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„Priorität ist die Demarkierung der Indigenen Gebiete”

Munduruku verteidigen erfolgreich ihre Autonomie

Die Indigene Aktivistin Alessandra Korap vom Munduruku-Volk ist eine der bekanntesten Indigenen Anführerinnen Brasiliens. Ihr Einsatz für die Abgrenzung Indigener Gebiete und die Anzeige illegaler Aktivitäten wie Goldschürfen, Bergbau und Extraktivismus hat ihr internationale Anerkennung eingebracht: Sie war eine der Gewinner*innen des Goldman Environmental Prize 2023, der als „Nobelpreis” für Umweltfragen in Süd- und Mittelamerika gilt, und erhielt 2020 den Robert F. Kennedy Human Rights Award für ihren Einsatz für die Verteidigung der Gebiete, Kultur und Rechte der Indigenen Völker Brasiliens. Sie berichtet LN von ihrem zehnjährigen Kampf um ihr Territorium und auch von den wichtigsten Forderungen, die sie als Angehörige des Munduruku-Volkes an die COP30 in Belém stellt.

Karina Tarasiuk
Alessandra Korap ist seit zehn jahren Aktivistin für Rechte Indigener Völker (Foto: João Paulo Guimarães)

Alessandra wurde in der Gemeinde Itaituba in der Region Médio Tapajós im Bundesstaat Pará geboren. Sie gehört zum Volk der Munduruku, das aus etwa 14.000 Menschen besteht, die in den Bundesstaaten Pará, Amazonas und Mato Grosso leben. Der Bundesstaat Pará sei ein Brennpunkt der Abholzung, sagt sie, „aufgrund von Farmen, Wasserkraftwerken und Bergbau. Es ist die Region mit der höchsten Abholzungsrate hier im Amazonasgebiet”.
Bis 2015 widmete Alessandra ihr Leben ihren Kinder, ihrem Mann und dem Haushalt. Sie hatte einen einfachen Alltag im Dorf nahe der Stadt Itaituba. Aber sie begann zu merken, dass sie ihre Fischerei- und Nahrungsbeschaffungsgebiete im Wald verlor – eine immer deutlicher werdende Verknappung der natürlichen Ressourcen, die das Leben in den Dörfern sicherten.


Sie machte sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder, aber „verstand nichts“ von den Rechten der Indigenen. „[Früher] interessierte mich [der Kampf] nicht, weil ich mich um meine Kinder kümmern wollte. Aber mit dieser Invasion, dem immer stärkeren Wachstum der Stadt, interessierte ich mich viel mehr dafür, mich [dem Kampf] anzuschließen. Ich wollte wissen, was um uns herum vor sich ging.”
Auf der Suche nach Wissen und Gerechtigkeit begann Alessandra, an Kursen teilzunehmen und sich an Diskussionen mit den Schamanen und anderen Führer*innen (Kaziken) zu beteiligen. Am Anfang hatte sie viele Zweifel und Fragen. Als sie jedoch erkannte, dass die Rechte ihres Volkes in ihrem eigenen Gebiet verletzt wurden, entschied sie sich, sich aktiv am Kampf zu beteiligen. Als Frau war dies eine besondere Herausforderung, da das Volk der Munduruku patriarchalisch ist. Vor zehn Jahren hielt das Volk der Munduruku es nicht für so wichtig, dass Frauen ein Rederecht hatten – sie sollten zu Hause bleiben und sich um die Familie kümmern, nicht an Versammlungen teilnehmen. Aber Alessandra stellte diese Vorstellung in Frage: Sie wollte zeigen, dass Frauen sehr wohl an den Versammlungen in den Dörfern teilnehmen konnten – und mussten.

Sie begann, still zu den Versammlungen zu gehen, blieb „in der Ecke stehen und hörte nur zu”. Nach und nach fühlte sie sich wohler dabei, an den Diskussionen teilzunehmen. Und mehr noch: Sie gewann das Vertrauen anderer Anführer und wird heute auch zu Versammlungen anderer Völker eingeladen. „Heute wird mir großer Respekt entgegengebracht. Heute kommen [die Chefs] zu mir, sie wollen wissen, was los ist. Das bringt uns dazu, innerhalb des Territoriums als Kollektiv an unserer Stärkung zu arbeiten”, erzählt sie. Inzwischen nutzt sie ihre Stimme aktiv, um ihr Gebiet zu verteidigen: „Ich bin nicht groß, ich bin sehr klein. Aber wenn ich mich mit meiner Stimme, meiner Art zu sprechen, für etwas einsetze, entwickle ich eine große Kraft.“

Die Demarkierung Indigener Gebiete als Hauptthema

Als Alessandra begann, sich zu organisieren, hatte das Volk der Munduruku bereits Pläne, seine Gebiete zu kartografieren und ihre Anerkennung durch das Gesetz sicherzustellen. Da begann Alessandra zu verstehen, wie wichtig diese Gebiete nicht nur für das Volk, sondern auch für die Umwelt, die Tiere, die Flüsse und die Wälder sind. Sie begriff, dass es sich nicht nur um einen Kampf innerhalb ihres Volkes handelte. Es war ein weltweiter Kampf. „Der Kampf muss von uns allen geführt werden“, erklärt sie, „denn es gibt nur einen Planeten. Er ist der Ort, an dem wir atmen, an dem wir leben“. Und die einzige Möglichkeit, den Schutz dieser Gebiete zu gewährleisten, sei die Überwachung und Demarkierung der Gebiete.

