Haiti | Nummer 572 - Februar 2022 | Politik

PREMIER HENRY IN DER BREDOUILLE

Der Verdacht der Mittäterschaft gegen Haitis Regierungschef 
erhärtet sich

Haiti nähert sich unaufhaltsam dem 7. Februar. An diesem Tag wäre das Mandat des Präsidenten Jovenel Moïse nach dessen eigenem Verständnis ausgelaufen – die Opposition datierte das Mandatsende bereits auf den 7. Februar 2020. Nach einem fehlgeschlagenen Attentat am 7. Februar 2021 wurde Moïse bekanntlich am 7. Juli ermordet. Die Aufklärung steht weiter aus, aber der Verdacht, dass Premierminister Ariel Henry in das Komplott involviert war, erhärtet sich. Die ursprünglich für vergangenen Herbst geplanten Präsidentschaftswahlen wurden auf unbestimmte Zeit verschoben.

Von Martin Ling

Die Luft wird immer dünner für Ariel Henry. Haitis 72-jähriger Regierungschef ist zwar politisch der mächtigste Mann, seitdem Jovenel Moïse in seinem eigenen Palast von einem Mordkommando erschossen wurde, doch dieses Geschehen belastet Henry mehr und mehr. Er hat mit Dementis alle Hände voll zu tun, weil er immer wieder von der Justiz und mutmaßlich Tatbeteiligten als ein wichtiger Drahtzieher genannt wird.

Zwei neue Verhaftungen im Fall der Ermordung von Moïse bringen Henry weiter in die Bredouille. Auf die Aussagen von Ex-Senator John Joel Joseph wird mit Spannung gewartet, die Aussagen des ehemaligen Drogenhändlers Rodolphe Jaar belasten Henry bereits schwer. Joseph wurde mit internationalem Haftbefehl gesucht und direkt nach dem Attentat als ein Hauptverdächtiger ausgemacht. Am 14. Januar wurde er in Jamaica verhaftet, wie Dennis Brooks, Sprecher der Jamaica Constabulary Force, mitteilte. Der damalige Chef der Nationalen Polizei in Haiti, Léon Charles, behauptete, dass Joseph Waffen geliefert und Treffen organisiert hätte. Brooks lehnte es ab, sich dazu zu äußern, ob die Verhaftung auf Ersuchen des US-amerikanischen FBI erfolgte, das selbst Ermittlungen zu dem Attentat durchführt.

Während Joseph noch schweigt, hat Jaar aus dem Nähkästchen geplaudert. Der ehemalige Drogenhändler hat der New York Times (NYT) ein ausführliches Interview gegeben. Jaar ist nicht irgendwer, zwölf Jahre arbeitete er als informeller Mitarbeiter für die US-Drogenbehörde DEA und bis 2016 saß er in den USA eine jahrelange Haftstrafe wegen Drogenhandels ab. Danach folgte die Abschiebung nach Haiti, wo er zuletzt als Eigentümer einer Brathähnchen-Kette wirtschaftlich aktiv war, bis seine Dienste rund um das Mordkomplott angefragt wurden. Er machte nach seinen eigenen Angaben mit und flüchtete im Anschluss in die Dominikanische Republik, die sich mit Haiti bekanntlich die Insel Hispañola teilt. Dort wurde er am 7. Januar verhaftet, wohl auf Tipp des ehemaligen kolumbianischen Militäroffiziers Mario Antonio Palacios, der in Miami seit Anfang Januar wegen des Mordkomplotts vor Gericht steht. Palacios wurde bei einem Zwischenstopp in Panama auf dem Weg von Jamaica nach Kolumbien verhaftet und in die USA überstellt.

„Henry ist mein guter Freund, ich habe ihn völlig unter Kontrolle.“

Noch auf der Flucht bekannte Jaar in seinem Interview mit der NYT, bei der Finanzierung und Planung des Komplotts geholfen zu haben. Angefragt wurde er von Félix Badio, dem ehemaligen Direktor der Antikorruptionseinheit in Haiti, der als Hauptverdächtiger gilt und weiterhin untergetaucht ist. Kurz vor dem Mord an Moïse habe Badio ihm gesagt, dass Ministerpräsident Henry nach dem Sturz des Präsidenten ein nützlicher Verbündeter sein würde. „Er ist mein guter Freund, ich habe ihn völlig unter Kontrolle.“ Das soll Badio Jaar gesagt haben, als Moïse den Neurochirurg Henry zum Premierminister ernannt hat– am 5. Juli, eine seiner letzten Amtshandlungen. In den Stunden nach dem Attentat, als haitianische Sicherheitskräfte des Mords verdächtige kolumbianische Söldner inhaftierten, hätte Badio den Premier Henry um Hilfe bei der Flucht gebeten, die ihm Henry zugesagt hätte.

