Nummer 288 - Juni 1998 | Sport

Reggae Boys im Beat-Rhythmus

Im jamaicanisch-englischen Cocktail stimmt noch die Chemie

Gemeinhin wird Jamaica mit dem leidenschaftlichen Freizeitfußballer Bob Marley und dem Reggae verbunden. Eine Brücke zu schlagen von Marley zum jamaicanischen Fußballnationalteam ist nicht schwer. In den Medien und im Voksmund werden die Spieler ob ihrer musikalischen Vorlieben schlicht Reggae Boys gerufen. Mit der erstmaligen WM-Qualifikation haben die Boys eine Euphorie auf der Insel entfacht, die ihresgleichen sucht. Wenn die Nationalmannschaft spielt, herrscht der positive Ausnahmezustand. Eine ganze Insel fiebert, tanzt und feiert friedlich, ohne die sonst alltägliche Gewalt.

Martin Ling

Länderspiele werden in Jamaica nicht gespielt, sondern zelebriert. Meistens beginnen die Spiele um 15 Uhr oder 17 Uhr Ortszeit. Es gibt aber Ausnahmen. Zum Beispiel wenn gegen die USA gespielt wird. High Noon war als Spielbeginn angesagt, als die kleine, geschärfte Axt versuchte, den großen Baum USA zu fällen und sich die Mittagshitze als Mitspieler erhoffte. Das Spiel endete 0:0 und bildete den Auftakt der WM-Qualifikationsendrunde der Nordamerika/Mittelamerika/Karibik-Zone (CONCACAF). Oder als beim letzten Qualifikationsspiel alles auf dem Spiel stand: Simultaner Anpfiff in Boston und in Kingston um 14 Uhr. Der Grund: Jamaica und El Salvador kämpften um den dritten und letzten nach Frankreich führenden Platz in der CONCACAF-Gruppe. El Salvador mußte gegen die USA gewinnen, Jamaica reichte gegen Mexiko ein Unentschieden. El Salvador verlor 2:4, Jamaica spielte 0:0. Damit war etwas vollbracht, was der Ministerpräsident Percival James Patterson als den „zweifellos größten Tag in Jamaicas Sportgeschichte“ bezeichnete. Im Anschluß fand die größte Feier seit der Unabhängigkeit des Landes am 6. August 1962 statt. In Montego Bay ließen sich die Fans auch von strömendem Regen nicht abhalten, mit dröhnendem Gehupe und Scheinwerferblenden ein Autokorso zu veranstalten. Tagelang wurden Leuchtraketen in den karibischen Himmel gefeuert. Auf den Straßen tanzten die Leute zur Musik, die aus riesigen Lautsprecherwänden dröhnte.
Egal, wann die Spiele im „The Office“ genannten Nationalstadion in Kingston beginnen, das Szenario ist fast immer das gleiche: Die letzten drei Heimspiele waren alle ausverkauft. Offizielle Zuschauerzahl: 35.000. Meist drängen sich jedoch einige mehr ins Stadion, begünstigt durch Baufälligkeiten, die den Zugang ohne Ticket ermöglichen. Die Kontrollen wurden jedoch von Spiel zu Spiel verschärft – schließlich ist die Stadionkatastrophe vor einem Jahr in Guatemala noch allzu gut in Erinnerung, als über 80 Menschen in einer Massenpanik zu Tode gedrückt wurden.

Ganz Kingston feiert

Spieltage sind Festtage. Schon in den frühen Morgenstunden sorgen die Fans für einen Ausnahmezustand in Town, wie Kingston mangels anderer Großstädte auf der Insel genannt wird. Ab spätestens neun Uhr morgens herrscht reges Treiben rund um das Stadion, drei Stunden vor dem Anpfiff ist es bereits zur Hälfte gefüllt, 90 Minuten davor gerammelt voll. Es wird schließlich einiges geboten außer Fußball: DJ’s sorgen für Unterhaltung, bis Spielbeginn dröhnt unablässig Reggae-Musik aus den unzähligen auf der Tartanbahn aufgestellten Boxen. In der Halbzeitpause dann gibt sich die Prominenz der Reggae-Szene das Mikro in die Hand, um mit kurzen Live-Acts das Publikum auf die zweite Hälfte einzustimmen, so Bounty Killer und Beenie Man beim vorletzten Heimspiel gegen Costa Rica. Gegen Mexiko war es die lebende Legende Jimmy Cliff, der mit „Many Rivers to Cross“ und „The Harder They Come“ das Publikum zu Begeisterungsstürmen hinriß.
Während des Spiels dagegen legt das jamaicanische Publikum ein aus europäischer Sicht eher ungewöhnliches Verhalten an den Tag. Es gibt keine ausdauernden Fangesänge, stattdessen herrscht, wenn der Gegner in Ballbesitz ist, angespannte Ruhe. Bei jeder vergebenen Chance der Gäste und jedem jamaicanischen Ballgewinn kommt dann eine Begeisterung auf, die sich dann in Richtung Ekstase entwickelt, wenn sich die Jamaicaner Torchancen erspielen. Das ist ziemlich selten der Fall, denn Jamaica praktiziert eine extrem kontrollierte Offensive, wie es der auf Jamaica eher unbekannte Otto Rehagel Bezeichnen würde. Ein Libero hinter der Abwehr, einer davor, zwei Innen- und zwei Außenverteidiger. Oberstes Ziel ist der Ballbesitz. Der wird dann in den eigenen Reihen gehalten, der Gegner ins Leere laufen gelassen. Hin und wieder erfolgt ein Paß in die Tiefe, auf die zwei in England spielenden Stürmer Deon Burton (Derby County) und Paul Hall (Portsmouth).

