern 250 km flußaufwärts ziehen mußten. Im Juli 1988 sollten die Bewässerungsprojekte funkti­onsfähig sein, aber erst 1993 begann mensch auf 200 ha zu beregnen – nicht einmal 2 Prozent der geplanten Fläche. Und wieder einmal rüsteten die Bauern und Bäuerinnen sich für die schwere Aus­einandersetzung mit der CHESF. Die großen Bauunternehmen, deren Machen­schaften in verschiedenen Korrupti­onsskandalen der letzten Monate aufge­deckt wurden, haben am Itaparica-Stau­damm im Auftrag der CHESF gigantische und absurde Strukturen geschaffen – die nicht funktionieren:
– Es gibt kein Drainage-System, obwohl es so wichtig wäre wie das Wasser selbst, um die Gefahr der Versalzung der Böden und damit ihre Unbenutzbarkeit zu ver­hindern. Insbesondere im semi-ariden Klima des Sertao rechnet man mit schwe­ren Versalzungserscheinungen in weniger als fünf Jahren ohne Entwässerungsanla­gen.
– Bei einem großen Teil der Anlagen be­steht der Abstand zwischen den Sprenk­lern 15 Meter, statt der gebotenen 12 Me­ter, mit der Folge, daß bis zu 50 Prozent der Fläche nicht ausreichend bewässert werden.
– Die Mehrheit der UmsiedlerInnen besit­zen Felder von 3 ha. Unter den gegebenen Bedingungen (Bodenstruktur, Anzahl der Sprenkler, tägliche Bewässerungsdauer, Klima) ist es nicht möglich, mehr als 1,5 Hektar zu bewässern; die Hälfte ihrer Fel­der kann nicht bearbeitet werden.
– Allgemein bekannt ist, daß es sich nicht rentiert, eine Beregnungsanlage zu instal­lieren, in der mehr als 80 Meter Höhen­unterschied zu überwinden sind. Die Hälfte der Umsiedlungsprojekte liegt zwi­schen 130 und 152 Meter über dem Sao Francisco.
– Der Wirkungsgrad der Bewässerung sollte bei Sprenkleranlagen zwischen 70 und 75 Prozent liegen. In den bisher funk­tionierenden Flächen liegt er weit unter 50 Prozent, was die Kosten in die Höhe treibt, die Produktivität senkt und die Ver­salzungsgefahr erhöht.

Allianz gegen die Gewerkschaftsbe­wegung

Bedauerliche Berechnungsfehler der Un­ternehmerInnen? Lässigkeit im Umgang mit technischen Daten?
Sicherlich nicht. Die Antwort ist eine zy­nische Allianz zwischen CHESF, den Bauunternehmen und der regionalen Ent­wicklungsbehörde CODEVASF. Die letz­tere wird von einigen Familien aus dem rechten Parteienspektrum dominiert. Sie ist für tausende von Hektar nicht oder schlecht funktionierender Bewässerungs­flächen verantwortlich. 80 Prozent Zah­lungsunfähigkeit bei den NutzerInnen die­ser Anlagen sind keine Seltenheit. Und wenn jetzt einfache Bauern und Bäuerin­nen zeigten, daß sie ökologischer und gut organisiert bessere wirtschaftliche Ergeb­nisse erzielen, wäre das nicht schlecht für das Ansehen der CODEVASF?
Und die Bauunternehmen? Gigantische Anlagen sind für sie allemal interessanter als kostengünstige, aber dafür angepaßte Systeme.
Die CHESF hat ein Interesse an einem schnellen Niedergang der selbstorgani­sierten Bauernprojekte, um aller Welt zu zeigen, daß eben dieses Beispiel nicht funktioniert. Sie hätte dann in der Zukunft weniger Ärger, wenn wieder einmal Land überschwemmt werden soll und zum “Nutzen der Allgemeinheit” Menschen umgesiedelt werden müssen.