Drei an den Ermittlungen beteiligte haitianische Beamte haben bestätigt, dass Henry mehrfach mit Badio in Kontakt stand. Die Beamten plauderten das Dienstgeheimnis aus, dass Henry ein offizieller Verdächtiger in den Ermittlungen wäre, wenn er nicht an der Spitze der Regierung stehen würde. Jaar sagte, er glaube, dass das Ziel des Komplotts die Absetzung und nicht die Ermordung des Präsidenten gewesen sei, und dass er in ein größeres politisches Spiel verwickelt worden sei, das er noch nicht ganz verstehe.
Laut Jaar wollten die Verschwörer eine ehemalige Richterin am Obersten Gerichtshof, Windelle Coq-Thélot, als neue Präsidentin vereidigen. Seine Darstellung legt nahe, dass sie bei ihrem Putschversuch auf die Unterstützung wichtiger Teile des haitianischen Staates, einschließlich der Sicherheitskräfte, hofften. Die Pläne, den Präsidenten nicht zu töten, sondern ihn gefangen zu nehmen, wurden jedoch durchkreuzt, als bewaffnete Männer in sein Haus einbrachen und ihn in seinem Schlafzimmer ermordeten. Zu der Frage wie und warum sich der Plan änderte – von der Erzwingung des Rücktritts des Präsidenten zu dessen Ermordung – sagte Jaar, er wisse es nicht.

Premierminister Henry übt sich weiter in Dementis und hält alle Aussagen seinerseits für ein Machtkomplott gegen ihn. Die NYT hatte derweil auch veröffentlicht, dass der ermordete Präsident Moïse an einem Verzeichnis mächtiger Politiker*innen und Geschäftsleute gearbeitet hätte, die in den Drogenhandel in Haiti verwickelt waren. Demnach habe Moïse die Absicht gehabt, das Dossier der US-Regierung zu übergeben, so drei hochrangige haitianische Berater und Beamte, die mit der Erstellung des Dokuments beauftragt waren.

Die Liste, an der Moïse arbeitete, wiederzubeschaffen, hatte oberste Priorität, gestanden einige der gefassten Auftragskiller bei den Verhören, wie die besagten Beamten, die mit den Ermittlungen vertraut waren, der NYT mitteilten.

Fahrplan für Neuwahlen bleibt offen

Henry selbst entkam am Neujahrstag einem Attentat im Norden Haitis. Bewaffnete Banden hatten ihn zuvor gewarnt, an den Feierlichkeiten zum Unabhängigkeitstag in der Stadt Gonaïves teilzunehmen. Einige der Banden, die große Teile des Landes kontrollieren, sollen enge Verbindungen zu Moïse gehabt und Rache für dessen Ermordung geschworen haben.

Von Henrys Versprechungen kurz nach seinem Amtsantritt ist bisher nicht viel wahr geworden. Er wollte die Hintermänner des Präsidentenmordes aufspüren und vor Gericht bringen. Zudem sollten die seit zwei Jahren überfälligen Parlamentswahlen nachgeholt werden und überdies die Präsidentschaftswahlen. Beides ist nicht in Sicht und der Hinweis auf die prekäre Sicherheitslage seitens Henry auch nicht unbegründet. Für etwaige Präsidentschaftswahlen haben sowohl Ex-Präsident Michel Martelly, der politische Ziehvater von Moïse, und seine Witwe Martine Moïse, Interesse bekundet. Henry klammert sich an das Abkommen vom 11. September 2021 mit einem Teil der politischen Parteien und einem Teil der Zivilgesellschaft über eine Interimsregierung unter seiner Führung. Demgegenüber fordern progressive zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich im Abkommen von Montana zusammengeschlossen haben, eine Übergangsphase ohne Henry. Als Interimschef steht der Ex-Zentralbankchef Fritz Alphonse Jean bereit. Ein Ausweg aus dem Patt für einen grundlegenden Wandel zum Besseren zeichnet sich in Haiti nicht ab. Und ob bis zum 7. Februar eine Interimsregierung installiert ist und der Fahrplan für Neuwahlen steht, bleibt ebenfalls offen.

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