Kurz gesagt, ist ein Indigenes Gebiet laut der Bundesverfassung von 1988 „ein abgegrenztes und geschütztes Gebiet für den dauerhaften Besitz und die ausschließliche Nutzung durch Indigene Völker”. Diese Gebiete sind „als Erbe der Union anerkannt und dienen der Erhaltung ihrer Kultur, Traditionen, natürlichen Ressourcen und Formen der sozialen Organisation“. Die Demarkierung dieser Gebiete ist ein 1996 gesetzlich geregeltes Verfassungsrecht, das die Grenzen eines traditionell von Indigenen Völkern bewohnten Gebiets festlegt und kennzeichnet. Mit der Demarkation soll „die Selbstbestimmung, Autonomie und der Schutz der Rechte der Indigenen Völker“ sowie ihre „aktive Beteiligung an der Verwaltung und Erhaltung dieser Gebiete“ gewährleistet werden, definiert die Nationale Stiftung für Indigene Völker (FUNAI).

Im September 2024 erzielte das Volk der Munduruku einen historischen Sieg mit der Demarkation des Indigenengebietes Sawré Muybu, das vom Justizministerium offiziell anerkannt wurde. Aber der Erfolg endet nicht mit der Demarkation. Das Gebiet muss von der FUNAI physisch demarkiert, dem Präsidenten der Republik zur Genehmigung per Dekret vorgelegt und schließlich im Grundbuchamt und im Sekretariat für Bundesvermögen registriert werden. „Denn für Nicht-Indigene muss man Papiere haben, um zu beweisen, dass es einem gehört. Wenn man keine Papiere hat, gehört es einem nicht”, sagt sie. Der Demarkationsprozess schreitet voran, allerdings noch sehr langsam. Deshalb argumentiert Alessandra, dass dies ein vorrangiges Thema auf der COP sein muss, da gerade die Indigenen Völker die wichtigsten Beschützerinnen des Amazonasgebiets und der natürlichen Ressourcen sind. Die Diskussionen auf der COP scheinen jedoch noch nicht ausreichend auf die Ureinwohnerinnen ausgerichtet zu sein und reproduzieren letztendlich oft Strategien des „grünen Kapitalismus“.

Die COP als kommerzielles Ereignis

Es wäre realitätsfern zu behaupten, dass die COP nutzlos sei oder keinen geopolitischen Wert habe. Andererseits wäre es zynisch zu sagen, dass die COP Lösungen präsentiert, die den Forderungen jener entsprechen, die tatsächlich unter der Klimakrise leiden. Denn in Lateinamerika, Afrika und Asien herrscht ein extraktivistischer Neokolonialismus, bei dem multinationale Unternehmen die Territorien, ihre natürlichen Ressourcen und vor allem ihre Bevölkerung ausbeuten, um Gewinne zu erzielen, die sich in den Händen einiger weniger konzentrieren. Und die COP führt Diskussionen, die sich hauptsächlich auf den Globalen Norden konzentrieren, mit Diskussionen über Finanzierungen und „grüne Technologien”.


Darüber hinaus gibt es aber auch das Problem der Zugänglichkeit. Wer kann an diesen Konferenzen teilnehmen? „Stellen Sie sich die Menschen vor, die unter Dürre leiden, die unter Bränden leiden, unter Ausbeutung, die zusehen müssen, wie ihre Fische sterben”, sagt Alessandra. „Oft haben sie keine Möglichkeit, in die Hauptstadt [Belém] zu kommen. Wer kann teilnehmen? Wer kann sich akkreditieren? Und wer kann für die Menschen sprechen?“


Die Konferenz sei „sehr kommerziell geworden, sehr auf den Verkauf ausgerichtet. Wir wollen aber nicht über Handel sprechen, sondern über das Leben, das Territorium, die Klimakatastrophen“, meint sie. Alessandra fühlt sich nur dann auf Konferenzen wie der COP vertreten, wenn Verwandte, also andere Indigene, anwesend sind, die ihre Anliegen kennen und für sie kämpfen können. „Denn ich vertraue den Worten der Regierung nicht. Wir vertrauen den Worten der Regierungsvertreter, die für uns sprechen, nicht, weil sie oft etwas dafür zurückbekommen“, kommentiert sie. Und sie nennt das Beispiel des Emissionshandels.
Der Emissionshandel ermöglicht es einem Verursacher von Treibhausgasemissionen (zumeist aus dem Globalen Norden) durch den Kauf von CO2-Zertifikaten (Kohlenstoffkredite) aus der Reduktion/Speicherung von CO2 bspw. durch Waldschutz/Wiederaufforstung (zumeist im Globalen Süden), die eigenen CO2-Emissionen zu kompensieren.