Ein Beispiel für Agrarreform

Auf der anderen Seite sind sich die entste­henden Produktions- und Vermarktungs­genossenschaften, die Gewerkschaften und der Polo Sindical eben dieser Verant­wortung bewußt. “Wenn das Ding hier schiefgeht, können wir kaum noch von Agrarreform reden. Dann ist genau das Vorurteil bestätigt, daß unsere GegnerIn­nen so pflegen. Die ArbeiterInnen machen viel Krach, aber wenn es um die Verwal­tung eines Bewässerungsprojektes geht, sind sie unfähig”, meinen viele Gewerk­schaftlerInnen grimmig.
Die CHESF will die Projekte so, wie sie sind, den UmsiedlerInnen übergeben. Al­lein die laufenden Kosten würden auf­grund der Konstruktionsmängel das drei- bis vierfache des regionalen Niveaus be­tragen, bei erhöhter Versalzungsgefahr, Degradation der Böden und schneller Verarmung und Abwanderung der Bevöl­kerung, die schon sechs Jahre darauf wartet, endlich wieder von der Landwirt­schaft zu leben. “Die CHESF täuscht sich ganz folgenschwer, wenn sie wieder mal meint, uns aufs Kreuz legen zu müssen”, lacht die Präsidentin der Gewerkschaft von Rodelas, die zu jener denkwürdigen ersten Gewerkschaftsversammlung gerade mal sieben Jahre zählte.
P.S. Die deutsche Bundesregierung hat just in dieser Zeit der CHESF knapp 30 Millionen DM zugesagt, von denen ein Teil bereits abgeflossen ist. Ist sie mögli­cherweise dabei, einen peinlichen Fehler von 1986 zu wiederholen? Der Polo Sin­dical hat bereits protestiert und fordert eine Konditionalisierung: Keine Freigabe von Geldern, solange die Frage der Be­wässerungsprojekte in den Umsiedlungen nicht befriedigend gelöst ist.

Kleines Glossar des Sao Francisco

CHESF

Companhia Hidrelétrica do Sao Francisco. Bundesorgan zur Energieerzeugung durch die Wasserkraft. Zimperlich ist sie nicht gewesen. Paulo Afonso war das erste Wasserkraftwerk, das am Sao Francisco Anfang der 50er Jahre ans Netz ging. Die Stadt Paulo Afonso und das Kraftwerk waren jahrzehntelang als “nationales Si­cherheitsgebiet” deklariert. Der Bürger­meister wurde direkt vom Präsidenten eingesetzt. Nach Paulo Afonso folgten am Mittel- und Unterlauf des Sao Francisco, also im Nordosten Brasiliens, Moxotó, Sobradinho und Itaparica. Fast fertigge­stellt ist am Unterlauf Xingó, und weitere sind in Planung. Nirgendwo wurden Um­weltverträglichkeitsstudien angefertigt und beachtet. Für das Kraftwerk So­bradinho wurden mehr als 50.000 Menschen vertrieben, die vielfach in den Slums der großen Städte landeten; in Ita­parica waren etwa 25.000 betroffen. Poli­tisch und rechtlich ist sie verantwortlich für eklatante Fehler und Mängel der Be­wässerungsstrukturen der Itaparica-Bäue­rInnen. Ihre Behebung bzw. ihr finanziel­ler Ausgleich muß erst noch erkämpft wer­den.

CODEVASF

Companhía de Desenvolvimento do Vale do Sao Francisco. Gesellschaft zur Ent­wicklung des Sao-Francisco-Tals. Bun­desorgan. Gegründet 1974, Nachfolgerin zweier Vorläuferorganisationen, die eben­falls das Ziel hatten, das Flußtal durch Bewässerungsprojekte zu “entwickeln”. Von den derzeit etwa 200.000 ha bewäs­sertem Land werden 60.000 ha von der CODEVASF betreut. Ursprüngliche Pla­nung von Ende der 40er Jahre war, Klein­bäuerInnen in Bewässerunsprojekten anzusie­deln, um ihre Lebensbedingungen zu ver­bessern und die Marktproduktion zu ver­größern. Hauptkritikpunkte an der CODEVASF sind, daß sie ihre Koloniali­sierungpolitik nach den Interessen einiger weniger dominierender Familien richtet, daß AgrarunternehmerInnen bevorzugt werden und daß kaum ein Projekt es schafft, selbst nach 20 Jahren unabhängig zu sein. Es werden autoritär (Schein)Organisationen gegründet, denen Betrieb und Wartung der Bewässerungs­anlagen übertragen wird. Die fortdauernde Abhängigkeit der Bauern ermöglicht die Fortsetzung der paternalistischen (und er­presserischen) Tradition im Nordosten: Gehorsam und Stimmabgabe für die Mächtigen. Im vergangenen Kommunal­wahlkampf ist die CODEVASF offen für die rechte PFL eingetreten. In der Liste der wegen Unfä­higkeit aufzulösenden Or­ganisationen steht die CODEVASF ziem­lich weit oben.

