Berlinale | Nummer 524 - Februar 2018

PERSEPOLIS À LA LATINA

Der kolumbianische Animationsfilm Virus Tropical lässt am Erwachsenwerden in Ecuador und Kolumbien teilhaben

Von Dominik Zimmer

Früher las man einfach nur Comics. In den in kleine Vierecke gepressten, gemalten Geschichten traten sprechende Enten und Mäuse auf. Oder erwachsene Männer, die ihre Kindheitstraumata therapierten, indem sie zum Beispiel nachts in Fledermauskostümen technische Spielereien ausprobierten oder sich in rot-blauen Ganzkörperkondomen von Wolkenkratzer zu Wolkenkratzer schwangen. Dem intellektuellen Anspruch waren dabei aber oft enge Grenzen gesetzt. Deshalb differenzierte sich das Medium ab den 1980er Jahren aus. Die Geschichten waren nicht mehr ganz so extravagant, aber dafür häufig deutlich komplexer, nicht selten autobiografisch geprägt und dadurch viel näher an der Realität. Die Graphic Novel war geboren.

Nach Lateinamerika kam die Graphic Novel relativ spät, selbst die Comic-Szene war lange relativ klein. Deshalb ist es nicht überraschend, dass auch die ecuadorianische Zeichnerin Powerpaola erst spät das Medium entdeckte, das sie international bekannt machte und ihr nun zusammen mit dem kolumbianischen Regisseur Santiago Caicedo als Animationsfilm zu einem Auftritt auf der Berlinale verhalf.


Virus Tropical ist die Adaptation ihres gleichnamigen autobiografischen Comicbuchs, das international große Beachtung fand und die Geschichte ihrer Kindheit und Jugend in der ecuadorianischen Hauptstadt Quito und im kolumbianischen Calí erzählt. Paola Gaviria, wie Protagonistin eigentlich heißt, wächst in einer bürgerlichen Mittelklassefamilie auf, die stark von Frauen dominiert wird. Der Vater, ein ehemaliger Priester, der seinen Beruf zugunsten seiner Familie an den Nagel gehängt hat und deshalb oft frustriert ist, verlässt diese, als Paola noch ein Kind ist. Damit überlässt er der Mutter Hilda, die ihren Lebensunterhalt mit Wahrsagen für reiche Kund*innen verdient, die Verantwortung für sie und ihre beiden älteren Schwestern Claudia und Patty. Als letztere beschließt, in Kolumbien Psychologie zu studieren, zieht auch die 14-jährige Paola mit ihrer Mutter dorthin, was einen erheblichen Einschnitt im Lebenswandel vom eher konservativen Quito zum freizügigeren Calí bedeutet. Paola passt sich nach anfänglichen Schwierigkeiten schnell an, ihre Mutter kommt damit jedoch nicht so gut klar und kehrt deswegen immer wieder zu längeren Aufenthalten nach Ecuador zurück. Ihre Erfahrungen mit Drogen und Liebschaften teilt Paola deshalb hauptsächlich mit Patty, die in Abwesenheit von Hilda gleichzeitig die Rolle der besten Freundin und Ersatzmutter übernehmen muss.


Virus Tropical ist sowohl grafisch als auch dramaturgisch kein revolutionär progressiver Film. Die naiv-liebenswert gestalteten Schwarz-Weiß-Zeichnungen (unweigerlich denkt man beim Betrachten des Films an Marjane Satrapis Persepolis) sind zwar gut anzusehen, bleiben aber meist in der Darstellung realer Ereignisse verhaftet. Kreativere, surreale Darstellungen z.B. des Innenlebens der Protagonistin kommen leider kaum vor, wodurch das Potenzial, das ein Animationsfilm gegenüber anderen Formaten bietet, nicht ganz ausgeschöpft wird. Auch die Geschichte ist trotz einigen familiären Hin und Hers im Grunde nichts weiter als eine solide Coming-of-Age-Story. Konfliktlinien wie der Kampf gegen machistische Strukturen, den alle Frauen der Familie zu kämpfen haben, werden nur in Zwischentönen deutlich – zum Beispiel wenn die jahrzehntelange Hausangestellte zum ersten Mal im Leben Geld von der Familie klaut, um sich eine umfassende Schönheitsoperation zu gönnen. Dass der Film oft unspektakuläre Alltagsszenen zeigt, ist auch nicht schlimm, denn schließlich ist es einer der interessantesten Aspekte von Graphic Novels (und im übrigen auch von Filmfestivals) anschaulich zum Verständnis unbekannter alltäglicher Realitäten beizutragen. Dennoch hätte man sich an manchen Stellen ein wenig mehr Mut zur Fokussierung gewünscht. Wer in Lateinamerika gelebt hat oder aufgewachsen ist, wird deshalb trotz eines durchaus vorhandenen Unterhaltungswerts eher Wiedererkennungs- und Identifikationsmomente beim Betrachten des Filmes haben als wirklich neue Erkenntnisse mitnehmen.

Virus Tropical lief auf der Berlinale 2018 in der Kategorie Generation 14plus.

Virus Tropical von Santiago Caicedo // Kolumbien 2017 // Spanisch // 97 Min // Schwarz-Weiß

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