Nicaragua | Nummer 200 - Februar 1991

Rechtsstaat und Revolution

Der Konflikt um die Lieferung nicaraguanischer Raketen an die FMLN

Das neue Jahr begann mit einem Paukenschlag in Nicaragua: Die Führung des nicaraguanischen Militärs (EPS) gab die Verhaftung von vier Offizieren bekannt, die im Oktober des vergangenen Jahres 28 Boden-Luft-Raketen der Typen SAM 7 und SAM 14 aus EPS-Beständen an die salvadorenische Guerilla FMLN weitergeleitet hatten. Den USA und den Ultrarechten Nicaraguas kam die Raketenaffaire gerade recht, um in ihrer Kampagne zur Auflösung des EPS als “Bastion des Sandinismus” fortzufahren. Innerhalb der FSLN selbst werden die Verhaftungen im Zuge der intensiven Auseinandersetzungen um die Neuorientierung sandinistischer Politik sehr kontrovers diskutiert.

H.C. Boese

Aufgeflogen war die Raketenlieferung an die FMLN, nachdem das salvadorenische Militär Reste einer von der FMLN abgefeuerten SAM 14-Rakete gefunden und an die USA weitergeleitet hatte. Die Sowjetunion identifizierte auf Anfrage der USA die Rakete anhand ihrer Fabrikationsnummer als Teil einer Raketenlieferung an Nicaragua aus dem Jahre 1986.
In ungewöhnlich scharfer Form verurteilte die Generalkommandatur des Sandinistischen Volksheeres die eigenmächtige Raketenlieferung durch vier ihrer langgedienten Offiziere. Deren Vorgehen stelle einen Angriff auf den revolutionären Prozeß in Nicaragua und den Frieden Zentralamerikas dar. Ex-Präsident Daniel Ortega warf den inkriminierten Offizieren Unverantwortlichkeit vor und befürchtete, daß die USA nunmehr die Sowjetunion dazu drängen werde, alle Raketen aus Nicaragua zurückzufordern..
Das sowjetische Militär entsandte wenige Tage nach Bekanntwerden der Waffenlieferung eine Kommission nach Nicaragua: laut Vertrag durften die von der Sowjetunion an Nicaragua gelieferten Waffen nicht weitergegeben werden.

Die Entpolitisierung des EPS

Die Raketenaffaire lieferte den USA und der ultrarechten Fraktion in der regierenden Rechtsallianz U.N.O. (Nationale Oppositions-Union) um den Vizepräsidenten Godoy neue Argumente in ihrem Versuch, den sandinistischen Ex-Verteidigungsminister Humberto Ortega von der Spitze des EPS abzulösen und eigene, von ihnen selbst kontrollierte Einheiten aufzubauen.
An der integrität der nach der Revolution aufgebauten Streitkräfte hat die FSLN naturgemäß ein vitales Interesse. Die ‘Professionalisierung” des EPS, d.h. sein Charakter als nationales, “unpolitisches”, Verfassung und Regierung verpflichtetes Militär, stand laut Humberto Ortega sogar unabhängig von der sandinistischen Wahlniederlage des vergangenen Februars auf der politischen Tagesordnung. Kürzlich konnte die FSLN zwei Erfolge im ständigen Tauziehen um das EPS erringen: Bei der Haushaltsdebatte Ende letzten Jahres wollten die Abgeordneten der U.N.O.-Parteien drastische Mittelkürzungen für das EPS verfügen, scheiterten aber am Veto der Präsidentin Violeta Chamorro und einer neuerlichen Abstimmung, die die Militärkürzungen in erheblich geringerem Umfang vornahm. Zudem wurde die gesamte EPS-Führung von der Präsidentin in ihren Ämtern wieder bestätigt, das Verteidigungsministerium bleibt weiterhin von der Präsidentin selbst verwaltet.
Während die Attacken von Verbänden der ehemaligen Contra in verschiedenen Landesteilen anhalten und die Kriminalitätsrate weiterhin steigt, schreitet die nach den Wahlen zwischen neuer Regierung und FSLN vereinbarte Reduzierung des EPS voran. Von 90.000 im Januar 1990 ist das EPS nun auf 28.000 Mitglieder. und zur kleinsten Armee Zentralamerikas geschrumpft. Zudem geben viele PolizistInnen ihren Dienst in der Sandinistischen Polizei auf, da die Gehälter kaum zum Überleben reichen.

