Brasilien | Nummer 471/472 - Sept./Okt. 2013

Proteste auf Fifa-Niveau

Unbehagen und Empörung treiben in Brasilien die Menschen auf die Straße

Als Brasilien 2007 zum Austragungsland der Fußball-Weltmeisterschaft gewählt wurde, war der Jubel in der Bevölkerung groß. Ebenso zwei Jahre später, als feststand, dass die Olympischen Sommerspiele 2016 in Rio de Janeiro stattfinden würden. Heute hat sich die Stimmung gedreht. Es dominiert ein tiefsitzendes Unbehagen, ja Empörung über das urbane System und die Polizeigewalt, die Zwangsumsiedlungen, die Korruption und die Ausbeutung des Landes durch die Fifa.

Júlio Delmanto, Übersetzung: Gerhard Dilger

Millionen Brasilianer_innen sind im Juni auf die Straße gegangen. Während der Fußball-WM 2014 und den Olympischen Sommerspielen 2016 ist mit weiteren Protesten zu rechnen. Seit Jahren haben Akademiker_innen sowie Mitglieder diverser sozialer Bewegungen, Nichtregierungsorganisationen und Parteien auf die unvermeidlichen Auswirkungen dieser Mega-Events in einer zutiefst ungleichen Gesellschaft wie der brasilianischen hingewiesen, wo zudem immer brutaler gegen Dissident_innen vorgegangen wird. Von Anfang an ging es in dieser Debatte um die Zwangsumsiedlungen zehntausender, meist armer Menschen, die der Immobilienspekulation weichen müssen. Gestritten wurde um massive Investitionen in Bereiche, die – wie die WM – eigentlich keine staatliche Priorität verdienen, während die Lage in Sachen Gesundheit und Bildung für das Gros der Brasilianer_innen dramatisch bleibt. Debattiert wurde auch über die Privatisierung öffentlicher Räume, über die Korruption, die Kriminalisierung sozialer Bewegungen oder über prekäre Arbeitsverhältnisse auf den WM-Baustellen sowie über Ausnahmegesetze und Militarisierung.
Dennoch war im Juni die Überraschung bei den Regierenden, in den Medien und bei der Fifa groß: Die Kritik kam nun nicht mehr nur aus den sozialen Bewegungen, sondern sie beherrschte auf einmal die Straßen und den Alltag fast der gesamten Gesellschaft. Bei nahezu allen Spielen des Confederation Cup, dem WM-Probelauf in sechs Städten, gab es in der Umgebung der Stadien große Demonstrationen. Fußballfunktio­när_innen dachten sogar laut darüber nach, die Veranstaltung abzublasen. Auf den Kundgebungen und in den Medien machten unzählige, spontan entstandene Parolen und Slogans die Runde: „Wenn mein Kind krank ist, bringe ich es in ein Stadion“, „Ich kann ohne WM auskommen: Ich will Gesundheit, Arbeit und Bildung“, „Politiker, ihr habt jetzt nichts mehr zu lachen“, „Pelé und Ronaldo: Reden ist Silber, Schweigen ist Gold“. Die Illusion, die Brasilianer_innen seien ausnahmslos stolz und zufrieden darüber, diese Sportspektakel in ihrem Land beherbergen zu dürfen, ist nicht mehr aufrechtzuerhalten.
Die Mobilisierungen im Juni stellen in vielerlei Hinsicht einen Wendepunkt in der brasilianischen Politik statt. Selbst wenn es nicht leicht fällt, die Ablehnung der Institutionen und der politischen Parteien, die Vielzahl von Forderungen und Agenden, die vielfältigen Formen direkter Aktion oder anderer Proteste, die in den unterschiedlichsten Teilen des Landes zum Ausdruck kamen, unter einen Hut zu bringen: Heute gibt es eben keine einzige Organisationsform oder gar eine gemeinsame Sache mehr.
Die Regierenden auf Bundes-, Landes- und kommunaler Ebene beeilten sich, alte Vorschläge aus den Schubladen zu holen, um „Antworten“ auf die Straße – und ihre rapide sinkenden Popularitätswerte – zu geben. In der Tat: Die Proteste sind abgeflaut, doch wenig spricht dafür, dass der Antrieb für die Demonstrationen und die Auflehnung völlig abgekühlt ist. Zahlreiche politische Gruppen sind während der Prozesse der letzten Monate in ihren Organisations- und Vernetzungsformen vorangekommen und haben eine neue Sichtbarkeit erlangt. Bei der Interaktion dieser neuen, autonomen Kollektive haben die sozialen Netzwerke eine zentrale Rolle gespielt – dies ist die wohl größte Gemeinsamkeit des „brasilianischen Frühlings“ mit Massenbewegungen in anderen Teilen der Welt. Jederzeit kann es zu neuen Explosionen der Unzufriedenheit kommen, und einiges spricht dafür, dass das große Stelldichein bei der WM 2014 stattfinden könnte. Und dass die meisten der traditionellen Bewegungen eher ratlos auf die Proteste reagierten, ist auch durch ihre Nähe zu den linken Regierungsparteien PT (Arbeiterpartei) und PCdoB (Kommunistische Partei Brasiliens, die das Sportministerium beherrscht) zu erklären – sind es jedoch gerade diese staatstragenden Kräfte, die zusammen mit ihren konservativen Koalitionspartnern der Fifa in allen zentralen Punkten nachgegeben haben. Durch das „Allgemeine WM-Gesetz“ hat der brasilianische Staat in mehreren Bereichen seine Souveränität zugunsten der unheiligen Allianz von Fifa und transnationalen Konzernen aufgegeben.
