Nicaragua | Nummer 600 - Juni 2024

Pharaonisches Projekt beerdigt sich selbst

Gesetzreform zum umstrittenen Interozeanischen Kanalprojekt

Dem ambitionierten Megaprojekt der nicaraguanischen Regierung, über das die LN seit 2013 berichten, ist die eigene Gigantomanie zum Verhängnis geworden. Nach einem Jahrzehnt Stillstand lässt sich das vorläufige Ende des Großen Interozeanischen Kanals vermelden: Am 8. Mai ordnete Präsident Ortega die Reform des Gesetzes 800 und die Aufhebung des Gesetzes 840 an, das die Konzession des chinesischen Privatinvestors Wang Jing annulliert. Allerdings bedeutet dieser Vorgang lediglich das Eingeständ­nis, dass die Durchführung dieses gigantischen Projekts zumindest in der bisher geplanten Form gescheitert ist. Aktivist*innen warnen davor, dass die Gesetzesreform weder das definitive Ende des Kanals noch des Auftritts weiterer dubioser Investor*innen bedeuten muss.

Von Elisabeth Erdtmann
Ortega Vaterlandsverkäufer Mobilisierungen gegen das Kanalprojekt im Jahr 2013 (Foto: Jorge Mejía Peralta via Flickr (CC BY 2.0))

Am 8. Mai verabschiedete die nicaraguanische Nationalversammlung den Gesetzentwurf zur Reform des Gesetzes des „Großen Interozeanischen Kanals von Nicaragua” sowie der in diesem Zusammenhang geschaffenen Kanalbehörde (Gesetz 800). Annulliert wurde dagegen das Gesetz 840, um dem chinesischen Geschäftsmann Wang Jing die ihm übertragene Konzession zu entziehen. Beide Gesetze bildeten die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Realisierung des gigantischen Bauprojekts einer Nicaragua durchquerenden Wasserstraße, wobei das Gesetz 840 Wang Jing gar die Nutzungsrechte für das Konzessionsgebiet für einen Zeitraum von 100 Jahren übertrug. Mit seiner Entscheidung bestätigt Ortega die Aussichtslosigkeit des Projekts, nachdem Wang Jing mit seiner Kanalbaufirma HKND wegen zweifelhafter Börsengeschäfte enorme Kapitalverluste hinnehmen musste.

Die vollmundigen Versprechen, die sich seit 2013 mit dem Kanalprojekt verbanden, um den Nicaraguaner*innen das Bauvorhaben schmackhaft zu machen, haben sich damit in Luft aufgelöst: ein jährliches Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von mehr als zehn Prozent, die Schaffung von mehr als 50.000 Arbeitsplätzen im Zusammenhang mit dem Bau von Zement- und Sprengstofffabriken, Straßen, Häfen, Flughäfen, dazu weitere tausend Arbeitsplätze in Freihandelszonen und großen Tourismuszentren, um nur einige der angepriesenen Vorteile zu nennen, die einen Ausweg aus der Armut mit sich bringen sollten.

„Heute ist ein Tag zum Feiern“

An die 100 Protestmärsche und der entschiedene Widerstand der Bäuer*innenbewegung haben zum Ende des Projekts beigetragen. Potenziellen Investor*innen haben die Proteste gezeigt, dass neben den technischen, ökologischen, finanziellen und kommerziellen Zweifeln an einem Projekt dieser Größenordnung auch mit Widerstand zu rechnen ist. Für die Anwältin und Expertin für Umweltrecht, Mónica López Baltodano, erweist sich die Unmöglichkeit, das Kanalprojekt zu verwirklichen, als „ungeheure Niederlage” für die Diktatur und als „Triumph” für den Umweltschutz und die bäuerlichen, indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften, die von den zerstörerischen Auswirkungen des Vorhabens unmittelbar betroffen wären. „Heute ist definitiv ein Tag zum Feiern, denn dies wäre ohne den konsequenten Einsatz von Tausenden von Nicaraguaner*innen, die sich der Auslieferung der nationalen Souveränität Nicaraguas widersetzt haben, nicht möglich gewesen”, so die Anwältin gegenüber der Nachrichtenplattform Confidencial in der Sendung Esta Semana. Gleichzeitig warnt sie jedoch vor allzu viel Optimismus. Man müsse aufpassen, „dass nicht andere Mafiaunternehmen um die Ecke kommen und wieder unter den Schutz des Gesetzes 800 gestellt werden”, zumal offensichtlich sei, dass „die Risiken der Enteignung und der Repression gegen die Gemeinden” fortbestehen.