Revolutionäre Prinzipien im Wandel der Zelten

Trotz der nach wie vor gespannten Situation im Land und der permanenten Versuche von seiten der Ultrarechten, die Sicherheitskräfte zu destabilisieren, wurde die Verhaftung der 4 Offiziere. die die Raketenlieferung an die FMLN mit revolutionären Prinzipien begründeten, vor allem aber der verurteilende Ton des entsprechenden EPS-Kommuniqués von Teilen der FSLN scharf kritisiert. Die “Sandinistische Jugend solidarisierte sich mit den Verhafteten und berief sich auf das Verfassungsgebot der internationalen Solidarität. Arián Meza, der Rechtsberater der sandinistischen Gewerkschaft CST,erlaubte sich den Hinweis, daß auch der Befreiungskampf der FSLN illegal war, und verwahrte sich gegen die moralische Disqualifizierung der Verhafteten, wie sie das EPS-Kommuniqué nahegelegt hatte. Auch innerhalb des EPS rührt der Waffentransfer an zweifelsohne bestehende Meinungsverschiedenheiten, die mit der Entlassung
des dem radikalen Flügel der FSLN zuzurechnenden Luftwaffenchef Pichardo im vergangenen Jahr (vgl. LN 196) ihren Höhepunkt erfahren hatten. Pikanterweise zählt mit dem schon im September in Ruhestand versetzten Ex-Major Odell Ortega einer der engsten Vertrauten Pichardos zu den Verhafteten. “Im EPS bekennt niemand mehr Farbe”, machte Odell seinem Unmut über die Entpolitisierung des EPS Luft.
Einig waren sich die meisten KommentatorInnen darin, daß die Unterstützung der FSLN für den Befreiungskampf E1 Saivadors in der Forcierung einer Verhandlungslösung bestehen müsse. Die Waffenlieferungen seien ein Verstoß gegen das Abkommen von Esquipulas, der nicht damit begründet werden könne, daß sich außer Nicaragua kein Land der Region, am wenigsten die USA an Esquipulas gehalten hätten.

Antiimperialismus und Soziale Marktwirtschaft -Die Programmdebatte in der FSLN

Die Diskussion um den Raketentransfer wird vor dem Hintergrund der Auseinandersetzungen um die Neuorientierung sandinistischer Politik geführt, die -wenige Monate vor dem Programmkongreß der FSLN -zunehmend an Tempo und Scharfe gewinnen. Manche Kommentare konstatierten in den vergangenen Wochen eine tiefe Identitätskrise der FSLN, andere fanden gerade in der Gegensätzlichkeit der Positionen Positives.
Victor Tirado, Mitglied der nunmehr 7-köpfigen Nationalleitung der FSLN, erklärte den Antiimperialismus mit dem Zusammenbruch des Realsozialismus für gestorben und sah in freien Wahlen, der sozialen Marktwirtschaft und regionaler Zusammenarbeit den derzeitigen Rahmen für die Politik Nicaraguas. “Was wir in der Vergangenheit als bürgerlich und reaktionär einschätzten, müssen wir heute als Mittel des revolutionären Kampfes im Rahmen der internationalen Legalität betrachten.” Nationalleitungs-Kollege Luis Carrión widersprach Tirados These vom verblichenen Antiimperialismus entschieden: “Der Antiimperialismus verliert erst dann seine Gültigkeit,. wenn der Imperialismus aufhört, Imperialismus zu sein.”
Die Raketenaffaire hat jedenfalls weiteren Zündstoff in die programmatischen Diskussionen der FSLN gebracht.
Die FMLN äußerte sich sehr zurückhaltend zum Waffentransfer. In einem Kommuniqué wies sie die Aussage der verhafteten nicaraguanischen Militärs zurück, FMLN-Kommandant Villalobos sei direkt an der Abwicklung des Geschäftes beteiligt gewesen: vielmehr hätten mittlere Führungskader in der Angelegenheit auf eigene Faust gehandelt.
Immerhin bedeuten die Boden-Luft-Raketen, wie die FMLN mit ihrer Offensive vom vergangenen November bewies, einen enormen militärischen Trumpf. Ein beträchtlicher Teil der SAM-Raketen stammt übrigens nicht aus Beständen des EPS, sondern -wie FMLN-Kommandant Facundo Guardado in einem Interview betonte -von den USA: die hatten die Raketen an die Contra geliefert, welche sie dann an die FMLN verkaufte.
Das Verhalten der UDSSR, die den USA bereitwillig bei der Identifizierung der Raketen zur Hand ging und sich nur sehr zurückhaltend zur US-Politik in E1 Salvador. und Zentralamerika äußerte, wurde in Kommentaren der sandinistischen Presse als unangenehmer Nebenaspekt der Raketenaffaire bewertet. Der Rechtsberater der Nationalen Arbeiterfront (FNT) Augusto Zamora schrieb in Barricada: “Was die UDSSR gemacht hat, zeigt, wie einsam wir jetzt in der Dritten Welt sind. Mit Bestürzung erleben wir die Kollaboration der Mächtigen, bei der wir, die Schwachen, die Verlierer sind.”
Diese Bitterkeit war in den meisten Kommentaren zu spüren; gerade auch in jenen, die keine Alternative zum Vorgehen der EPS-Führung sahen in einer Situation, da die Stabilität des nicaraguanischen Militärs, abhängig von seiner Loyalität zu Verfassung und Regierung, unabdingbar für die Stabilität Nicaraguas ist.

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