Chile | Nummer 298 - April 1999

Plötzlich sind alle Sieger

Wie das Urteil gegen Pinochet in Chile interpretiert wird

Urs Müller-Plantenberg

Als die britischen Lordrichter am 24. März 1999 mit ihrem Urteilsspruch dafür sorgten, daß der chilenische Ex-Diktator Augusto Pinochet in London in Haft bleiben muß, haben sie zweifellos ein neues Kapitel in der internationalen Rechtsgeschichte eröffnet. Von der chilenischen Bevölkerung wurde diese Entscheidung allerdings keineswegs besonders erregt aufgenommen. Sie hat sich daran gewöhnt, daß der Ex-General, der sich faktisch selbst nach fast 25 Jahren als Oberbefehlshaber des Heeres zum Senator auf Lebenszeit gemacht hat, im fernen England auf seine Auslieferung nach Spanien warten muß.
Kleine Gruppen von Pinochet-FanatikerInnen hatten sich in den letzten Tagen und Nächten im Oberklassenviertel von Santiago, wo nicht nur die Pinochet-Stiftung, sondern auch die britische und spanische Botschaft ihren Sitz haben, die Seele aus dem Leib geschrien, um ihrer Treue zu ihrem Idol und ihrer Empörung über die angebliche Anmaßung der Briten Ausdruck zu geben. Zur Zeit des Urteilsspruchs selbst – in Chile war das mitten in der Arbeitszeit am Vormittag – waren nur etwa hundert Unentwegte anwesend, um auf einem Riesenbildschirm das Geschehen im britischen Oberhaus zu verfolgen.
Im Zentrum der Stadt dagegen hatten sich im Sozialhilfezentrum der christlichen Kirchen die Angehörigen der Verhafteten, die in der Zeit der Diktatur verschwunden waren, getroffen, um ihrem Verlangen nach Bestrafung der schweren Menschenrechtsverletzungen Ausdruck zu geben. Aber auch sie waren nicht mehr als vielleicht Tausend. Wer Zeit hatte, verfolgte den Bericht aus dem House of Lords in London meist ohne große Erregung auf einem Fernseher in einem der vielen Cafés und Restaurants und versuchte, den Sinn dessen zu begreifen, was die Lordrichter da vortrugen.
La Hora, die erste Zeitung, die schon eine Stunde nach dem Urteilsspruch mit einer Sonderausgabe auf dem Markt war, trug in großen Lettern den Titel „Pinochets Teilsieg“. Und das ist ganz offenbar auch die Marschrichtung, die in der herrschenden öffentlichen Meinung ausgegeben wird, um sich über die an sich vernichtende Niederlage hinwegzutrösten, die das Urteil schon deswegen bedeutet, weil Pinochet vorläufig in London bleiben muß.
Pinochets Anwälte und die Anwälte der chilenischen Regierung, die hauptsächlich von der Christdemokratischen und der Sozialistischen Partei getragen wird, hatten bis zum Vorabend eisern die Prinzipien der Souveränität und der Territorialität beschworen. Nach ihrer Auffassung dürften Verbrechen nur in dem Land, in dem sie geschehen sind, verfolgt und abgeurteilt werden. Wohl wissend, daß nichts schwieriger sein dürfte, als dem Senator Pinochet in Chile den Prozeß zu machen. Die Lordrichter haben aber nun mit sechs Stimmen gegen eine Stimme entschieden, daß die internationale Vereinbarung gegen die Folter, die 1988 von Großbritannien und – noch unter Pinochets Diktatur – von Chile unterschrieben wurde, wenigstens ab diesem Zeitpunkt auch international angewendet werden kann. Das heißt, daß Pinochet für die Zeit nach 1988, also für die letzten zwei Jahre seiner Diktatur, keine Immunität mehr genießt. Dies ist, wie amnesty international mit Recht betont, ein Meilenstein in der internationalen Rechtsgeschichte.
