Dossier 20 - Sein oder Schein? | Editorial | Politik

// REALITÄTSABGLEICH

Die Redaktion

„Brüder und Schwestern, setzen wir uns für die Würde ein. Setzen wir uns für soziale Gerechtigkeit ein. Lasst uns Frauen das Patriarchat in unserem Land beseitigen. Setzen wir uns für die Rechte der vielfältigen LGBTQ+ Gemeinschaft ein. Setzen wir uns für die Rechte unserer Mutter Erde ein, unseres großen Hauses. Schützen wir unser großes Haus und die Artenvielfalt. Lasst uns gemeinsam den strukturellen Rassismus beseitigen.“ Die Schlussworte von Francia Márquez’ Rede nach ihrer Wahl zur Vizepräsidentin Kolumbiens im Juni 2022 beschreiben die Hoffnung, die den sozialen Aufbruch und den Aufruhr auf den Straßen in vielen lateinamerikanische Länder seit 2019 getragen hat. Millionen Menschen protestierten für mehr soziale Gerechtigkeit und waren dabei heftiger Repression ausgesetzt. Schüler*innen und Studierende, Feminist*innen und Indigene waren tragende Säulen vielfältiger Bewegungen, die auch dafür sorgten, dass ehemalige Aktivist*innen wie Francia Márquez und Gabriel Boric seitdem regieren.

Sexisten, Rassist*innen und korrupte Rechtspopulist*innen wurden dagegen zuletzt mehrfach nach Hause geschickt – rechte beziehungsweise rechtsextreme Kandidat*innen wie Rodolfo Hernández in Kolumbien, José Antonio Kast in Chile oder Keiko Fujimori in Peru mussten in die Opposition. Sollte sich nun am 30. Oktober Lula in der Stichwahl in Brasilien durchsetzen, würden die sieben bevölkerungsreichsten Länder Lateinamerikas „links“ oder „progressiv“ regiert. Zwei Jahrzehnte nach der sogenannten Pink Tide schwappt also wieder eine linke Welle durch Lateinamerika. Das gibt etwas Hoffnung in sonst sehr kruden Zeiten.

Doch was ist überhaupt links an den neugewählten Regierungen und was verbinden wir mit ihnen über die notwendige Abwehr von rechtsextremen Demagog*innen hinaus? Wie gehen wir damit um, wenn Gabriel Boric ganze Regionen im Süden Chiles zur „Terrorabwehr“ militarisiert? Wenn AMLO in Mexiko die Rolle des Militärs im Inneren immer weiter ausweitet, während das Schicksal zehntausender Verschwundener unaufgeklärt bleibt? Wenn die argentinische Regierung auf Fracking setzt oder Pedro Castillo in Peru gegen das Recht auf Abtreibung und queere Menschen schwadroniert? Wie nah Euphorie und Frust beieinander liegen können, zeigte sich ganz besonders in Chile, als der progressive Entwurf für eine neue Verfassung bereits nach einem halben Jahr Boric-Regierung auf breite Ablehnung stieß.

Ob die neuen Linksregierungen einen nachhaltigen Wandel auf den Weg bringen können – ob sie etwa mehr soziale Rechte und eine Abkehr vom Extraktivismus durchsetzen können – oder ob diese Erwartungen an fehlenden parlamentarischen Mehrheiten und leeren Staatskassen scheitern und am Ende Wunschdenken bleiben, wird sich erst zeigen. Anstatt eine neue Ära des sozialen und gesellschaftlichen Wandels zu feiern, wollen wir daher in diesem Dossier erst einmal genauer hinsehen. Für was stehen die neuen Regierungen im Einzelnen, welche Bündnisse gehen sie ein, gibt es über diskursive Fortschritte hinaus auch Perspektiven auf tatsächliche Transformationen?

Von der Hoffnung, dass der Staat für ein besseres Leben sorgt, haben sich nicht erst seit den Zapatistas viele emanzipatorische Bewegungen und Projekte bereits verabschiedet. Sie versuchen stattdessen, in kollektiver Eigenregie Fakten zu schaffen und Autonomie aufzubauen. Schlaglichthaft wollen wir Euch daher in diesem Dossier auch einige dieser Erfahrungen vorstellen. Sie haben im Hinblick auf konkrete Veränderungen oft schon einiges erreicht – trotz Repressionen von staatlicher Seite, auch von so mancher „Linksregierung“. Es bleibt zu hoffen, dass Regierungen wie die von Petro und Márquez oder Boric nicht die Bewegungen vergessen, die sie an die Macht gebracht haben.

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