Verstärkung aus England

Seit der Rückrunde Anfang September bilden sie den Sturm der Reggae Boys. Zusammen mit den anderen „Engländern“, Mittelfeldregisseur Fitzroy Simpson (Portsmouth) und dem Ergänzungsspieler Robby Earle (Wimbledon) wurden sie während der karibischen Meisterschaft und in Freundschaftspielen in der Pause bis zum Rückrundenstart getestet, als „Beatles“ getauft und in die Reggae Boys integriert. Beatles und Reggae Boys – ob das wohl paßt? Es paßt. Inzwischen verstehen sie sich so gut, als ob sie in einem schwarz-gelb-grünen U-Boot zusammenleben würden, so die weitverbreitete Meinung. Dabei gab es nach Erreichen der Endrunde im Dezember 1996 heftige Diskussionen, ob die Reggae Boys mit Spielern aus Übersee verstärkt werden sollten. Nein, meinte die Mehrheit. Dies würde eine Zurücksetzung der Inselspieler bedeuten, die mit dem Erreichen der Endrunde der WM-Qualifikation schon den bis dahin größten Erfolg in der Fußballgeschichte des Landes bewerkstelligt hatten. Der Verband schloß sich dieser Position an, so daß die Vorrunde nur mit einheimischen Spielern, zwei Toren und fünf Punkten bestritten wurde. Der Zug nach Frankreich schien schon abgefahren und die Diskussion, ob man nicht doch auf „englische Spieler“ zurückgreifen sollte, entbrannte erneut. Diesmal setzte sich der brasilianische Trainer Rene Simoes durch. „Wir müssen unsere Offensive stärken, dafür brauchen wir die „Engländer“. „Aber sie bekommen keine Extrabrötchen, sie müssen in den gleichen Hotels schlafen und bekommen das gleiche Essen wie die anderen. Wenn sie das nicht akzeptieren, brauchen sie gar nicht erst zu kommen.“ Neun kamen und die erwähnten vier bestanden den kombinierten Spiel- und Charaktertest. Kein Spiel ging seitdem mehr verloren und alle fünf Tore erzielten die „Engländer“, vier Burton, eins Hall. Das reichte für zusätzliche neun Punkte, den dritten Platz hinter Mexiko und den USA und das von der Privatwirtschaft initiierte Förderprogramm „Road to France“ wurde mit Erfolg gekrönt.

Sponsor Privatwirtschaft

Das Förderprogramm umschließt einen Sponsorenpool privater Unternehmen und leistete einen entscheidenden Beitrag für den Aufschwung der Reggae Boys. Es ermöglicht dem Verband, den Nationalspielern ein monatliches Grundgehalt zu zahlen, damit diese nicht mehr nebenher jobben müssen. Denn bis heute gibt es in Jamaica kaum einen Verein, der seinen Spielern mehr als ein Butterbrot zahlen kann. Selbst ein Starspieler wie der Spielmacher und stellvertretende Kapitän Theodore „Tapper“ Whitmore bekommt von seinem Verein nur 20.000 Jamaica-Dollar im Monat, das sind gerade mal gut 1000 DM. Nicht zuetzt deshalb spielen in Jamaicas Premier League überwiegend Kicker der Jahrgänge 1973 bis 1982. „Spätestens mit 25“, sagt Whitmore, „mußt du dich entscheiden: Job oder Fußball.“ Neben dem Sponsorenpool rief Nationaltrainer Simoes noch ein weiteres Programm ins Leben: „Adopt a player“. Er forderte die Privatwirtschaft auf, einzelne Nationalspieler direkt zu unterstützen. Mit Erfolg: „Tapper“ Whitmore wird so zum Beispiel von einer Zementfabrik gesponsert und bekommt damit um die 2000 DM zusätzlich. Finanzielle Hilfe für die für ihn am 5. August anstehende Grundsatzentscheidung: Dann wird er nämlich 26 Jahre alt. Hinter Torhüter und Mannschaftskapitän Warren Barrett steht das Kultbier „Red Stripe“. Zu Werbezwecken wird er deshalb innerhalb einer Flasche abgebildet, was aber mit Sicherheit keine Anspielung auf seine Leistung ist, denn seinen Spitznamen „The Rock“ verdankt er seiner Unbezwingbarkeit im heimischen Kingston. Während der gesamten Qualifikation mußte er in sage und schreibe neun Spielen kein einziges Gegentor hinnehmen. Der umstrittenste und wohl populärste jamaicanische Kicker, Walter „Blacka Pearl“ Boyd, wird von einem Bankenkonsortium gesponsert. Boyd war der beste und erfogreichste jamaicanische Stürmer der letzten Jahre – bis die „Engländer“ kamen. Seine fehlende Treffsicherheit zu Beginn der Endrunde, vor allem aber seine Kritik am Führungsstil des Trainers Simoes kostete ihn seinen Stammplatz.