Auch bei dem im Exil lebenden Umweltaktivisten und Direktoren der Umweltschutzorganisation Fundación del Río, Amaru Ruíz, überwiegt zunächst die Freude: In einem Interview mit Esta Noche sagte er, dass es endlich gelungen sei, „nach elf Jahren der Lobbyarbeit (…) zu beweisen, dass sowohl die Bäuer*innenbewegungen als auch die indigenen und afro-deszendenten Gemeinschaften Recht hatten, und dass schließlich die Aufhebung sowohl des Rahmenkonzessionsabkommens als auch des Gesetzes 840 erreicht worden ist.” Er sieht darin einen klaren Sieg für die Umweltschutzorganisationen, für die Gemeinden und die sozialen Bewegungen.

Kein Grund zur Entwarnung

Allerdings sieht auch Ruíz noch keinen Grund zur Entwarnung und stellt die Frage, was hinter der Gesetzesreform stecken könnte: „Offensichtlich ist das Gesetz 800 potentiell immer noch in Kraft und der Staat (…) und die Armee übernehmen die Kontrolle, denn schließlich ist die Person, die in den Verwaltungsrat (Direktion der Kanalbehörde nach der Änderung des Gesetzes 800) berufen wurde, ein Armeegeneral, Óscar Mujica. Es besteht die eindeutige Absicht, die Verhandlungen über das Projekt fortzusetzen, um die wirtschaftliche Lebensfähigkeit des Regimes abzusichern und ihm angesichts der sich abzeichnenden Wirtschaftskrise als Rettungsanker zu dienen.”

Die Bauernanführerin Francisca Ramírez gibt zu bedenken, dass die Tatsache, dass das Gesetz nicht aufgehoben wird, „noch mehr Zweifel aufkommen lässt”, da nicht bekannt sei, „an wen denn dann die Konzession vergeben wird.” Und der Bauernanführer und politische Ex-Gefangene Medardo Mairena meint, dass von Anfang an klar gewesen sei, dass das Kanalprojekt „nicht rentabel” war. Das Einzige, um das es gegangen sei, „war die Enteignung von Land.”

Um Landraub geht es auch bei der Klage der Territorialregierung der Rama- und Kriol-Völker der Gemeinde Monkey Point sowie der Gemeinschaft der Indigenen Schwarzen Kreolen von Bluefields vor dem Interamerikanischen Gerichtshof für Menschenrechte (IACHR). Laut einem am 9. Mai veröffentlichten Kommuniqué des Rechtshilfezentrums für indigene Völker (Calpi) hat der IACHR bereits über die Klage gegen den nicaraguanischen Staat wegen der Konzession für den Interozeanischen Kanal entschieden. Danach hat das Gericht in seiner 165. ordentlichen Sitzung vom 7. bis 22. März über den Klageantrag beraten, dessen Urteil voraussichtlich während der nächsten Sitzung Mitte 2024 bekannt gegeben wird.

Das Rechtshilfezentrum Calpi weist darauf hin, dass die Annullierung des Gesetzes 840 und die Reform des Gesetzes 800 nur einige der Klagepunkte berühren, die dem Antrag an den IACHR zugrunde liegen. „Indigene und afro-deszendente Völker sind von diesen Gesetzen deshalb betroffen, weil sie nicht konsultiert wurden, obwohl 52 Prozent der Kanalroute durch ihre traditionellen Territorien führen”, erläutert Calpi die Begründung der Klageschrift. Diese stützt sich darauf, dass die betroffenen Gemeinschaften zwischen 2013 und 2020 allein 19 Klagen wegen der Verletzung ihrer grundlegenden Menschenrechte vor dem Obersten Gerichtshof Nicaraguas eingereicht hatten, ohne dass dieser sich auch nur mit einer ihrer Beschwerden beschäftigt hätte.

