Literatur | Nummer 409/410 - Juli/August 2008

Próxima estación: Colombia

Ein charmanter Bericht über die Fahrt von Manu Chao & Co in einem schrottreifen Zug durch Kolumbien

Dominik Zimmer

Lateinamerika per Zug bereisen – das klingt nach einer schönen Idee, die aber leider völlig undurchführbar ist. Denn die Eisenbahn hat sich in den wenigsten Regionen des Kontinents durchgesetzt, in einigen ist sie gar völlig inexistent. So auch in Zentralkolumbien, wo zwar ein Schienennetz existiert, aber seit Jahrzehnten kein Personenzug mehr gefahren ist. Grund genug für eine Gruppe französischer Künstler, Artisten und Musiker, sich selbst aus Schrottteilen einen Zug, den Tren de Hielo („Zug aus Eis“) zu bauen und damit in abgelegene Regionen des Landes zu fahren, um dort Gratis-Vorstellungen zu geben und den Menschen in einer vom Bürgerkrieg heimgesuchten Region etwas Hoffnung zu bringen. Ramón Chao, der Vater des Sängers Manu Chao und selbst ein bekannter Schriftsteller hat diese abenteuerliche Reise Anfang der 1990er Jahre in einer Chronik verewigt. Diese wurde nun viel zu spät unter dem Titel Ein Zug aus Eis und Feuer auch auf Deutsch veröffentlicht.
Der Untertitel des Buches („Mit Mano Negra durch Kolumbien“) ist eine kleine PR-Mogelpackung des Verlages. Denn Manu Chaos Ex-Band Mano Negra fährt nur kurze Zeit mit dem Tren de Hielo mit. Die Band löst sich schon zu Beginn der Reise auf und einige Mitglieder treten die Heimreise an. Auch Manu Chao selbst spielt in dem Buch eher eine Nebenrolle. Das lässt sich aber angesichts der vielen anderen liebenswert-durchgeknallten Protagonisten, die man nach und nach kennenlernt, leicht verschmerzen: Da ist zum Beispiel die Punkband „French Lovers“, die permanent mit der lokalen (vor allem weiblichen) Bevölkerung anbandelt. Oder Cati, die wegen chronischen Geldmangels gestresste brasilianische Managerin. Der Drache Roberto, ein Monstrum aus Metall, das zur Freude aller Kinder Feuer speit (wenn er nicht gerade wieder den Dienst versagt). Und schließlich Rondelle, das 10-jährige kolumbianische Entertainment-Talent, das sich nach einer spontanen Einlage einen Platz in Manu Chaos Band sichert. Sie alle machen die Zugfahrt zu einem vergnüglichen (Lese-)Erlebnis.
Allerdings steht das Unternehmen auch oft genug vor dem Aus, was noch am Wenigsten an den permanenten Entgleisungen und Verspätungen des Zuges auf der maroden Strecke liegt. Finanzprobleme, technische Schwierigkeiten, Krankheiten und Streit in der Gruppe lassen die Stimmung häufig auf den Nullpunkt sinken. Was die meisten Reisenden dennoch weitermachen lässt, sind die Freude und die Hoffnung, die sie bei den Menschen in den ländlichen, vom Staat vergessenen und vom Guerillakrieg geplagten Regionen wecken. Und die verrückten und bewegenden Begebenheiten, die bei einer solchen Reise unweigerlich auftreten. Das Spektrum reicht dabei von wundersamen schamanischen Heilungen bis hin zu kleinen blinden Passagieren, die die Reisenden um eine Adoption anflehen.

15 Jahre nach der Fahrt des Tren de Hielo haben sich die Wünsche nicht erfüllt: der Frieden ist nicht in Sicht

Das Buch lebt mindestens ebenso von diesen Ereignissen wie vom Erzählstil Ramon Chaos, der das Kunststück fertigbringt, den Leser mal zum Mitfahrer, mal zum außenstehenden Betrachter des Tren de Hielo werden zu lassen. In meist launigem, oft aber auch ernstem oder literarisch-poetischem Tonfall stellt er Landschaften und Mitreisende vor und beschreibt die unvergleichliche Atmosphäre der Shows ebenso wie deren beschwerliche Vorbereitung und den selten reibungslosen Ablauf. Ein Highlight sind die unaufdringlich einfließenden persönlichen Erlebnisse des Autors, durch die man ihn erst als vollwertiges Mitglied der chaotischen Truppe akzeptiert. Ob er sich aus Solidarität ein Mano-Negra-Tattoo stechen lässt, den Nachstellungen junger Schönheiten, die seine Enkelinnen sein könnten, widerstehen muss, oder in einem Eisbär-Kostüm bei sengender Hitze in Atemnot gerät – ein Schmunzeln kann man sich bei seinen Erzählungen selten verkneifen.
Am Ergreifendsten wird der Bericht bei den Auszügen aus den Büchern der „Traumbüros“, in denen Menschen auf den verschiedenen Stationen der Reise ihre Hoffnungen zu Papier bringen können. Die Sorge wegen des Drogenhandels ist dabei allgegenwärtig, Kinder wünschen sich, dass das Christkind ihnen einen Vater zu Weihnachten bringt und in fast jedem Beitrag fällt das Wort „Frieden“. Hier wird auch den französischen Künstlern bewusst, dass trotz aller Entbehrungen, die diese Reise für sie bedeutet, die Menschen in Kolumbien viel Schlimmeres durchmachen mussten und noch müssen. Das ist auch 15 Jahre nach der Fahrt des Tren de Hielo nicht anders. Die Wünsche aus den Traumbüros haben sich nicht erfüllt: Frieden ist ebenso wenig in Sicht wie ein Ende des Drogenhandels und selbst die Wiederaufnahme des Personenzugverkehrs hat wegen des Kartells der Busunternehmer keine Chance.
Auch wenn die Aufzeichnungen Ramon Chaos schon 15 Jahre alt sind, ist das Buch auch heute noch ein extrem lesenswerter Bericht über eine Unternehmung, die trotz großer Schwierigkeiten dank Idealismus und Herzblut ein Erfolg wurde. Während der Reisebeschreibung erfährt man durch die Lektüre des Buches nebenbei auch einiges über Geschichte, Politik und Bevölkerung Kolumbiens. Obwohl der Zug längst nicht alle Regionen bereist hat, ist ein stimmungsvolles Bild des Landes und seiner BewohnerInnen entstanden, denen der Autor mit ebenso großer Sympathie und Offenheit begegnet ist, wie sie ihm.

Ramón Chao // Ein Zug aus Eis und Feuer // Edition Nautilus // Hamburg 2008 // 240 Seiten // 14,90 Euro // www.edition-nautilus.de

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