Ecuador | Nummer 455 - Mai 2012

Protest ist kein Putschismus

Ein Wiedererstarken der sozialen Bewegungen und politischen Polarisierung prägen den Vorwahlkampf in Ecuador

Proteste allenthalben in Ecuador: Sowohl für als auch gegen die Regierung. Die Bevölkerung des Landes scheint selten tiefer als derzeit gespalten gewesen zu sein. Dabei offenbart die sich selbst als „Bürgerrevolution“ bezeichnende Regierung von Präsident Rafael Correa mit organisierten Aufmärschen von Regierungstreuen sowie mit Drohungen und Anfeindungen gegen die als illoyal wahrgenommenen Proteste, dass die Regierung sich von ihren ursprünglich hehren Zielen verabschiedet hat.

Ximena Montaño

„Gewalttätige Gruppen wollen heute Quito besetzen, um das Regime zu destabilisieren. Wir werden jedoch gemeinsam die Demokratie verteidigen“, tönt es alle paar Minuten aus dem Radio. An den Landstraßen durch die Anden wurden Werbeschilder mit ähnlichen Botschaften aufgestellt, die zu einer „Mahnwache für die Demokratie“ aufrufen. Auf der Plaza Grande vor dem Regierungspalast in der Altstadt von Quito stehen Zelte, alle vom gleichen Modell, in denen seit ein paar Tagen die Aktivist_innen der Mahnwache nächtigen. Maschinengewehrsalven vom Band bilden die dazugehörige Geräuschkulisse, eine Aufnahme vom Abend des 30. September 2010, als Sondereinheiten den Präsidenten Rafael Correa aus einem Militärhospital befreiten, wo er von aufständischen Polizisten festgehalten wurde. In den Verlautbarungen der Regierung und ihrer Partei Alianza País ist in den letzten Tagen viel von Putschisten und Destabilisierung die Rede. Man werde die Demokratie zu verteidigen wissen. Der Präsident kündigt eine Massenkundgebung zur Verteidigung der Bürgerrevolution am 22. März an, dem internationalen Tag des Wassers.
Was ist nur los in Ecuador? Gibt es wieder einen Putschversuch? Am Morgen des 22. März kommen zahlreiche Busse aus den Provinzen in die Hauptstadt. Die Regierung hat sie geschickt, sie hat die juntas parroquiales, die kleinsten Verwaltungseinheiten, für diesen Tag zu einem Treffen über ländliches Leben in die Hauptstadt geladen. Das „Treffen“ findet ganz zufällig am Kundgebungsort zur Unterstützung der Regierung statt. Ein paar tausend Leute strömen zum Arbolito-Park, um den Präsidenten sprechen zu hören. Viele von ihnen tragen gleiche T-Shirts: Orgullosamente minero – stolz, ein Bergarbeiter zu sein, steht darauf. Oder Kupfer, das neue Zeitalter für Ecuador. Danke, Rafael. Andere tragen gleich brigadeweise nagelneue Bergarbeiterhelme. Sie seien für Bergbau, das sei gut und bringe Arbeitsplätze, sagen sie auf Nachfrage. Vor gut zwei Wochen, am 6. März, wurde mit der chinesischen Firma ECSA der erste Vertrag für ein Mega-Tagebauprojekt im Süden Ecuadors unterzeichnet. Im Gold- und Kupfertagebau, so Präsident Correa, liege die Zukunft der ecuadorianischen Wirtschaft. Im Mai 2011 gab es in Ecuador 2.257 Bergbaukonzessionen, davon sieben Großprojekte, die von der Regierung als strategisch eingestuft werden – darunter das Projekt Mirador mit ECSA. Die wichtigsten involvierten Konzerne kommen aus Kanada, Großbritannien und China.