Von ihrer früheren Aufmüpfigkeit sind diese Parteien, ebenso wie die Gewerkschaften, weit entfernt. Der Versuch der klassischen Bewegungen, sich die Proteste für ihre berechtigten Forderungen nach Verringerung der Arbeitszeit, gegen weitere Präkarisierung oder nach gesicherten Renten nutzbar zu machen, endete ziemlich pathetisch. Ihren Aufrufen zum „Generalstreik“ am 11. Juli und zu Massenprotesten am 30. August folgten nur wenige.
Nach den ersten Protesten gegen die Art und Weise, die Mega-Events vorzubereiten, haben sich in den zwölf Austragungsorten Aktivist_innen aus verschiedensten Traditionen sozialer Kämpfe, Gruppen und Zusammenhängen in den lokalen Basiskomitees zur WM zusammengeschlossen. Diese Komitees spielen eine wichtige Rolle dabei, über diverse Aktivitäten die Debatte aufrecht zu erhalten: Straßenkampagnen, Flugblätter, Broschüren, Webseiten oder Debatten inner- und außerhalb der Universitäten. Auf landesweiter Ebene sind sie durch ein Netzwerk miteinander verbunden.
Auch wenn auf einem Großteil der Demonstrationen im Juni die sportlichen Großereignisse direkt oder indirekt thematisiert wurden, gingen die Proteste doch weit über das hinaus, was in den Komitees diskutiert wird. Es zeigte sich, dass die Unzufriedenheit mit den diversen Aspekten dieser Mega-Events viel diffuser, aber auch weitreichender ist als etwa von den Mainstream-Medien oder der institutionellen Politik angenommen.
Die WM wird doppelt so viele Austragungsorte haben wie der Confederations Cup. Ihre Auswirkungen auf die von Zwangsumsiedlung bedrohte Bevölkerung oder auf die Straßen- und andere unabhängige Händler_innen, die aufgrund der Ausnahmegesetze massiv eingeschränkt werden, nehmen zu. Deshalb dürfte der Begriff „Demonstrations Cup“ („Copa das Manifestações“), der bereits in diesem Jahr verwendet wurde, auch auf 2014 zutreffen. Zudem wird die brutale, entfesselte brasilianische Polizei gerade dazu ausgerüstet und abgerichtet, mit Härte zu handeln. Es ist also mit massiver Repression zu rechnen, was wiederum zu größerer Empörung führen und die Proteste befeuern dürfte, ähnlich, wie bereits im Juni geschehen. „Das Volk ist aufgewacht“, war ein vielgehörter Spruch auf den Demonstrationen, und dass es gerade jetzt wieder einschläft, ist kaum zu erwarten.
Die Protestkundgebungen im Juni wurden aber nicht nur durch den Unmut über die korrupte Fußballmafia ausgelöst, sondern vor allem durch den Kampf gegen die Tariferhöhungen im öffentlichen Nahverkehr, der in Brasilien von miserabler Qualität ist und vorwiegend durch die Interessen der großen Busunternehmen bestimmt wird.
Seither ist in São Paulo eine große Bestechungsaffäre bekannt geworden: Beim Verkauf von S- und U-Bahnzügen organisierten die Multis Siemens, Alstom, Mitsui und CAF jahrelang Preisabsprachen. Mit Billigung hoher Politiker_innen und Funktionär_innen der von der rechtsliberalen Sozialdemokratischen Partei Brasiliens (PSDB) angeführten Landesregierung kassierten die Multis bis zu 30 Prozent mehr als nötig. Die Aktivist_innen der Bewegung für Freie Fahrt im öffentlichen Nahverkehr (MPL) durften sich bestätigt fühlen.
Ihre Forderung nach dem Nulltarif funktionierte auch als Auslöser dafür, dass jetzt viel breiter über das Recht auf Stadt und die Merkantilisierung des Alltags diskutiert wird – daher die ungeheure Macht, die das Thema erlangt hat.
Mit den Mega-Events passiert gerade etwas Ähnliches: Es wird nicht nur direkt gegen sie protestiert, sondern sie werfen auch Schlaglichter auf eine Gesellschaft, die immer weiter militarisiert wird, in der weder die Menschenrechte noch die Umwelt respektiert werden. In den Worten des Philosophen Paulo Arantes: „Der Knalleffekt der Tarifdebatte weist über die wichtige Bewegung der von den Mega-Events Betroffenen hinaus und hat die kollektive Phantasie der unglücklichen Massen erreicht, die zum Drehkreuz (in den Bussen) verurteilt ist.“ Die Menschen wollten einen „Nahverkehr auf Fifa-Niveau“, so Arantes. Ebenso auch Krankenhäuser, Schulen und Kindergärten von hoher Qualität.
Doch damit nicht genug: Diese Welle wird auch mit dem Ende der WM noch nicht vorbei sein, denn dann stehen ja die Olympischen Spiele an, und São Paulo bewirbt sich auch noch um die Expo 2020, die drittgrößte Veranstaltung der Welt, die – sollte es dazu kommen – die öffentliche Hand weitere Milliarden kosten und die Gentrifizierung vorantreiben wird. Die Vertreibungen werden anhalten – und immer mehr Bürgerrechte geopfert werden. Aber die sozialen Bewegungen arbeiten bereits daran, dass die zukünftigen Proteste wieder auf Fifa-Niveau stattfinden werden.

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