Ecuador | Nummer 371 - Mai 2005

Präsident Gutiérrez wegdemonstriert

Interview mit dem ecuadorianischen Soziologen Luis Verdesoto

Die LN sprachen mit Verdesoto in La Paz über die Hintergründe der aktuellen politischen Krise in Ecuador sowie die Perspektiven des Landes nach dem Sturz des Präsidenten Lucio Gutiérrez.

Dirk Hoffmann

Als Auslöser für die aktuelle politische Krise in Ecuador gilt die Entscheidung des Obersten Gerichtshofes, der am 31. März diesen Jahres die Aufhebung der Korruptionsverfahren gegen die Ex-Präsidenten Abdalá Bucaram und Gustavo Noboa sowie den Ex-Vizepräsidenten Alberto Dahik verfügt und ihnen damit die Rückkehr nach Ecuador ermöglicht hatte. Die Zusammensetzung des Obersten Gerichtshofs war Anfang Dezember 2004 auf Wunsch des Präsidenten verändert worden, was von der Opposition als Verfassungsbruch bezeichnet wird. Sind dies die tatsächlichen Ursachen der Krise, oder eher die sichtbaren Auswirkungen?

Den Beginn der Krise setze ich schon 1995 an, mit dem Krieg gegen Peru. Seit der anschließenden Dollarisierung des Landes im Jahr 2000 war insbesondere die Mittelschicht einem langsamen Prozess der Verarmung ausgesetzt. Diese wurde lediglich durch den hohen Erdölpreis in den letzten zwei Jahren etwas abgeschwächt. Rund 2,5 Millionen EcuadorianerInnen haben in den letzten Jahren das Land verlassen. Damit ist eine Menge an sozialem Kapital verloren gegangen. Dazu kommt eine „Krise der Moral“, gekennzeichnet durch die verstärkte Wahrnehmung der politischen Korruption und die allgemeine Krise der Parteien in der Andenregion.
Gleichzeitig ist die Mittelschicht – speziell die von Quito – traditionell an der Aufrechterhaltung der institutionellen Ordnung interessiert. Die Rückkehr des Ex-Präsidenten Abdalá Bucaram und der Verfassungsbruch von Gutiérrez ließen sie befürchten, die chaotischen Zustände der Regierungszeit Bucaram von 1996 würden sich wiederholen.
Ein weiterer wesentlicher Grund für die Ausweitung der Krise ist die Ineffizienz der Politik, die drei bis vier Monate gebraucht hat, um einen Ausweg aus der Situation zu finden, als es bereits zu spät war. Dies führte letztlich zu den größten Demonstrationen, die Ecuador in den letzten Jahren gesehen hat. Angeführt wurden sie hauptsächlich von einem breiten Segment der bereits angesprochenen Mittelklasse.
Doch das Spektrum des Protestes ist breit und die Forderungen der Demonstranten haben sich teilweise radikalisiert. Urbane Sektoren der Bevölkerung fordern die Auflösung des Kongresses und Neuwahlen. Eine Bewegung regionaler politischer Führer verlangt ebenfalls eine politische Säuberung von Regierung und Parlament.

Nach mehrtägigen Protestmärschen und Demonstrationen, vor allem in Quito, hat nun der Kongress, der bisher von einer Regierungsmehrheit dominiert wurde, die Absetzung von Lucio Gutiérrez verfügt. Vorausgegangen waren massive Polizeieinsätze gegen die DemonstrantInnen. Die Streitkräfte haben dem neuen Präsidenten und bisherigen Vizepräsidenten Alfredo Palacio ihre Unterstützung zugesichert. Dieser verkündet „das Ende der Diktatur“ und bezeichnet sich als „die einzige Hoffnung des Landes“. Ist damit die politische Krise Ecuadors überwunden?

Nein, keineswegs. Denn die alten Machtstrukturen bestehen noch immer. Bei den letzten Maßnahmen von Gutiérrez im Anschluss an die Kommunalwahlen vom November 2004, die seiner Partei eine herbe Niederlage beigebracht hatten, handelte es sich ganz klar um einen Rückschritt, der die Macht der alten politischen Eliten im Kongress wieder gestärkt hat. Diese sind durch Vetternwirtschaft und Korruption diskreditiert. Zentrales Element der Maßnahmen ist der erneuerte Pakt mit der Roldoisten-Partei PRE, der Partei des Ex-Präsidenten Abdalá Bucaram, der nach einer kurzen aber skandalösen Amtszeit Anfang 1997 wegen „geistiger Verwirrung“ ebenfalls abgesetzt wurde.

Wie könnte ein Ausweg aus der Krise aussehen?

Es gibt vier Hauptelemente, die für die Zukunft fundamental sind. Da ist zum einen das Verhalten der politischen Eliten und Unternehmer des Tieflandes um Guayaquil. Die sind vermutlich mit der Amtsenthebung von Gutiérrez bereits befriedigt. Palacio kommt aus der Küstenregion und hat dorthin auch gute Verbindungen. Der zweite Punkt betrifft die USA, die im Rahmen des „Plan Colombia“ das nördliche Grenzgebiet Ecuadors als logistische Basis benutzen. Hier haben die Militärs ein deutliches Interesse, mehr Autonomie gegenüber den USA zu gewinnen. Der dritte wichtige Punkt ist die Fähigkeit der politischen Parteien, sich selbst neu zu organisieren und ihre Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Der letzte Punkt betrifft die Fähigkeit von Alfredo Palacio, eine funktionierende und allgemein akzeptierte Regierung auf die Beine zu stellen.