Polo Sindical do Submédio Sao Francisco

Zusammenschluß von derzeit zehn Land­arbeiterInnengewerkschaften am unteren Mittellauf des Flusses. Wichtigste Organi­sation des “movimento popular” der Re­gion und Wiege für eine Reihe von loka­len (und nationalen) PT-Karrieren. Ge­gründet 1979 aus der Notwendigkeit einer besseren Koordination, Mobilisierung, Vernetzung und Öffentlichkeitsarbeit ge­genüber den Vorstellungen der CHESF, die vom Staudamm Itaparica betroffenen BäuerInnen willkürlich und entschädi­gungslos zu vertreiben. Bisher größter Er­folg: Ver­einbarung mit der CHESF, die Umsied­lung, Bewässerungsprojekte, Häu­serbau, Gesundheits- und Bildungsein­richtungen in den Projekten zu garantie­ren. Nach der erfolgten Umsiedlung An­fang 1988 ermü­dender Kleinkrieg um die Erfüllung der Vereinbarung und Ver­nachlässigung an­derer Probleme in der Region: Rechte der LohnarbeiterInnen, Nachwuchsförderung, Beteiligung der Frauen, Bekämpfung der paternalistischen Ausnutzung der langan­haltenden Dürre (“Wirtschaftszweig-Dürre”). Auf dem I. Kongreß des Polo Sindical im Oktober 1993 diskutierten die Delegierten diese Mängel und beschlossen weitgehende in­haltliche und organisatori­sche Verände­rungen, um die politische Verantwortung des Polo Sindical für die Entwicklung der Region besser wahrneh­men zu können.

Der Fluß Sao Francisco

Der “Alte Chico”, wie ihn die Flußanwoh­nerInnen zärtlich und ehrfurchtsvoll nen­nen, hat seine Quelle im Canastra-Gebirge im Bundesstaat Minas Gerais, fließt in nördliche Richtung durch Bahia, be­schreibt einen großen Bogen nach Osten, markiert zunächst die Grenze zwischen den Bundesstaaten Sergipe und Alagoas, bevor er nach 2.700 km in den Atlantik mündet. Durchschnittlich passiert sein Flußbett jede Sekunde ein Wasservolumen von über 3.000 Kubikmeter. Hauptnut­zung ist die Erzeugung von Energie und Bewässerung sowie die Versorgung mit Trink- und Brauchwasser. Die ersten bei­den Nutzungsrichtungen stehen im Kon­flikt. Zusammen mit dem fast fertigen Kraftwerk “Xingó” am Unterlauf, den ge­nannten Werken am Mittellauf und “Trés Marias” am Oberlauf wird eine Kapazität von 13.400 Megawatt erreicht sein. Die CHESF träumt jedoch von weiteren Kraftwerken um auf 17.500 Megawatt zu kommen, weil Energieverbrauch immer noch als ein zentraler Indikator für Ent­wicklung gesehen wird. Und die CODE­VASF möchte insgesamt 1,5 Mil­lionen ha bewässertes Land sehen. Allein das Pro­jekt Jaiba jedoch, das auf 100.000 ha an­gelegt ist, (von denen 8.000 instal­liert sind), würde schon 2 bis 5 Prozent der Wassermenge des Flusses konsumie­ren. Absurde Gigantomanie. Verschärfend kommen zwei Faktoren hinzu:
1. Das kurzsichtige Modell der Bodennut­zung, das die CODEVASF und das Agrarkapital anwenden, gefährdet den Fluß und alle Menschen, die an ihm und von ihm leben. Unkontrollierte Bewässe­rung, rasche Versalzung der Böden und Anreicherung des Flußwassers mit Nitra­ten und Giften durch Mineraldünger und Pestizide sind voraussehbare Folgen die­ses Modells.
2. In Minas Gerais werden im weiteren Einzugbereich des Flusses jährlich zehn­tausende Hektar Wald zur Holzkohlever­arbeitung für die Eisenverhüttung abge­holzt. Dies hat Klimaveränderungen grö­ßeren Ausmaßes zur Folge, u.a. die lang­same Vertrocknung des Sao Francisco und seiner Zuflüsse. Darüber hinaus erodieren die Böden, und der Fluß trägt die Erdmas­sen zum Sobradinho, der in kurzer Zeit verlanden wird.
Die Bauern und Bäuerinnen von den Ge­werkschaften und Genossenschaften des Polo Sindical sind sich dieser Zusammen­hänge bewußt und beauftragten den Polo Sindical, Elemente einer alternativen, ökologisch und ökonomisch nachhaltigen Bodennutzung insbesondere in den Um­siedlungsprojekten zusammenzutragen und zu verbreiten. Weiterhin wird der Polo an einer überregionalen politischen Vernetzung teilnehmen, um dazu beizu­tragen, die Gefahr für den “Alten Chico” abzuwenden.

