Jamaika | Nummer 418 - April 2009

„Put down the guns, put up the books”

Das Trenchtown Reading Centre setzt einen Kontrapunkt gegen die Kultur der Gewalt

Bob Marley hat das Kingstoner Ghetto Trenchtown mit seinem Song „Trenchtown Rock“ weltbekannt gemacht. Heutzutage gehört Trenchtown mit den anliegenden Vierteln Rema, Denham Town und Jones Town zu den Gebieten mit den höchsten Mordraten auf der Karibikinsel Jamaica. Einen Kontrapunkt gegen die Gewaltkultur setzt das von der Kanadierin Roslyn Ellison gegründete Trenchtown Reading Centre, eine Bibliothek für alt und jung, zum Lesen und zum Lesen und Schreiben lernen. Wissen ist Macht, weiß Ellison, und nur mit Wissen werden die Armen in die Lage versetzt, potenziell strukturellen Wandel bewirken zu können.

Martin Ling

Wenn Bunny Wailer sich an seine Jugend in Trenchtown erinnert, hat das fast etwas Romantisches: „Die Leute in Trenchtown sind einfach wunderbar. Trenchtown war DER Ort, es passierten immer tausend Dinge gleichzeitig, auch wenn die Überlebensstrategien nicht immer mit dem Gesetz in Einklang standen. In Trenchtown gab es zum Beispiel die professionellsten Taschendiebe. Sie beklauten allerdings nie die Armen, gingen so raffiniert vor, dass niemand etwas bemerkte und sie taten den Leuten nie was an.“ Doch die 1960er Jahre, in denen Bunny Wailer, Bob Marley und Peter Tosh in Trenchtown ihre ersten musikalischen Gehversuche unternahmen, sind längst passé. Damals war das Leben in dem Elendsviertel hart und rau, mörderische Gewalt jedoch die Ausnahme. Schon damals galt Trenchtown als eines der verrufensten Elendsviertel der Hauptstadt Kingston. Wer dort aufwächst, hat von vornherein keine Chance, galt und gilt als Faustregel.
Bunny Wailer, Peter Tosh und Bob Marley waren Ausnahmen und insbesondere letzterer ist auch 2009 noch fast allgegenwärtig. Das zeigen viele Porträts an den Mauern und insbesondere das mit Geldern aus Deutschland renovierte Kulturzentrum Bob Marley Culture Yard, jener Hinterhof, in dem Bob Marley einst lebte und in dem heute noch sein VW-Bus als TouristInnenattraktion vor sich hinrottet und neben Sightseeing allerlei Devotionalien feilgeboten werden. Bob Marley ist präsent wie auch seine Musik. Im Trenchtown Reading Centre (TTRC) laufen seine Songs nicht selten Nonstop und bei nicht wenigen Liedern singen die anwesenden Kinder textsicher mit, von den Dreijährigen angefangen. Sie singen beim Lesen oder Spielen im TTRC, das seit seinem zweiten Anlauf 2005 in voller Blüte steht.
Mindestens ein kleines Wunder, wenn man an die Anfänge zurückdenkt. Die Idee zum TTRC entstand mehr oder weniger spontan. Auf einem Jamaica-Besuch Anfang der neunziger Jahre wurde Roslyn Ellison buchstäblich an einer Ecke in Trenchtown stehen gelassen. Ihr einheimischer Bekannter wollte kurz etwas erledigen und sei „soon“ zurück, erinnert sie sich. „Bald“ ist in Jamaica bekanntermaßen relativ und die kommunikative Kanadierin überbrückte die Zeit mit einem Plausch mit AnwohnerInnen, die sich schon allein aufgrund der beengten Wohnverhältnisse zahlreich auf den Straßen aufhalten. Die Diskussion wurde in Bob Marleys ehemaligem Proberaum fortgesetzt und drehte sich darum, wie für die BewohnerInnen etwas dauerhaft zum Besseren geändert werden könnte. Die Idee einer frei zugänglichen Bibliothek, die Zugang zu Wissen schaffen sollte, fand Anklang. Doch es blieb nicht bei der Idee. Innerhalb weniger Wochen wurde sie umgesetzt und das Trenchtown Reading Centre 1993 eingeweiht.
