Nummer 493/494 - Juli/August 2015 | Peru

Raum für Widerrede

Interview über die neuen Herausforderungen des Feminismus in Peru

Globalisierung, Interkulturalität und Klimawandel stellen die feministische Bewegung in Peru vor (neue) Herausforderungen. Über diese und die darin liegenden Chancen sprachen die LN mit Liz Meléndez, Leiterin des Zentrums der peruanischen Frau Flora Tristán über ihre Arbeit und die Herausforderungen des Feminismus in Peru

Interview: Johanna Wollin

Wo liegt heute die größte Herausforderung Flora Tristáns als feministische Organisation?
Obwohl die Mittelschicht Perus gewachsen ist, sind die Ungleichheiten größer geworden. Durch ein unmenschliches ökonomisches System wird die Diskriminierung der Frau tendenziell verstärkt. Für Flora Tristán bedeutet das, sich zunehmend in einem globalen Kontext positionieren zu müssen. Die feministischen Organisationen des globalen Südens haben sehr lange Zeit mit denen des Nordens zusammengearbeitet, das hat sich gewandelt. Jetzt spricht man von einer „Süd-Süd-Kooperation“, diese muss jedoch weiter ausgebaut werden. Unsere Strategien können sich nicht mehr auf eine lokale Ebene beschränken. Wir müssen lernen neue Schwerpunkte zu setzen und unsere Aufgaben zu priorisieren. Und das tut weh, denn was lässt man weg? Natürlich spielt die Finanzierung dabei eine wichtige Rolle, denn ohne Mittel – das ist die Wahrheit – erreicht man nichts.

Welche Frauen sind in diesem Kontext die verletzlichsten?
Indigene Frauen im Amazonasgebiet und die Bäuerinnen der Anden. Oft ist die nächste staatliche Behörde mehrere Tagesreisen entfernt, weite Strecken müssen zu Fuß zurückgelegt werden. Der Staat ist zu weit weg, um von ihnen als Institution anerkannt zu werden. Diese Frauen müssen sich auf die traditionellen Organisationsformen örtlicher Gemeinden verlassen, die der Staat wiederum nicht anerkennt. In diesem System können sich keine Mechanismen bilden, um staatliche Institutionen und ihre Privilegien genießen zu können. Dann kommen sprachliche sowie kulturelle Barrieren hinzu, vor allem aber die rassistische Diskriminierung, der diese Frauen ausgesetzt sind. Peru ist ein äußerst rassistisches Land. Das ist eine Bürde, die wir mit uns tragen und die in den Köpfen festsitzt, ohne dass wir es merken. Wir sind mit diesen Symbolen der Minderwertigkeit bzw. Überlegenheit der Anderen aufgewachsen. Und es ist sehr schwer sich davon zu lösen.

Wie schafft man es in einem multiethnischen und multikulturellen Land wie Peru diesen Frauen eine Stimme zu geben?
Die Interkulturalität ist eine große Herausforderung. Wie respektiere ich andere Sitten und andere Sprachen? Allerdings muss man auch Grenzen ziehen können, denn Sitten und Bräuche können kein Mittel zur Rechtfertigung für die Gewalt gegen Frauen sein. Flora Tristán setzt deswegen seit ihrer Gründung auf die Zusammenarbeit mit lokalen Organisationen. Man kann nicht hingehen und sein eigenes Konzept auferlegen. Wir können lediglich dazu beitragen, dass diese Organisationen erstarken und zu einem lokalen Referenzpunkt werden. So entsteht ein institutionelles Gewebe, das den Diskurs über die Suche nach Rechten präsent hält. In manchen Orten scheitert das, in anderen nicht. Wichtig ist, dass die indigenen Frauen persönlich die Gesprächspartner für ihre Anliegen sind und bleiben.