Die Einsetzung des Vizepräsidenten Palacio als neuen Präsidenten des Landes war nur möglich geworden, nachdem die Streitkräfte dem abgesetzten Ex-Präsidenten Gutiérrez ihre Unterstützung aufgekündigt hatten. Seine erste Pressekonferenz hielt Alfredo Palacio im Verteidigungsministerium ab. Er setzte den Oberkommandierenden der Streitkräfte als Verteidigungsminister ein. Was sagt das über die Rolle der Streitkräfte in der zukünftigen Politik des Landes aus?

Im Falle von Ecuador ist es wichtig, die besondere Rolle des Militärs im historischen Kontext zu verstehen. Das Militär genießt seit dem Übergang zur Demokratie 1979 großes Ansehen in der Bevölkerung. Nach der Kirche ist dies die Institution, die bei der Bevölkerung das meiste Vertrauen genießt – deutlich mehr als die Parteien oder das Parlament. So ist beispielsweise der Bürgermeister von Quito, Paco Moncaya, der bei den Kommunalwahlen mit großer Mehrheit gewählt wurde, ein ehemaliger General mit Doktortitel. Unter Gutiérrez sind viele Ex-Militärs in die öffentliche Verwaltung des Landes übernommen worden. Und neben der bestehenden US-Luftwaffenbasis in Manta hat Gutiérrez den USA einen weiteren Luftwaffenstützpunkt im Amazonastiefland bei Tena überlassen. Im Gegenzug dafür erhielt er praktisch einen Freibrief für seine Politik, was ihm unter anderem erlaubte, auf die Allianz mit den Indígenas zu verzichten. In der aktuellen Krise wird den Streitkräften zu Gute gehalten, dass sie sich nicht an der Repression gegen die Demonstrierenden beteiligt haben, was ihr öffentliches Image als Garant der Demokratie gestärkt hat. Präsident Gutiérrez musste zu seinem Schutz auf die Marines zurückgreifen. Hat das Militär in der Vergangenheit eher die weithin akzeptierte Rolle des „stillen Wächters“ gespielt, wird seine Rolle in der Politik nun vermutlich deutlich aktiver werden.

Sowohl im Wahlkampf von Lucio Gutiérrez als auch in den ersten sieben Monaten seiner Amtszeit hat die indigene Bewegung Ecuadors eine Schlüsselrolle im Land inne gehabt. Bei den aktuellen Protesten war von der Bewegung der Indígenas praktisch nichts zu sehen. Wie ist das zu erklären?

Die indigene Bewegung hat Gutiérrez durch ihre Unterstützung und politische Allianz an die Macht gebracht und mit ihm regiert. Davon kann man sich nicht so einfach reinwaschen. Die Krise der bis dahin politisch völlig unerfahrenen Indígena-Bewegung hat zwei Momente: Zum einen das weitgehend gescheiterte Projekt der Modernisierung der politischen Repräsentation. Zum anderen hat die Regierungsbeteiligung eine wertvolle Erfahrung bedeutet und dazu geführt, sich wieder stärker von den Parteien zu entfernen. Die Bewegung befindet sich im Wiederaufbau. Momentan unterstützen sie die Forderung der Auflösung des Kongresses, die aber nicht erfolgreich sein wird.

Der neue Präsident des Landes ist ein Herzspezialist, kein Politiker. Bisher scheint er entschieden ohne die Parteien, und das heißt praktisch gegen das Parlament, regieren zu wollen – „für und mit dem Volk“. Palacio sprach auch von der „Neugründung des Landes“. Wie will er das alleine bewerkstelligen? Was ist tatsächlich von der neuen Regierung zu erwarten?

Die Chance für Palacio besteht darin, sich in der allgemeinen Unsicherheit als das Zentrum der Stabilität zu präsentieren. Er hat die Einberufung einer Verfassungsgebenden Versammlung vorgeschlagen und eine Volksabstimmung über Reformmaßnahmen angekündigt. Angesichts der fehlenden Glaubwürdigkeit des Parlamentes kann es ihm so gelingen, eine erfolgreiche Übergangsregierung zu bilden. Dies scheint mittlerweile fast ein Modell für den Andenraum zu sein. Wichtige Punkte werden neben dem Übergang zu institutioneller Stabilität ein offeneres, aber nicht völlig liberales Entwicklungsmodell sowie die Neugestaltung der territorialen Machtverhältnisse sein. Dezentralisierung und Autonomie-Diskussion sind hier die Stichworte. Eine zentrale Frage wird auch die internationale Rolle Ecuadors zwischen Peru und Kolumbien sein.

Welche Parallelen sehen Sie zur Situation in Bolivien, wo im Oktober 2003 durch einen Aufstand wichtiger Teile der Bevölkerung die Regierung ebenfalls zunächst auf repressive Maßnahmen setzte, Präsident Sánchez de Lozada dann aber letztlich aus dem Land flüchten musste? Wie in Ecuador wurde auch dort der parteilose Vizepräsident zum neuen Präsidenten des Landes ernannt.

Die aktuelle Situation in Ecuador ist vergleichbar mit der in Bolivien 2003 – gekennzeichnet durch das Kapitulieren der Politik, das Zurückgreifen auf Gewalt seitens der Regierung und die Abwesenheit jedweder politischer Sensibilität des Präsidenten. Ebenfalls vergleichbar sind die absolute Ineffizienz der Politik, die sich in der Unfähigkeit zu tragfähigen Kompromissen und Vereinbarungen ausdrückt, sowie die allgemeine Krise der politischen Parteien und der hohe Grad der Illegitimität beim Vorgehen des Kongresses.

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