Sozialministerin Ximena Ponce steht im Arbolito-Park auf der Bühne und spricht von Revolution. Grüne Fahnen werden geschwenkt, die Musikband Pueblo Nuevo, die Band der Regierung – Sänger ist der Generalsekretär von Alianza País, Galo Mora – stimmt „Comandante Che Guevara“ an, und das anwesende Kabinett singt mit. Dann wird skandiert: „¡El pueblo unido jamás será vencido!“ – „Die vereinte Bevölkerung wird niemals besiegt werden“. Eine kichwa-Indigene aus Cotopaxi sagt, sie sei hier, „weil der Präsident uns geholfen hat. Er hat unsere Gesundheitsversorgung, unsere Schulen verbessert und uns Straßen gebaut“. Da sehe sie es als ihre Pflicht an, dem Präsidenten zu danken durch ihre heutige Anwesenheit. Viele wie sie sind hier, weil ihr Alltag leichter geworden ist, es gibt jetzt in Ecuador einen Staat, der selbst in den abgelegensten Winkeln des Landes mit Infrastruktur und sozialen Dienstleistungen präsent ist.
Bereits zwei Wochen zuvor, am 8. März, waren Zehntausende in den Bussen der Regierung in die Hauptstadt gefahren. Danach waren verschiedene Dokumente durch die Medien gegangen, laut denen Menschen, welche in den Genuss von Sozialleistungen verschiedener Art kamen, gezwungen wurden, an der offiziellen Kundgebung teilzunehmen. Verlust des Studienplatzes an einer öffentlichen Universität, Verlust des Arbeitsplatzes im öffentlichen Dienst, Wegnahme des Häuschens aus dem sozialen Wohnungsbauprogramm der Regierung, das sind die Sanktionen, die bei Nichtbefolgung des Aufrufs angedroht worden sein sollen. Hinzu kommen finanzielle Anreize. Ein Mann aus der Provinz Guayas sagt am 22. März schüchtern, ja, er habe 20 US-Dollar bekommen, um heute nach Quito zu fahren. Außerdem sei er noch nie in der Hauptstadt gewesen, das sei für ihn eine gute Gelegenheit.
Steht hier eine demokratische Regierung mit dem Rücken zur Wand und greift zu den allerletzten Mitteln, um das Schlimmste zu verhindern? Oder entwickelt sich die Bürgerrevolution gerade selbst zu ihrem schlimmsten Feind, indem sie aus Kontrollwut eine progressive Sozialpolitik in konditionierten Klientelismus umdefiniert? Rafael Correa genießt laut Umfragen weit über 50 Prozent der Sympathie in der Bevölkerung. Anfang 2013 sollen Wahlen abgehalten werden, aber niemand bezweifelt, dass Correa sie gewinnen wird. Weder die Rechte noch die linke Opposition haben bisher einen auch nur halbwegs überzeugenden Kandidaten.
Wenige Wochen zuvor, am 16. Februar dieses Jahres, musste in Quito der gerade neu zusammengesetzte Oberste Gerichtshof in der letzten Instanz im Fall Rafael Correa gegen die Tageszeitung El Universo entscheiden (siehe LN 453). El Universo ist eine private Zeitung aus Guayaquil, die im Februar 2011 in einem Kommentar geschrieben hatte, Rafael Correa könne aufgrund der Befreiungsaktion am 30. September 2010, wo Militärs unter Inkaufnahme von zivilen Opfern auf ein Krankenhaus schossen, wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt werden. In erster und zweiter Instanz waren nicht nur der Autor des Kommentars, sondern auch die Herausgeber der Zeitung wegen Verleumdung zu insgesamt 40 Millionen US-Dollar Strafe und drei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die Anklage hatte sogar 80 Millionen Schadenersatz gefordert. Während die rechten Medien die Pressefreiheit angegriffen sahen und die Regierung einen Präzedenzfall gegen die privaten Medienoligopole setzen wollte, hat der Fall vor allem Zweifel an der Unabhängigkeit der ecuadorianischen Justiz von der Exekutive, und damit an der Einhaltung eines demokratischen Grundprinzips, geweckt, das gerade in Lateinamerika historische Bedeutung hat. Das Tempo, in dem ansonsten extrem langsame Gerichte diesen Fall bearbeitet haben; die für eine Verleumdungsklage völlig unverhältnismäßige und willkürliche Höhe der Strafe; das massive Polizei- und Militäraufgebot, das bei den Anhörungen aufgefahren wurde; die juristisch schwer erklärbare Mithaftung der Herausgeber des Blattes für einen als Kommentar ausgewiesenen Text, all das sind Indizien, die auf ein Problem jenseits der vordergründigen Konfrontation „linke Regierung gegen private rechte Medien“ verweisen.