Die ersten Jahre waren alles andere als einfach, die Unterstützung von der Politik begrenzt, obwohl der Abgeordnete in Trenchtown ein echtes politisches Schwergewicht ist: Omar Davis von der sozialdemokratischen People’s National Party (PNP), die von 1989 bis 2007 ununterbrochen regierte, nicht selten mit Davis als Kabinettsmitglied. Ganz lumpen ließ sich die PNP-Regierung freilich nicht. 1998 baute sie in einer ihrer uneinnehmbaren Wahlhochburgen (Garrisons) eine Art Gebäude für die Bibliothek, allerdings sparte man sich die Wände. Nicht gerade die optimale Lese- und Lernatmosphäre in einer Ecke, wo fast jeder Bewohner und jede Bewohnerin schon einmal zufällig ins Kreuzfeuer geraten ist und Schusswechsel auch am helllichten Tag keine Seltenheit sind. Das änderte sich erst 1999, als mit Hilfe des damaligen Finanzministers Davis, einem Kredit der Weltbank und privaten Sponsorengeldern ein richtiges Haus errichtet wurde, mit Steinwänden, Glastüren und Fenstern. Für die Kosten des operativen Geschäfts wie Bücher und Material kam lange Zeit weitgehend Roslyn Ellison auf, die zwischen ihrer Heimatstadt Vancouver, wo sie als Lehrerin unterrichtete, und Kingston pendelte. Seit 1997 sorgt der von Ellison organisierte Verein, die Freunde des Trenchtown Reading Centre (FTRC), für zusätzliche Unterstützung. Die heutige Bibliothekarin, Keisha Howell, von allen nur Happy genannt, war von Anfang an dabei, 1993 als wissbegieriges Kind. „Im TTRC konntest du Bücher finden, die es in der öffentlichen Bibliothek nicht gab“, erinnert sie sich. Wichtig für Aufgaben wie das so genannte fact finding in den Schulen, wo die SchülerInnen sich zu einem Stichwort selbst schlau machen müssen und Fakten zum Beispiel zu den Themen „Elefant“ oder „Dinosaurier“ recherchieren müssen. Außerdem wurde und wird beim TTRC von Beginn an viel Wert auf kontextbezogenes Lesen gelegt. „Es gibt unterschiedliche Arten zu lesen. Die eine ist, den Inhalt eines Paragraphen zu lesen, die andere ist, zu verstehen, was sich hinter einem Paragraphen verbirgt“, macht sie die Herangehensweise im TTRC anschaulich. Happy hält Analphabetismus primär für ein soziales Problem. Die Umstände schaffen die AnalphabetInnen und Analphabetismus lässt sich dauerhaft nur bekämpfen, wenn auch die soziale Realität verändert wird. Ellison pflichtet ihr bei: „Laut Statistik werden 90 Prozent aller Morde in Jamaica von Jungs zwischen 18 und 30 Jahren verübt, 86 Prozent davon sind ohne Vater aufgewachsen und können weder lesen noch schreiben.“ Eine der berüchtigtsten Banden in Trench Town heißt treffend Fatherless Gang, die Väter der Mitglieder sind in der Regel eines gewaltsamen Todes gestorben.
Die Zukunft der Kinder, die in die Bibliothek kommen, soll dank Bildung besser aussehen. Und sie sind mit Begeisterung dabei, zeigen dem Gast ihre Lese- und Schreibkenntnisse. Dazu wird kurzerhand das Notizbuch des Reporters entwendet, das sich trefflich dazu verwenden lässt, den beiden Bibliothekarinnen und Lehrerinnen per Bild und Schrift liebevolle Widmungen zukommen zu lassen oder doch wenigstens das Schreiben des eigenen Namens zu demonstrieren. Die Stimmung ist lebendig und wenn es mal zu laut wird, reicht ein Klatschen in die Hände und ein eindringlicher Appell von Happy oder ihrer Kollegin Stacy, um den Lärmpegel auf Normalniveau zu senken. Spielerisch wird den Kleinen das Alphabet beigebracht, den Älteren wird bei den Schulaufgaben geholfen und Bücher gibt es für alle Altersklassen.