Gleichwohl machen die ersten Kommentare in der chilenischen Presse daraus einen Sieg für Pinochet. Sie vergleichen einfach die Zahl und die Schwere der ihm zur Last gelegten Verbrechen vor und nach 1988 und ziehen den Schluß, daß er sich für das meiste von dem, was ihm vorgeworfen wird, nicht mehr zu verantworten braucht. Sie vergessen dabei völlig, daß sich Chile nach der Logik, die noch gestern für sie gegolten hat, darauf vorbereiten müßte, ihn wegen dieser vielen und schwereren Verbrechen zur Rechenschaft zu ziehen.
Die Zeitungen, die Radiostationen, die Fernsehkanäle, sie machen aus dem Londoner Urteil aber nicht nur einen Sieg Pinochets, sondern auch einen Sieg des ganzen Landes. Weil die Regierung des christdemokratischen Präsidenten Eduardo Frei und des sozialistischen Außenministers Jorge Insulza sich von Anfang an darauf eingelassen hat, die Verteidigung Pinochets zu ihrer eigenen Sache zu machen, können Presse, Rundfunk und Fernsehen, in denen die rechte Opposition zu weit mehr als 90 Prozent das Sagen hat, unbekümmert so tun, als ob die Sache Pinochets die Sache ganz Chiles sei und umgekehrt. Die Frage, die am Vorabend des Urteils in allen Fernsehkanälen am häufigsten an Abgeordnete oder Presseleute gestellt und selten in dieser Form zurückgewiesen wurde, war: „Was glauben Sie, wird passieren, wenn das Urteil gegen Chile ausfällt?“
Gegen Chile! Eine gar nicht so kleine Minderheit dieses Landes, die nicht nur anerkennt, daß es Mord und Folter gegeben hat, sondern das auch für richtig hält und in Zukunft wieder für Mord und Folter als Mittel der Politik eintreten würde, eine Minderheit, zu der praktisch alle führenden Militärs, sehr viele Unternehmer und sogar einige Leute der Kirche zählen, hat es geschafft, daß die Interessen der Nation mit den Interessen des Ex-Diktators gleichgesetzt werden. Bisher hat es von den Trägern der Diktatur nicht ein einziges Wort der Reue oder gar der Bitte um Verzeihung gegeben. Die Militärs leben und arbeiten in Institutionen, die dazu benutzt worden sind, Mordaktionen systematisch zu planen, und zwar nicht im Feuereifer eines blutigen Putsches, sondern Monate und Jahre danach, als niemand mehr behaupten konnte, daß die Macht der Diktatur gefährdet gewesen wäre.
Wenn die Regierungsparteien nicht spuren, wird gegen sie der Verdacht erhoben, daß sie die Interessen des Vaterlandes verraten. Ricardo Lagos, der Präsidentschaftskandidat der Sozialistischen Partei für die Wahlen im Dezember, der nach den Meinungsumfragen weit vorn liegt, mag noch so sehr schwören, daß auch er die Linie der Regierung vertritt; es vergeht kein Tag, an dem nicht Zweifel erhoben werden, ob das Land unter ihm regierbar sein werde, nur weil es in seiner Partei auch Leute gibt, die bei dem organisierten Vergessen nicht mitmachen wollen und eine Verurteilung Pinochets für richtig und notwendig halten würden.
Am Tag der Luftwaffe, der zwei Tage vor dem Londoner Urteil gefeiert wurde, hat General Rojas Vender, Oberbefehlshaber dieser Teilstreitkraft, in einer Rede gesagt, daß das Land im Falle eines Urteils „gegen Chile“ in derselben Situation sei wie 1973, also direkt vor dem Putsch. Das war barer Unsinn, zeigt aber die Mentalität der führenden Militärs. Der Ex-Admiral Martínez Busch, von der Marine designierter – also nicht vom Volk gewählter – Senator hat am Vorabend des Londoner Urteils verlangt, ein Urteil „gegen Chile“ mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien und Spanien zu beantworten.
Dazu wird es nicht kommen. Weil Pinochet „gesiegt“ hat. Zum Glück nur teilweise.

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