Nach der Bestätigung des Urteils durch den Obersten Gerichtshof will El Universo nun vor den interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshof ziehen. Die bisher große Legitimität des interamerikanischen Menschenrechtssystems in Lateinamerika als historisch einzige Instanz, vor der auch Regierungen wegen Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft gezogen werden konnten, wird derzeit von Präsident Correa systematisch in Frage gestellt. Es handle sich um eine imperialistische Institution, genau wie die Weltbank und der IWF, Ecuador habe schließlich auch mit letzteren gebrochen, erklärt er in einer Radioansprache. Die interamerikanische Menschenrechtskommission habe ihren Sitz in Washingon D.C., das erkläre doch vieles. Die UNASUR brauche eine andere, von den Interessen des Imperiums unabhängige Menschenrechtsinstanz. Dass Präsident Correa dem letztinstanzlich verurteilen Kommentaristen und den Herausgebern von El Universo kurz darauf in einem öffentlichen Gnadenakt „vergeben“ hat, verweist eher auf das messianische, patriarchale und autoritäre Grundverständnis des Anführers der Bürgerrevolution, als auf eine emanzipatorische, linke Politik.
22. März, im Süden von Quito. Nach 14 Tagen und 700 Kilometern kommt der Protestmarsch Marcha por la vida, el agua y la dignidad de los pueblos in der Hauptstadt an. Am Weltfrauentag war die Demonstration, zu der der indigene Dachverband CONAIE, mehrere Frauenorganisationen, Gewerkschaften und andere linke Gruppen aufgerufen hatten, genau an dem Ort gestartet, wo das erste Tagebauprojekt Ecuadors sich materialisieren soll. Damals verweigerte die nationale Verkehrsbehörde den Demonstrant_innen die Genehmigung für Busse, die sie transportieren sollten. Wer Demonstrant_innen befördere, verlöre seine Personenbeförderungslizenz, hieß es lakonisch. „Dann werden wir eben laufen“, antworteten die Demonstrant_innen. Ihr Anliegen ist die Neuausrichtung des Transformationsprozesses in Ecuador. Sie sind gegen offenen Tagebau, gegen Konzessionen an ausländische Firmen, fordern eine Agrarrevolution auf dem Land und eine Entprivatisierung des Wassers, von dem rund ein Prozent der Nutzer_innen (meist aus der Agroindustrie für den Export) 67 Prozent kontrollieren. Sie verlangen eine breite, nationale Debatte darüber, was Bergbau für die Zukunft des Landes bedeutet, und die verfassungsmäßig vorgeschriebene Vorab-Befragung der betroffenen indigenen Bevölkerung. Die Verfassung von 2008 bildet die Grundlage ihrer Argumente. Sie verbietet Bergbau im Bereich von Quellen und in Schutzgebieten und schreibt die Entprivatisierung des Wassers vor. „Niemand von uns hat die Absicht, die Regierung zu stürzen oder die Demokratie zu destabilisieren“, beteuert Humberto Cholango, Präsident der CONAIE, immer wieder vor laufender Kamera. „Wir kämpfen für dieselben Anliegen, für die wir schon immer gekämpft haben: Für das erfüllte Leben, gegen Freihandelsverträge, gegen den Ausverkauf unserer Naturressourcen an ausländische Konzerne, für eine wirkliche Agrarreform.“ Neunzehn Punkte umfasst der Forderungskatalog insgesamt, unter anderem die Aussetzung der Verhandlungen um ein Assoziierungsabkommen mit der EU, die die Regierung Correa gerade wieder aufgenommen hat. Wahlpolitische Vereinnahmungsversuche der Demonstrant_innen im Verlauf des Marsches wurden konsequent zurückgewiesen, ebenso wie Sympathiebekundungen einiger rechter Politiker.
