Politisch-theoretischer Glücksfall
„Vom Rand ins Zentrum“ – Vizepräsident Álvaro García Linera über Staatlichkeit und politische Umwälzungen in Bolivien
Der sehr sorgfältig von Stephan Rist (Universität Bern) edierte Band „Vom Rand ins Zentrum“ enthält fünf wissenschaftlich-politische Abhandlungen aus den Jahren von 2000 bis 2010. Abgerundet wird er mit einem längeren Interview, das Rist und Andreas Simmen mit dem Autor im Januar 2011 führten. Die in den Aufsätzen behandelten Themen sind vielfältig: Es geht um den Niedergang des neoliberalen Wirtschafts- und Politikmodells in Bolivien und den Aufstieg verschiedener sozialer Bewegungen, vor allem der Hauptströmungen der indigenen Bewegungen. Insbesondere aber widmet sich García Linera der Analyse der ethnisch-sozial stark fragmentierten bolivianischen Gesellschaft sowie des Staates, oder besser, der Veränderung von Staatlichkeit im Übergang zu einer neuen Gesellschaftsordnung seit dem Amtsantritt von Evo Morales 2006. Dessen Regierung hat den Anspruch, eine Gleichberechtigung der „Nationen“ bzw. „Ethnien“ unter dem Dach eines „plurinationalen Staates“, bei weitgehender Autonomie der Provinzen, Kommunen und Dorfgemeinschaften zu ermöglichen. Zudem strebt sie eine soziale Grundsicherung sowie die ökonomische Besserstellung aller Bolivianer_innen an. Eine neue Gesellschaft also, die nicht nur einen nach innen gerichteten Entkolonialisierungsprozess zu vollziehen hat, sondern auch gegenüber dem „Außen“ die volle politische und ökonomische Souveränität herzustellen versucht. Auf diese Weise können beispielsweise die Einnahmen aus den reichhaltigen einheimischen (natürlichen) Ressourcen, wie etwa Erdgas, der eigenen Bevölkerung zu Gute kommen.
Um den Staat zu begreifen, bezieht sich García Linera auf so unterschiedliche Denker wie Robespierre, Marx, Gramsci, Bourdieu, Elias, Poulantzas, Foucault und – den bolivianischen Marxisten René Zavaleta. Staat versteht er als eine vielgliedrige, materielle und immaterielle Erscheinung: „als politische Wechselbeziehung sozialer Kräfte“, als „institutionelle Materialität“ und „generalisierte kollektive Idee oder Überzeugung“.
Ihn interessiert, wie sich diese verschiedenen Elemente des bolivianischen Staates transformiert haben. Und ebenso: Welche Akteur_innen diese Veränderungen bewirken können, und mit welchem Erfolg. Diese Problematik kann keineswegs als bloß akademisch-theoretisch missverstanden werden. Sie berührt wesentliche Fragen früherer Revolutionsprozesse und ist eine vitale Herausforderung für die aktuelle bolivianische Regierung. Diese hat sich sowohl mit radikal „anti-etatistischen“ Positionen auseinanderzusetzen, die das Einnehmen und Nutzen staatlicher Machtpositionen als per se „verräterisch“ oder „abweichlerisch“ denunzieren, als auch mit so genannten „neo-desarrollistischen“ Positionen. Letztere neigen dazu, den „Staat“ als relativ neutrales Instrument zur wirtschafts- und gesellschaftspolitischen Steuerung zu betrachten. Wer in dieser Hinsicht differenzierte Erörterungen – jenseits dieser beiden Extrempositionen – am Beispiel des bolivianischen Revolutionsprozesses lesen möchte oder sich schlicht für die lateinamerikanische „Linkswende“ und ihre theoretische Erklärung interessiert, wird mit Gewinn zum Buch von García Linera greifen.
Über soziale Bewegungen seines Landes schreibt er als Insider: Eindrucksvoll legt er dar, wie etwa bei dem gegen die Privatisierungsabsichten der damaligen Regierung gerichteten „Wasserkrieg“ im Jahr 2000 oder dem „Krieg um das Erdgas“ zwei Jahre später tage- und wochenlang „die territoriale Macht vom Staat auf die cabildos“ (Basisdemokratische Vollversammlungen der Räte) verlagert wurde. Möglich wurde dies nur durch Rückgriff auf Rotationsprinzipien der Produktionsorganisation in Dorfgemeinschaften. Diese vorkolonialen kollektiven Formen der Arbeitsteilung ermöglichten die zeitweise Freistellung von Bevölkerungsteilen der Dorfgemeinschaft, um allgemeinpolitische oder infrastrukturelle Aufgaben zu bewältigen.
Bemerkenswert sind auch die Ausführungen über die Rolle der bewaffneten Staatsorgane im Prozess der „Neugründung“ des Landes. Für García Linera hat sich in Militär und Polizei eine „Umorientierung“ vollzogen. Durch ihre Stabilität und Treue hätten sie sogar einen entscheidenden Beitrag zur „temporären Stabilisierung des neuen Machtblocks“ geleistet. Diese optimistische Einschätzung führt er auf die wiedererlangte „Vorhersehbarkeit und Sicherheit“ unter der Regierung Morales, beispielsweise im Hinblick auf pünktliche und angemessene Entlohnung, sowie auf die frühe strategische Ausrichtung der Armee auf demokratische Aufgaben zurück. Hier verweist er unter anderem auf logistische Hilfe bei den neuen Sozialtransfers oder beim Straßenbau.
Sicherlich, vor dem Hintergrund zunehmender Konflikte zwischen einzelnen sozialen Bewegungen und der Regierung im Laufe des Jahres 2011 hätte manches noch mehr problematisiert werden können. Trotzdem sind die von García Linera vorgelegten Analysen und theoretischen Konzepte wertvoll: Sie geben nicht nur Auskunft über die gegenwärtigen Transformationsprozesse von Gesellschaft und Staat in Bolivien. Vor allem können sie auch als ein wichtiger Beitrag zu einer authentisch lateinamerikanischen Gesellschaftsanalyse angesehen werden.
Álvaro García Linera // Vom Rand ins Zentrum. Die Neugestaltung von Staat und Gesellschaft in Bolivien // Rotpunktverlag // Zürich 2012 // 300 Seiten // 28,00 Euro // www.rotpunktverlag.ch