Berlinale | Nummer 585 - März 2023

REALITÄT SCHLÄGT FIKTION

Starke Dokumentar- und Jugendfilme sorgten für die besonderen Momente des lateinamerikanischen Kinos auf der 73. Berlinale

Es gibt diese Szene in Transfariana, die noch lange nach dem Film in Erinnerung bleibt. In der epischen, zweieinhalbstündigen Dokumentation verknüpft Regisseur Joris Lachaise den Kampf der revolutionären FARC-Guerilla Kolumbiens um Gerechtigkeit für die Landbevölkerung mit dem Kampf der nationalen Trans*-Bewegung um Anerkennung. Und bringt dann wie ein Symbol für beide den kolumbianischen Nationalbaum, die Quindío-Wachspalme, ins Bild. Diese kann während ihres Lebens das Geschlecht wechseln. Auch wenn Transfariana diesen grandiosen Bogen am Ende nicht mehr ganz zusammenbringt: Es sind Augenblicke wie dieser, die von den lateinamerikanischen Filmen der 73. Berlinale hängenbleiben.

Von Dominik Zimmer

Klischeehaft Szene aus Heroico (Foto: Teorema)

Im lateinamerikanischen Jahrgang 2023 konnten die nicht-fiktionalen Beiträge besonders überzeugen. Die meisten Preise für einen Film aus Lateinamerika erhielt auf der diesjährigen Berlinale El Eco. Das Werk der salvadorianisch-mexikanischen Filmemacherin Tatiana Huezo ist eine einfühlsame Beobachtung des Lebens einer kleinbäuerlichen Gemeinschaft in der Abgelegenheit der mexikanischen Hochebene. Sie gewann sowohl den Preis für den besten Dokumentarfilm der gesamten Berlinale als auch den Regiepreis der Encounters-Sektion, die neue filmische Visionen auszeichnet. Auch der beste Erstlingsfilm der Berlinale 2023 war eine Doku-Fiktion aus Lateinamerika: Adentro mío estoy bailando (The Klezmer Project; Argentinien/Österreich). Der Film von Leandro Koch und Paloma Schachmann präsentiert eine fiktionale Geschichte in Form einer Dokumentation. Sie handelt von der unterhaltsamen Reise eines jungen Filmemachers und einer Musikerin auf der vergeblichen Suche nach Überresten der Klezmer-Musik in Osteuropa. Sehenswert sind auch die Experimente mit Doku-Fiktionen in anderen Filmen: In O Estranho (Der Fremde; Brasilien) wird die indigene Vorgeschichte des heutigen Flughafens von São Paulo untersucht. In El Castillo (Das Schloss; Argentinien) versuchen eine ehemalige Haushälterin und ihre Tochter ein Landgut inklusive ererbtem schlossähnlichen Gebäude am Laufen zu halten. Bei zwei weiteren dokumentarischen Werken handelt es sich um bemerkenswerte Rückblenden auf die lateinamerikanische Geschichte. The Eternal Memory (Chile) ist eine emotionale Beobachtung der Demenzkrankheit eines chilenischen Politikjournalisten. El Juicio (Der Prozess; Argentinien) schließlich bereitet einen Gerichtsprozess zur Zeit der argentinischen Militärjunta wie einen spannenden Thriller auf.

Die fiktionalen lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2023 konnten dieses hohe Niveau leider nicht ganz erreichen: Lila Avilés‘ mexikanischer Wettbewerbsbeitrag Tótem punktete zwar mit authentischer Atmosphäre und schön gefilmten Bildern einer mexikanischen Geburtstagsfeier. Letztlich fehlte aber die inhaltliche Tiefe, um die Berlinale-Jury vollends zu überzeugen. Für einen Bären reichte es nicht. Dafür gewann der Film den Hauptpreis der ökumenischen Jury.

Ausgezeichnet Szene aus Hummingbirds (Foto: I Love You Chingos LLC)

Regelrechte Enttäuschungen waren die mit hohen Erwartungen in der Panorama-Sektion ins Rennen gegangenen Filme Heroico (Mexiko) und Propriedade (Brasilien). Mit zu klischeehaften Darstellungen einer Militärakademie und des Klassenkonflikts zwischen Großgrundbesitzer*innen und Angestellten eines Landguts verpassten sie ihre gut gemeinten Absichten. Stark dagegen war wie in den letzten Jahren die Präsenz Lateinamerikas in der Jugendfilmsektion Generation 14plus. Dort durften sich lateinamerikanische Filme über einen regelrechten Preisregen freuen: So zeichnete die Jugendjury die unkonventionelle Teenie-Komödie Adolfo (Mexiko) mit dem Gläsernen Bären aus: Darin suchen zwei Anti-Held*innen auf ihrem Weg durch die Nacht ein neues Zuhause für einen Kaktus. Die internationale Jury vergab sogar die Preise für den besten Kurz- und Langfilm nach Lateinamerika. Freuen durfte sich die autobiografische Feelgood-Doku Hummingbirds (USA/Mexiko), die das Leben von migrantischen Teenager*innen in der texanischen Grenzstadt Laredo zeigt. Der fiktionale Kurzfilm Infantaria (Brasilien), der Rollenkonflikte von Jungen und Mädchen an der Schwelle vom Kind zum*zur Jugendlichen thematisiert. Bereits letztes Jahr hatte die kolumbianische Doku Alice aus der Sektion Generation innerhalb des Festivals mehrere Preise gewonnen.

Ebenfalls bemerkenswert, wenn auch ohne Auszeichnung, waren die Coming-of-Age-Filme Mutt (Chile/USA/Serbien), Desperté con un sueño (Auch wenn ich nicht viel sage), Almamula (beide Argentinien) und Ramona (Dominikanische Republik). Sie stellen das Erwachsenwerden einfühlsam und aus vielfältigen (Gender-)Perspektiven dar. Sehr positive Überraschungen waren Entdeckungen aus der Sektion Perspektive Deutsches Kino: Hier wurden zwei halbstündige Abschlussarbeiten der Filmakademie Babelsberg mit lateinamerikanischem Blickwinkel präsentiert.

El secuestro de la novia (Die Entführung der Braut) zeigt die Geschichte einer deutsch-argentinischen Trauung in Brandenburg mit reichlich Fremdschäm-Alarms. Das Favela-Musical Ash Wednesday prangert hingegen mit den Methoden des Theaters der Unterdrückten die Polizeigewalt in Rio de Janeiro an. Beide Filme konnten dabei voll überzeugen.

Die nächste Gelegenheit, einen der Filme zu sehen, bietet sich im Sommer bei der Berlinale Open Air in den Freiluftkinos der deutschen Hauptstadt. Und wer die Vorfreude noch steigern möchte: Auf der LN-Homepage gibt es unter www.ln-berlin.de/kultur/film/berlinale Rezensionen aller lateinamerikanischen Filme der Berlinale 2023. Viel Spaß beim Lesen!

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