Wie schafft man in einem interkulturellen Kontext Solidarität?
Ich habe ein Problem mit Solidarität. Vor allem, wenn sie schlecht strukturiert ist oder der Staat sie instrumentalisiert. Jedes, wirklich jedes Jahr gefriert es in der Gegend um Puno und Menschen und Tiere sterben, die Ernte wird zerstört und die Armen werden ärmer. Der Klimawandel verschärft die Situation. Und was macht der Staat? Er organisiert Decken-Kampagnen. Bringt Decken, teilt Decken, kauft Decken und alles wird gut. Dabei ist der Mangel an Decken nicht das Problem: Die Regierung hat keine strukturierte politische Agenda und es wird so getan, als ob die Solidarität der Menschen allein diese Missstände verbessern könnte. Das sind nur kurzfristige Lösungen.
Dann gibt es Solidarität, allerdings nach Stereotypen: Solidarität mit den Betroffenen einer Naturkatastrophe ja, aber mit der Zivilunion? Nein. Mit dem Transsexuellen, den fünf Leute zu Tode geprügelt haben? Nein. Mit der Prostituierten, die umgebracht wurde? Nein. Mit dem vergewaltigten Mädchen? Nein, und obendrein ist sie gezwungen, das Kind zur Welt zu bringen. Wo ist da die Solidarität?

Welche Rollen spielen dabei die Medien?
Eine sehr wichtige. Die großen Medien, also Fernsehen, Zeitungen und Radio sind meist konservativ und unterstützen eine stereotypisierte Solidarität. Es gibt Fortschritte und Anzeichen für einen Mentalitätswechsel. Es kommen immer mehr Journalisten mit Fragen zu einem breiteren Themenbereich zu uns. Das zeigt, dass der Diskurs der Gleichstellung voranschreitet. Und es gibt mehr Journalistinnen, wobei man für Gewalt gegen Frauen eher Verbündete findet als für reproduktive Rechte. Hier stoßen viele Journalistinnen an ihre Grenze.
Außerdem gibt es mehr alternative Medien, Blogs, die sozialen Netzwerke, sie bilden ein starkes Gegengewicht zum Medienmonopol. Wir Feministinnen müssen uns an diese Technologien halten und sie stärker nutzen, denn sie bringen Themen in die Öffentlichkeit und damit auf die Agenda; in Peru vor allem Twitter. Allerdings muss man bedenken, dass das Internet nicht alle Bevölkerungsteile erreicht. Das Radio ist da effektiver.

Wie kann man dagegen angehen?
Für langfristige Lösungen ist Bildung fundamental, insbesondere die Sensibilisierung für Menschenrechte. Hier liegt die Voraussetzung für Empowerment und dafür, dass die Menschen ihre Rechte einfordern. Das ist eine schwierige Aufgabe, denn oft sind Menschen genervt, wenn man darüber reden will: „Ach, da kommen die schon wieder mit ihren Menschenrechten, gegen ökonomische Entwicklung, gegen die Ruhe und Befriedung des Landes…“ Die autoritären Denker wollen nicht über Menschenrechte reden, denn über Menschenrechte reden heißt auch über Freiheiten reden. Und das ist kompliziert, denn dann gibt es Raum für Widerrede. Dennoch kann nur über die Bildung ein soziales Bewusstsein und damit Rechte und Gleichheit geschaffen werden.
Man sollte seine Rechte nicht ständig erobern müssen. Sie sollten per se da sein. Wenigstens gibt es Fortschritte: Fragt man auf der Straße, ob es gut ist, Frauen zu schlagen, werden nur sehr wenige mit „Ja“ antworten. Von den Worten zur Praxis ist es noch ein weiter Weg, aber immerhin. Dazu kommen globale Entwicklungen, auf die wir aufmerksam machen müssen.

Welche?
Der Klimawandel, zum Beispiel, kann Ungleichheiten verstärken: Frauen sind auf lokaler Ebene in exekutiven Positionen unterrepräsentiert. Damit ist es für sie schwieriger, ihren Belangen eine Stimme zu verleihen. Bei der Nutzung natürlicher Ressourcen wie Wasser wird das vermehrt zu einem Problem. Auf dem Land ist der Zugang zu Wasser besonders wichtig. Zum einen für die häuslichen Arbeiten, die ohnehin hauptsächlich von Frauen verrichtet werden, zum anderen für die Landwirtschaft. Da Männer häufiger in die Städte migrieren, müssen sich mehr Frauen mit den Folgen des Klimawandels oder der Umweltverschmutzung für die Arbeit auf dem Feld auseinandersetzen. Oft haben sie nicht einmal die Eigentumszertifikate für das Land, das sie bewirtschaften. Wie sollen sie es verteidigen, wenn sie es offiziell nicht besitzen? Darüber hinaus gibt es mehr Frauen als Männer, die nicht in den Zivilregistern eingetragen sind. Das ist eine Bildungssache. Analphabetismus ist unter Frauen weiter verbreitet. Eine Dürre wird alle betreffen, aber wenn Frauen diejenigen sind, die das Wasser verwalten, werden sie am stärksten betroffenen sein. Wenn es Plagen gibt, bestellen sie das Land, weil die Männer migriert sind. Dem Hunger sind dann sie ausgesetzt.