Das Calpi-Kommuniqué erinnert daran, dass die indigenen Autoritäten damals anprangerten, dass der nicaraguanische Staat den Präsidenten der Territorialregierung der Rama und Kriol (GTRK) kooptiert und ihn ohne vorherige informierte Zustimmung der Gemeinschaften dazu gebracht habe, ein angebliches Abkommen mit der Kanalbehörde zu unterzeichnen, in dem sie ihm illegal einen unbefristeten Pachtvertrag für 263 Quadratkilometer Land im Herzen ihres angestammten Territoriums gewährte. Desgleichen klagen die Autoritäten der Gemeinschaft der Indigenen Schwarzen Kreolen von Bluefields gegen den nicaraguanischen Staat, weil dieser „eine Parallelregierung zu der von ihnen rechtmäßig gebildeten Regierung förderte, den Prozess der Titulierung ihres traditionellen Territoriums abbrach, ihre Vertreterin in der Nationalen Kommission für Demarkation und Titulierung (CONADETI) rechtswidrig entließ und der Parallelregierung einen Titel über nur sieben Prozent des beanspruchten Landes übergab, sodass 93 Prozent ihres traditionellen Territoriums dem Megaprojekt zufielen”, so Calpi.

Elf Jahre lang flossen Unsummen in die Kanalbehörde – ohne Ergebnis

Laut Amaru Ruíz steht nicht nur die Bilanz von Menschenrechtsverletzungen noch aus, deren Bewertung durch den IACHR erwartet wird, sondern auch die Identifizierung des Korruptionssystems im Zusammengang mit der Tätigkeit der Kanalbehörde. Denn in den vergangenen elf Jahren wurde diese Behörde mit Mitteln aus dem Staatshaushalt finanziert, ohne dass Ergebnisse erzielt wurden. Dabei stellt sich die Frage, was mit den Unsummen geschehen ist, die der Kanalbehörde über all die Jahre zuflossen. „Es bleiben noch Korruptionssysteme, die aufgedeckt werden müssen. Die Personen, die daran beteiligt waren, müssen identifiziert werden”, so der Umweltschützer gegenüber Esta Semana. „Zum Beispiel sämtliche Unternehmen und das Netz, das im Fall der Wang Jing-Konzession aufgebaut wurde, nicht nur auf internationaler, sondern auch auf nationaler Ebene. Es gibt Anwälte, Geschäftsleute, Personen, die mit der Armee verbunden sind, Personen, die mit öffentlichen Institutionen in Verbindung stehen, die zahlen und zur Rechenschaft gezogen werden müssen. Sie haben eine Konzession ausgehandelt, die eindeutig gegen die politische Verfassung Nicaraguas verstößt.”

Trotz der Suspendierung des Kanalprojekts wird sich der IACHR auch in Zukunft mit der Verletzung der Rechte indigener Gemeinschaften beschäftigen müssen: Am 22. April meldete das offizielle Gesetzesblatt La Gaceta die Übertragung einer Tagebaukonzession für 25 Jahre an das chinesische Bergbauunternehmen Xinxin Linze Minería Group in der nördlichen Autonomen Karibikregion. Dieses Gebiet wird hauptsächlich von indigenen Gemeinschaften der Miskitu und Mayagna bewohnt. Kritiker*innen bezweifeln, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsstudien durchgeführt wurden, wobei es weder zu den Auswirkungen auf die indigenen Gebiete noch zu vorherigen Konsultationen der betroffenen Gemeinschaften Informationen gibt. Nach der Auflösung von mehr als 3.600 Organisationen und der gewaltsamen Unterdrückung jeglichen zivilgesellschaftlichen Protests herrscht weitgehend Stille im Land. Für den Bergbausektor ideale Bedingungen, die es erlauben, Nicaraguas natürliche Ressourcen Akteur*innen zu überlassen, die sich weder um Gesetze noch um die Rechte und Lebensbedingungen der ansässigen Bevölkerung scheren.

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