Bei der Auswahl der derzeit rund 1000 Bücher legt Ellison Wert auf emanzipatorische Inhalte. So finden sich unter den Autobiographien viele bedeutende schwarze BürgerrechtlerInnen, Marcus Garvey, Malcolm X, Rosa Parks, Nelson Mandela und Afrikas erste Friedensnobelpreisträgerin Wangari Maathai. Zu ihnen gesellt sich unter anderem Albert Einstein. Die Bücher sind allesamt neueren Datums und gut erhalten, als Halde für ausgemusterte Buchbestände von Privatpersonen versteht man sich prinzipiell nicht. „Qualität statt Quantität“, bringt es Ellison auf eine Formel. Ihr Credo lautet: Wissen ist Macht und Bildung ist der Schlüssel. Macht wofür? Für eine soziale Revolution, meint Ellison, um gleich verschmitzt zu relativieren, dass der Begriff Revolution heutzutage nicht mehr en vogue ist, also für einen radikalen Wandel. Die Geschichte der ArbeiterInnenbewegung zeige weltweit, dass Schreiben und Lesen die Voraussetzungen dafür seien, dass die Unterschicht überhaupt Ideen und Macht für einen strukturellen Wandel entwickeln könne. Das Prinzip der Selbstverantwortung sei in Jamaica bereits verankert, fast jeder ist sich bewusst, dass er/sie sich über Musik oder Sport selbst aus der Misere selbst herauskatapultieren könne. Diese Selbstverantwortung müsse auf die Bildung gelenkt werden, getreu einem Song von Shabba Ranks, indem er fordert: „Put down the guns, put up the books“. Ohne Reggae läuft in Jamaica nichts. Das gilt auch für den fortwährenden Kampf, die Menschen von Trenchtown zu überzeugen, ins Zentrum zu kommen. Bücher, so Ellison, sind heute noch weniger im Bewusstsein der Leute als früher, überlagert von Fernsehen, Handy und Computer, selbst wenn man weder lesen noch schreiben könne.
Mit Reggae-Konzerten auf einem Gelände einen Steinwurf von der Bibliothek entfernt, wird eine Verbindung von Wissen und Musik praktiziert. „Musik eint und schafft Brücken, Bücher vermitteln Wissen und Wissen ist Macht,“ meint Ellison. Sie ist sich sicher, dass Trenchtown Musik und Bücher gleichermaßen braucht. Eine Einsicht indes, die wächst, aber auch wachsen muss. Als Ellison von 2000 bis 2005 in Vancouver verweilen musste, um ihre Eltern bis zu deren Tode zu pflegen, verwahrloste das TTRC zusehends. Alles was nicht niet- und nagelfest war, wurde von AnwohnerInnen „privatisiert“. Soziale AktivistInnen, die das TTRC geleitet hatten, waren entweder weggezogen oder erschossen worden. Eines Abends ereilte Ellison ein Anruf eines verbliebenen Aktivisten aus dem Bob Marley Cultural Yard, der schräg gegenüber der Bibliothek liegt. Sie müsse unbedingt kommen und nach dem Rechten sehen. Ellison kam und statt angesichts des frustrierenden Zustandes die Flinte ins Korn zu werfen, trommelte sie die community leaders zusammen und konnte sie flugs für einen Neustart gewinnen. Die inzwischen ins Gebäude eingezogene Autowerkstatt zog aus, der Friseursalon blieb als gutes Beispiel für gelungenes und platzsparendes Kleinunternehmertum und das TTRC steht heutzutage besser denn je. Das findet zumindest Happy, die inzwischen ein Studium der Sozialarbeit neben ihrer Bibliotheksarbeit begonnen hat. Ein lebendes Positivbeispiel für Sinn und Zweck des TTRC: Wissensvermittlung, um Macht für die Veränderung der Verhältnisse zu gewinnen. Das TTRC leistet hierfür fraglos seinen Beitrag, individuell und gesellschaftlich. Die täglich bis zu 50 vorbeikommenden Kinder sind ein Faustpfand für eine bessere Zukunft.

// Martin Ling

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