Die Unfähigkeit wahrzunehmen

Ein italienischer Anthropologe reist zu Studienzwecken ins Amazonasgebiet. Zunächst landet er in Sao Paulo, um an der dortigen Universität an einer Tagung teilzunehmen. Während der Tagung wird der Vize-Rektor der philosophischen Fa­kultät (Prof. Rui Coelho) verhaftet und eine junge Soziologin der Universität (Yara Yavelberg) von der Polizei ver­schleppt und ermordet. Verantwortlich: Die polizeilich-militärische Organisation OBAN mit Sitz in der Rua Tutóia in Sao Paulo.
Der Italiener bricht sein Amazonas-Vor­haben ab. Er bleibt in Sao Paulo und be­ginnt, über Repressionen und Todes­schwadrone zu recherchieren. So gesche­hen 1971.
Das 350 Seiten starke Buch des Anthro­pologen Ettore Biocca über den Staatster­rorismus in Brasilien erschien 1974 unter dem Titel “Strategia del Terrore” bei dem angesehenen italienischen Verlag De Do­nato und beeindruckt noch heute durch die detaillierten Beschreibungen der Entste­hungsgeschichte von Todesschwadronen in Brasilien. Biocca verknüpft die Ge­schichte der staatlichen und halbstaatli­chen Repression mit einer Analyse des Systems der sozialen Ungerechtigkeit in Brasilien. Am 5.9.1972 berichtet amnesty international zum ersten Mal ausführlich über den systematischen Einsatz von Folter und Todesschwadronen in Brasi­lien. Das zweite Russel-Tribunal fand sich im Frühjahr 1974 in Rom zusammen, um die internationale Aufmerksamkeit auf den Staatsterrorismus in Lateinamerika zu lenken; auch über Brasilien wurde aus­führlich und dramatisch berichtet.
Die Anfang der 70er Jahre in Sao Paulo aufgebauten polizeilichen Killerkomman­dos bestehen noch heute. Zum Teil sind es dieselben Chefs, dieselben Namen, diesel­ben Waffen, die die staatliche Mordma­schine betreiben. Der einzige Unterschied: Ihre Anzahl hat sich ungefähr vervierfacht (von 250 auf über 1000 Mann), und ihre nach militärpolizeilicher Statistik jährlich begangenen Morde haben sich ebenfalls ungefähr vervierfacht. (1992 haben sie in der Stadt Sao Paulo 1470 Personen erschossen.)
Ein zweiter, allerdings gesellschaftspoliti­scher Unterschied springt ins Auge: Heut­zutage bricht kein Professor deswegen seine Forschungsreise ab. Kein internatio­nales Tribunal klagt an. Keine wissen­schaftlichen Bücher werden darüber ge­schrieben. Keine Schriften mit politisie­render Absicht dazu abgefaßt. Keine großen Kampagnen entfesselt.