Was bedeutet das für die Arbeit von Flora Tristán?
Gerade in Krisenzeiten ist die Gefahr vor sexuellem Missbrauch sehr stark. Die psychologische und physische Gewalt gegen Frauen nimmt zu. Das muss man bei der Katastrophenhilfe bedenken. Auch auf andere Bedürfnisse müssen wir aufmerksam machen. Nach dem Erdbeben in Ica 2007 haben sich viele Organisationen zusammengeschlossen, um den Betroffenen Hilfsgüter zu bringen. Aber niemand hat zum Beispiel daran gedacht Monatsbinden oder Tampons oder Verhütungsmittel mitzubringen. Die Bürgerpolizei hätte außerdem spezifisch zum Schutz der Frauen ausgebildet werden müssen. Alles was in diesem Kontext geschieht, ruft eine menschliche Reaktion hervor und diese ist mit Gender-Logiken durchzogen. Das muss man bei einer tiefgründigen Analyse dieser Effekte bedenken. Die Gender-Perspektive offenzulegen und transparent zu machen ist eine schwierige, aber wichtige Aufgabe für uns.

Wie läuft die Zusammenarbeit mit der aktuellen Regierung?
Das einzige, was durchgesetzt wurde, ist die therapeutische Abtreibung. Die Abtreibung in Fällen von Vergewaltigung wird wahrscheinlich nicht abgesegnet werden. Ich will nicht pessimistisch sein, in einer Amtszeit lässt sich auch nicht alles ändern.
Humala hat die Kraft gefehlt, sich für unsere großen Forderungen, wie das Recht auf Abtreibung im Falle sexuellen Missbrauchs oder die Zivilunion einzusetzen. Auch in Sachen Zwangssterilisierung war er eine Enttäuschung. Dabei war das ein Thema, das ihm half, an die Macht zu kommen. Denn das feministische Lager hat es in der Öffentlichkeit stark thematisiert, um zu vermeiden, dass Fujimori (durch die Kandidatur seiner Tochter Keiko, Anm. d. Red.) wieder an die Macht kommt. Aber bis heute wurde keine angemessene Untersuchung in die Wege geleitet, obwohl eines seiner Wahlmottos lautete: „Humala hält seine Versprechen.“

Wieso hat die feministische Bewegung ihn anfangs unterstützt?
Wir hatten die Wahl zwischen Keiko, Alán García und Humala. Viele linksgerichtete demokratische Bewegungen haben sich ihm angeschlossen, um diese Gelegenheit für eine politische Fusion zu nutzen. Humala ist diesen Weg aber nicht weitergegangen. Vielmehr hat er sich von den Menschen geschieden, die seine Verbündeten waren. Daher rührt auch ein Gefühl der Unrechtmäßigkeit dieser Regierung. Das spiegelt sich auch im achten Kabinettswechsel, den wir hinter uns haben, wider.
Es war ohnehin eine Utopie zu glauben, nur weil Humala Präsident wird, würde alles besser laufen.

Liz Meléndez
ist Soziologin und Leiterin des Zentrums der peruanischen Frau Flora Tristán. Die feministische Non-Profit-Organisation wurde 1979 gegründet. Ihr erklärtes Ziel ist es, die strukturellen Ursachen zu bekämpfen, die Frauen darin beschränken, ihre zivilen Rechte auszuüben. Benannt ist die Institution nach der peruanisch-französischen Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Flora Tristán, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wirkte.

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