Doch anstatt die Demonstration als legitimes demokratisches Druckmittel zu betrachten und ihre Forderungen zu prüfen, startete die Regierung eine umfassende Diffamierungskampagne. Dies scheint die Lehre zu sein, die man aus dem 30. September 2010 gezogen hat: In jeder Kritik, in jedem Protest lauert der Putschismus, dem mit offiziell organisierten Gegendemonstrationen, Medienkampagnen und juristischen Mitteln begegnet werden muss. Dennoch – oder auch deshalb – hat der Protestmarsch auf seinem langen Weg nach Quito viel Solidarität erfahren. „¡Esto no es pagado, es pueblo organizado!“, rufen die Demonstrierenden. „Das hier ist nicht von oben bezahlt, das ist echte Organisierung!“ Der Zug von rund 15.000 Leuten schwillt auf dem Weg durch die ärmeren Viertel der Hauptstadt noch erheblich an. Ein weiterer kommt von Norden, ebenfalls in Richtung Arbolito-Park. Die Indigenen aus Cayambe haben über Nacht 60 Kilometer zu Fuß zurückgelegt, nachdem ihre Busse an einer Polizeisperre aufgehalten worden waren. Als die Demonstration ans Ziel kommt, ergießt sich ein riesiger Menschenstrom in den Arbolito-Park. Die Regenbogenfarben der indigenen Huipala und die roten Fahnen der Gewerkschafter sind allgegenwärtig.
Die Bühne steht jetzt etwa 50 Meter weiter links als am Vormittag, Putzkolonnen haben den Müll der Regierungskundgebung bereits beseitigt. „El pueblo unido jamás será vencido“, ruft auch diese Menschenmenge aus voller Kehle. Dabei dürfte die Bevölkerung Ecuadors selten tiefer gespalten gewesen sein. Auch das ist – leider – ein Verdienst der Bürgerrevolution.
Wenig später schickt ein Präfekt eine Namensliste von Beamten an den Präsidenten, die am 22. März nicht auf der offiziellen Kundgebung waren und deshalb aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden sollen. Hat eine nominell linke Regierung das Recht, im Namen des Machterhalts das Demonstrationsrecht derartig auszuhebeln und Arbeitsplätze so zu konditionieren? Diese Aufmärsche von Regierungstreuen, das Eingreifen in persönliche Laufbahnen, wo nicht genug politische Loyalität gezeigt wird, das systematische Schließen von Räumen für Kritik und Debatte, die mit der verfassunggebenden Versammlung erst entstanden waren, die hehren Ideale, die Gerichtsverfahren gegen Andersdenkende vor einer Justiz, die Konvenienzurteile fällt – knapp 200 Indigene sind nach wie vor des Terrorismus angeklagt – all das erinnert an ein Repertoire aus vergangenen Zeiten, in denen ebenfalls Linke an der Regierung waren: in Osteuropa. Und verweist darauf, dass (auch) in Lateinamerika eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den politischen Praktiken des Realsozialismus dringend ansteht. Auch wenn sie sich hier mit spezifisch lateinamerikanischen Aspekten des caudillismo und mit einer eindeutig kapitalistischen Wirtschaftspolitik mischen: „Im Grunde machen wir die Dinge auf der Grundlage desselben Akkumulationsmodells einfach nur besser, anstatt dieses zu verändern. Denn es ist nicht unser Wunsch, den Reichen zu schaden, sondern wir streben eine gerechtere und gleichere Gesellschaft an“, so Präsident Correa im Interview mit El Telégrafo.

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