Mörder machen Medien

Alle wissen, daß es in Brasilien Morde an Straßenkindern gibt und daß der brasilianischen Militärpolizei der Colt locker sitzt. Weltweit wird über Massaker berichtet – als Skandal. Es gibt sogar bra­silianische Radiosender und Tageszeitun­gen, die ausschließlich über Mord und Totschlag – auch von Todesschwadronen – berichten. Sie sind in der Hand der Hin­termänner der Todesschwadrone, die Re­pression organisiert die Information ge­wissermaßen selbst.
Aber über die Kontinuität des Apparats berichtet niemand. Liegt das daran, daß die Stadtguerilla, gegen die damals die Killerkommandos aufgebaut wurden, nicht mehr existiert? Daß die politische Opposition von heute nicht mehr von den Spezialeinheiten attackiert wird? Entsteht eine gesellschaftliche Unfähigkeit wahr­zunehmen, was an den Rändern der offi­ziellen Gesellschaft geschieht? Wächst die Welt der Ausgeschlossenen, der Armen, der Billiglohnverdienenden, der Woh­nungslosen – wird dieses soziale Univer­sum zu einer neuen terra incognita?

Altes Thema – Neue Verpackung

Gegen diese Annahme spricht, daß der in­vestigative Journalismus Brasiliens zu diesem Thema jüngst einen Bestseller landen konnte: Claudio (“Caco”) Barcel­los, ein Reporter des Medientrusts “Globo”, schrieb einen Kriminalroman unter dem Titel “ROTA 66. A história da polícia que mata”.(*) Der Titel spricht für sich: In Brasilien weiß jeder, daß die Ab­kürzung ROTA 66 für eine berüchtigte Killereinheit der Militärpolizei in Sao Paulo steht. Ihre Entstehungsgeschichte seit 1970, ihre Praktiken, statistische In­formationen über ihre Einsätze und Morde, ihre politischen Hintermänner, ihre Deckung und Einbindung in den ge­samten polizeilichen und militärischen Apparat finden sich – nicht in einer politi­schen Analyse, nicht in einer juristischen Anklageschrift, nicht in einer soziologi­schen Abhandlung über Repression und Armut – sondern in einem Kriminalroman. Dem Bestseller-Erfolg schloß sich keine Menschenrechtskampagne und keine staatsanwaltliche Ermittlung an. Für die sofortige Abschaffung dieser Spezialein­heit hat bisher keine Demonstration statt­gefunden.
Ein Kriminalroman: Zum einen bietet dem Autor dieses Genre Möglichkeiten, auch persönliche Geschichte aufzuarbeiten. Als Jugendlicher lebte Caco Barcellos Anfang der 70er Jahre in der Kultur der Gegen­bewegungen, die gerne nächtliche Auto­rennen in der Stadt veranstalteten, häufig kifften, die Rolling Stones hörten. ROTA 66 brachte den Tod auch in diese Gruppen mittelständischer Herkunft: So zieht sich das Band der Reportage von diesen frühen Erfahrungen bis zu dem Versuch einer journalistisch