Autokratischer Führungsstil

Der autokratische Führungsstil von Simoes ist bekannt und umstritten – der Erfolg hielt die Kritik jedoch in Grenzen. Boyd beklagte sich als einziger öffentlich: „Er behandelt einen wie einen Niemand oder einen Idioten. Er will Gott in deinem Leben spielen. Wenn du nicht springst, wenn er es sagt, heißt es, Dir fehlt die Disziplin.“ Vermutlich fehlt Boyd nun zumindest das Ticket nach Frankreich, so daß er sich die WM in Kingstoner Kneipen anschauen muß. Allerdings ist Boyd kein Unschuldslamm. Schlägereien auf dem Platz gehören ebenso zu seinem Repertoire wie unentschuldigtes Fernbleiben vom Training oder von öffentlichen Auftritten der Reggae Boys. Und Simoes, der tiefgläubige und häufig ein „Jesus saves“ T-Shirt tragende Brasilianer, schwört auf Disziplin und geistlichen Beistand. „Ich habe einen starken Glauben und ich denke, das hilft, das Team zusammenzuschmieden. Wir nehmen einen geistlichen Beistand mit zur WM und ich hoffe, daß die Spieler darauf ansprechen.“ Was die Spieler davon halten, bleibt geheim, denn Kritik ist – wie gesehen – gefährlich.

Kritische Presse

Offene Kritik kommt von der Presse. Vier „englische“ Spieler sind genug, so der Tenor, nachdem Simoes selbstherrlich angekündigt hatte, bis zu 10 „englische“ Spieler mit zur WM mitnehmen zu wollen, vor allem um die Disziplin in der Truppe zu fördern. Tony Becca, Kolumnist der größten und ältesten jamaicanischen Tageszeitung The Gleaner verlieh der Meinung der Mehrzahl der Fans Ausdruck: „So wichtig es ist, in Frankreich eine gute Show zu bieten, Jamaica gut zu verkaufen und Devisen zu verdienen, ist es richtig, daß Jamaicaner, die in der Qualifikation spielten, zu Hause bleiben müssen? Ist es gegenüber den jungen Jamaicanern fair, die eine gute Leistung gebracht haben und von Frankreich als Vorzeigebühne geträumt haben, auf der sie einen Vertrag von einem europäischen Verein ergattern könnten, wenn jetzt andere aus „England“ an ihrer Stelle mitfahren?“ Der 44jährige Simoes zeigte sich gewohnt uneinsichtig: „Ich kümmere mich nicht darum, was die Leute denken. Wenn die englischen Spieler jamaicanischer Herkunft in den Tests gut spielen, werden sie spielen.“ Simoes gab jedoch an, daß er die Chemie innerhalb der Mannschaft nicht stören wolle und er deshalb die Integration von neuen „englischen“ Spielern immer mit den erfahrenen Spielern absprechen würde. „Wenn’s die Chemie stört, werde ich sie wieder zurückschicken.“ Wie immer er sich auch entscheidet, die Insel wird rückhaltlos hinter ihren Reggae Boys stehen. Und deren Ehrgeiz ist groß. Keeper Barett meinte, ein bißchen mehr als die Gruppenspiele dürfe es schon sein.
Vielleicht kommt es ja zum Achtelfinale aller Achtelfinale: Jamaica gegen England. Der Spielplan läßt dies zu und spätestens dann werden in Deutschland Überlegungen über den Import jamaicanischer Fußballer angestellt. Einen solchen gab’s übrigens schon in den siebziger Jahren. Beverly Rangers war damals der Star im deutschen Frauenfußball und ging in die Annalen der deutschen Fußballgeschichte ein: Ihr gelang es als erster Frau, das Tor des Monats zu erzielen.

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