Kohlenstoffmärkte als neue Form der Kolonialisierung


„Die ganze Welt spricht vom Emissionshandel. Aber für uns sind diese Kompensationsgeschäfte nicht geeignet.” Alessandra glaubt, dass die Akzeptanz des Kohlenstoffmarktes bedeutet, mit der Zerstörung Geld verdienen zu wollen. „Es sind die großen Unternehmen, die zerstören. Sie wollen uns dafür bezahlen, dass wir etwas schützen, damit sie an anderen Orten weiter zerstören können”, kritisiert sie.
Und mit dem Geld aus den Emissionszertifikaten müssten die Indigenen Gemeinschaften sich der Logik des Kapitals unterwerfen. „Ich werde das kaufen müssen, was aus der Stadt kommt, oft Pestizide, Konserven, abgepackte Produkte. Ich muss in der Stadt einkaufen und Gift in mein Dorf bringen, um dort Müll zu produzieren und Krankheiten zu verursachen.“


Während der Kohlenstoffmarkt der Logik des grünen Kapitalismus folgt, einer naiven Vorstellung, dass es eine Art nachhaltige Zukunft auf der Grundlage der kapitalistischen Wirtschaft gibt, wollen die indigenen Völker Autonomie über ihr Land. Sie wollen ihre Territorien mit ihrem jahrtausendealten Wissen pflegen können und nicht von multinationalem Kapital abhängig sein, das aus der Ausbeutung dieser Territorien stammt.
Alessandra erklärt, dass der Emissionshandel eine Art „Kolonisierung des Geistes“ bewirkt: „[Er] dring in die Köpfe der Indigenen Völker ein, um ihnen zu sagen, dass wir die Umwelt retten, dass wir den Planeten retten. Aber diese Rolle übernehmen wir schon seit vielen tausend Jahren.“ Die Indigenen Völker wollen kein Geld aus dem Kohlenstoffhandel, sagt sie. Was sie wollen, ist Respekt und die Demarkierung ihrer Gebiete.

Mehr Respekt und Rechte für die Territorien

„Die Welt muss die Indigenen Völker respektieren“, betont Alessandra. „Als ich anfing, die Welt zu bereisen, dachte ich, dass es nur in Brasilien Indigene Völker gibt. Dann habe ich gemerkt, dass es auch anderswo viele Indigene Völker gibt. Sogar in den Vereinigten Staaten, Kanada, Bolivien und Mexiko.“ In Brasilien gibt es 305 Indigene Ethnien. „Wie reich ist doch unsere Welt, reich an Kulturen, Sprachen und traditionellen Völkern. Ein Reichtum, den es meines Wissens nirgendwo sonst gibt.“
Indigene Völker verfügen nicht nur über kulturellen Reichtum, sondern auch über Wissen von der Heilkraft der Natur, eine „lebende Bibliothek“ – und im Unterschied zur Mehrheitsgesellschaft hören sie auf die Natur. „Wie kann der weiße Mann uns sagen, dass nur das, was in den Büchern steht, gültig ist? Warum respektiert [der weiße Mann] unser Wissen über die Natur nicht? Die Natur spricht doch, während das Buch nicht sprechen kann.” Und deshalb muss die Natur geschützt werden. Weil die ganze Welt Zugang zu diesem Wissen haben muss.


„Nicht ein Wissen, um auszubeuten, sondern um zu bewahren.” Alessandra appelliert an alle Menschen, ob Indigen oder nicht, sich solidarisch mit den Ureinwohner*innen zu zeigen: durch Boykotte von Fleisch aus Abholzung oder von Bergbauunternehmen, die auf Indigenem Land tätig sind, durch das Lernen über verschiedene Völker und durch die Sensibilisierung an Schulen und Universitäten. In der spirituellen Welt der Ureinwohner*innen hat jedes Volk seine eigene Sprache. Wenn man Portugiesisch spricht, die Sprache, die vor fünfhundert Jahren durch die Kolonialisierung aufgezwungen wurde, kann man die Wälder und Flüsse nicht verstehen. Aber wenn die Munduruku ihre Sprache sprechen, können sie die Natur hören und wissen, was geschützt und respektiert werden muss. Bücher sprechen nicht, aber die lebendige Bibliothek doch. Und sie gibt dieses Wissen von Generation zu Generation weiter.
Die Abgrenzung Indigener Gebiete zu gewährleisten, bedeutet nicht nur, das Recht auf Überleben zu garantieren. Es bedeutet auch, sicherzustellen, dass die Natur von Abya Yala weiterhin in Harmonie mit den Völkern kommuniziert, die sich seit Jahrtausenden um sie kümmern.

Karina Tarasiuk ist Journalistin, Dokumentarfilmerin und Schriftstellerin aus Brasilien. Sie studiert Interdisziplinäre Lateinamerikastudien an der Freien Universität Berlin und ist Redaktionsmitglied der Lateinamerika Nachrichten.


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