gefärbten Bestandsauf­nahme dessen, was aus dieser Killerein­heit heute geworden ist. Am gelungensten sind sicherlich die “politischen” Passagen: Dort verläßt Caco Barcellos die Krimi-Handlungsstränge und berichtet, resü­miert, klagt an. So festigt sich der Ein­druck, daß hier etwas erzählt wird, für das es im Grunde kein literarisches Genre mehr gibt. Ein Hintergrundaufsatz zum Thema würde keine Beachtung finden, eine große Aufmachung, eine Enthüllung wäre morgen vergessen. Also wird ver­packt in die Form des Krimis.
Und damit ist die andere Seite angedeutet: Ein Kriminalroman ist Lektüre aus einer anderen Welt, ähnlich wie Science Fic­tion. Ein Krimi entspricht der Schnelle­bigkeit unserer Zeit. Der Zugewinn an Er­kenntnis wird gesellschaftlich nicht umge­setzt. Der Bestseller, die kritisch-krimina­listische Aufarbeitung, gehört gleicherma­ßen zum Bestehenden wie “die Polizei, die tötet”.
Jeder weiß von den Todesschwadronen. Man weiß, welche Autos sie fahren. Man kennt die Namen der Veranwortlichen. Die Einsatzzentrale ist bekannt. Aber über die sozialpolitischen Gründe ihrer Konti­nuität, über die systemhaften Ziele ihrer Einsätze, über ihre gesellschaftliche Funktion wird nicht gesprochen, nicht ge­schrieben, dagegen wird nicht gehandelt.
Der Krimi von Claudio “Caco” Barcellos ist zu empfehlen. Dem Autor gebührt Re­spekt und Schutz – er hat Todesdrohungen erhalten. Der Zugewinn an kritischer Er­kenntnis ist beispielhaft.
Doch die Existenz dieses Buchs weist dar­auf hin, daß die herrschende Gesellschaft Grenzen im eigenen Lande aufzieht: Be­richtet wird über die andere Welt der Ausgeschlossenen, der bis aufs Blut Aus­gebeuteten, der Verhungernden, der von Killerkommandos Bedrohten nur noch in den Formen des schnellen Vergessens: Skandalblätter, Krimis und Massakermel­dungen werden zur Abschottung dieser neuen terra incognita beitragen.
Caco Barcellos berichtet, daß er sich oft als Reporter in lebensbedrohlichen Situa­tionen befunden hat: Er eilt zum Ort des Verbrechens in die Favelas und wird von einer aufgebrachten Menge empfangen. Er schreibt, die Favelabewohner würden die Reporter regelmäßig mit den Polizisten “verwechseln”, die dort als Killerkom­mandos gewütet haben, und es würde un­endliche Mühe kosten, sie zu überzeugen, auf welcher Seite die Reporter in Wirk­lichkeit stehen. Vielleicht ahnt Caco Bar­cellos aber auch, daß die Herumstehenden in der Regel richtig erkannt haben, aber in der Situation ohnmächtig sind, weil sie keine Stimme in der Medienwelt haben. Im Grunde arbeitet sich Barcellos an die­sem Widerspruch ab, und gerade das macht das Buch von ihm so lesenswert.

(*) Wörtlich: Sondereinsatzkommando (Rondas Ostensivas Tobias Aguiar) Nummer 66. Die Geschichte der Polizei, die tötet”. Sao Paulo 1992. Der deutsche Titel “Mord in Sao Paulo. Den Todesschwadronen auf der Spur”, Göttingen (Lamuv) 1994 erfaßt leider nicht die Brisanz des Originalstitels. An manchen Textstellen des Kriminalromans wäre eine freiere Übersetzung angebracht. Die assoziative Einbettung in das Großstadtleben Sao Paulos ist für das hiesige Lesepublikum ohne Erläuterungen teilweise schwer nachzuvollziehen.

“Homo Elendsviertel” in Peru

“Der dritte Sendero: Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen” hat der Züricher Rotpunktverlag die deutsche Übersetzung betitelt. Ein vielversprechen­der Auftakt für alle, die weder im Terror Sendero Luminosos noch im hemmungs­losen Kapitalismus Fujimoris eine demo­kratische Perspektive entdecken können. Nur hält das Buch nicht, was der Titel verspricht. Zunächst einmal schreibt Jean-Michel Rodrigo nur über Lima, die Pro­vinz ist kein Thema. Sendero Luminoso wird ebenso in einem Unterabschnitt ab­gehandelt wie die Regierungszeit von Fu­jimori. Letzteres kann nicht überraschen, baut Rodrigo doch den größten Teil des Buches auf einem längeren Peru-Aufent­halt Ende der 80er Jahre auf, noch vor dem Regierungsantritt Fujimoris. Daraus resultiert auch die große Schwäche seiner Beschreibungen Limas. Der Reportagestil suggeriert Aktualität, aber wenn Rodrigo von Hyperinflation und von Spekulation mit Lebensmitteln berichtet, ist das längst Geschichte und hat mit den Problemen des täglichen Lebens im heutigen Lima nicht mehr viel zu tun.
Jean-Michel Rodrigo geht es in bester lin­ker Tradition um “das Volk”. Die vier Ka­pitel beschäftigen sich mit den Landbeset­zungen in Lima und mit der Organisation des Überlebens. Kapitel 3 trägt die schwülstige Überschrift “Die wiederge­fundene Ehre der Frauen”, und im letzten Kapitel “Die Wegkreuzungen” erscheinen schließlich auch die Akteure, die Peru in den letzten Jahren geprägt haben: die Neoliberalen und Sendero Luminoso.
Susan George, Leiterin des “Transnational Institute Amsterdam”, schreibt in ihrem Vorwort: “Sie werden in diesem Buch …[keine] kindliche Linksromantik fin­den…”. Sie muß ein anderes Buch gelesen haben, denn sobald es um “das Volk” geht, romantisiert es heftig auf fast jeder Seite. Da beschwört Rodrigo mit Ausru­fungszeichen “die Solidarität des bäuerli­chen Kollektivs”, die auch in der Stadt funktioniere, und das für seine Selbstver­waltung berühmte limenische Stadtviertel Villa El Salvador wird “von 300.000 un­beugsamen Menschen bewohnt”. Asterix läßt grüßen. “Sieben Jahre lang bin ich durch die Elendsviertel von Lima gezo­gen”, so Rodrigo, “In diesem Buch lasse ich die Menschen so oft wie möglich zu Wort kommen. Ich habe mich bemüht, die Spontaneität ihrer Berichte zu respektie­ren… .” Lange Originalzitate hat Rodrigo zwar in seinen Text eingebaut, aber er re­duziert die existierenden Menschen zur Schablone, eben zur Gattung “Homo Elendsviertel”: eine Schablone für die Träume eines linken Intellektuellen vom “guten und solidarischen Volk”. Eine Schablone, die nichts über Peru, aber viel über einen Jean-Michel Rodrigo aussagt, der in sieben Jahren offenbar nur gesehen hat, was er sehen wollte.
Gerade einmal in Randbemerkungen er­scheinen zum Beispiel die heftigen Kon­flikte zwischen StraßenhändlerInnen um die guten Standplätze, wie sie in Lima an der Tagesordnung sind. Mit keinem Wort erwähnt Rodrigo, wie viele Bewoh­nerInnen der pueblos jóvenes die linken politischen Sprüche nicht mehr hören können, wie tief ihr Mißtrauen gegen alle “Politik” ist, weil sie gerade von denen, die ständig von Solidarität und Kampf re­deten, so oft enttäuscht worden sind. Ver­geblich warten die LeserInnen auf Erhel­lendes, wie angesichts der Krise der “Volksbewegungen” die von ihnen ausge­hende Alternative aussehen könnte. Eine Krise im übrigen, die nicht erst mit Fuji­mori begann, sondern 1989 längst schon offensichtlich war. Jean-Michel Rodrigo stört es nicht. Er konstruiert Heldinnen und Helden, solidarisch und kämpferisch: Sozialkitsch pur.
Der Anspruch, die BewohnerInnen der Vorstädte Limas als Menschen ernst zu nehmen, bleibt dabei auf der Strecke. Ge­meinsamen Kampf um Land und Wasser, um das Recht, auf der Straße zu verkaufen und um Bildung gibt es immer noch, trotz aller Krise der “Volksorganisationen”. Aber Rodrigo stellt sich gar nicht erst die Frage, unter welchen besonderen Bedin­gungen, aus welchen individuellen Strate­gien heraus solches kollektives Handeln entsteht. Oder eben auch oft nicht entsteht. Was im “Dritten Sendero” übrigbleibt, ist nur noch schwärmerische Verklärung, ein Mythos, aber kein Bild von Realität.

Jean Michel Rodrigo: “Der Dritte Sendero. Weder Leuchtender Pfad noch Fujimori, die Alternative der peruanischen Volksbewegungen”. Rotpunkt­verlag, Zürich 1993

Newsletter abonnieren