Bolivien | Nummer 331 - Januar 2002

Regieren auf Raten

In seiner kurzen Amtsperiode als Präsident hat es Jorge Quiroga mit aufsässigen Bauern und verbohrten Chilenen zu tun

Jorge Quiroga, Nachfolger des Militärdiktators und Ex-Präsidenten Hugo Banzer, versucht Punkte für eine neue Präsidentschaft in sechs Jahren zu sammeln. Die jetzige endet August 2002. Bis dahin will er den US-finanzierten Plan Dignidad im Kokaanbaugebiet Chapare umgesetzt haben. Dieser soll den Kokakulturen den Garaus machen und einen Milliarden-Vertrag mit internationalen Gasfirmen durchsetzen, um das energiekrieselnde Kalifornien zu beliefern. Wären da nicht der fehlende Zugang zum Meer und die Kokabauern unter Evo Morales.

Tommy Ramm

Alles ist erlaubt, wenn es gegen den Feind geht. Nach diesem Motto wendete sich General Victor Hugo García auf einer im November einberufenen Konferenz zur „Nationalen Sicherheit und Bedrohung durch den Terrorismus“ gegen die Bauern, die auf den Zufahrtsstraßen zum Tiefland gerade neue Straßensperren errichteten. „Das Blockieren unserer Straßen ist die Basis zur Ausführung von terroristischen und subversiven Plänen“, so der General. „Dafür kommen zwei Organisationen in Frage: die Bewegung der Kokabauern und die der Indigenen. Beide haben die besten Voraussetzungen für eine terroristische Bewegung.“
Um seine Meinung zu untermauern, ließ er seine Männer auf die Blockierer schießen. Am 15. November eröffneten Soldaten Nahe der Ortschaft Senda Seis im Chapare das Feuer auf etwa 400 Bauern. Drei wurden getötet und Dutzende verletzt. Laut Augenzeugenberichten soll mindestens einer der Toten von hinten erschossen worden sein. Ein weiterer wurde in seinem Haus von Soldaten erschossen.
Seit Jahren kommt es immer wieder zu Zusammenstößen zwischen Kokabauern in der Tieflandregion des Chapare und Soldaten. Stein des Anstoßes war diesmal das Ende Oktober verabschiedete Gesetz 1008, das den Bauern jeglichen Anbau von Koka in Zukunft abspricht – ausgenommen streng kontrollierte Anpflanzungen für traditionelle Zwecke wie Kokatee. Betroffen davon sind 35.000 Familien in der Region, die bisher vom Kokaanbau leben. Evo Morales, Kopf der Kokabauernbewegung und Abgeordneter im Parlament, blies kurz danach zum Protest und legte seit dem 5. November mit Tausenden Bauern die Hauptverkehrsadern des Landes zum Tiefland lahm.

Kein Straucheln auf der Zielgeraden

So trat genau das ein, was Präsident Quiroga vermeiden wollte. Schließlich sah er das Gesetz als letzten Akt zur Durchsetzung des Plan Dignidad, der unter der militärischen Kampagne „coca zero“ zur Auslöschung der Pflanze in seinem Land führen soll. Umso gereizter reagierte er folglich, denn ein Straucheln zur Planerfüllung wollte er sich nicht leisten. „Weder Blockaden noch Drogenhandel“, marginalisierte er die Anliegen der Bauern und schickte 5000 Soldaten in die Region, um eine Ausweitung der Proteste zu verhindern.
Bei 261 Operation zwischen dem 5. Oktober und dem 15. November zerstörte die Spezialeinheit zur Drogenbekämpfung FELCN 219 Laboratorien zur Herstellung von Kokapaste, dem Vorprodukt von Kokain. Neben 37 Festgenommenen stellten die Behörden Waffen, 47 Kilogramm Kokapaste sowie umfangreiche Mengen an Chemikalien zur Kokainherstellung sicher.
Die Blockaden beenden konnte das massive Militär-Aufgebot jedoch nicht. Nach den ersten Toten sah sich die Regierung gezwungen, die Kokabekämpfung vorerst auszusetzen, um sich mit den Vertretern der Bauern an den Verhandlungstisch zu setzen. Diese forderten vehement das Recht ein, dass jede Familie rund 1600 Quadratmeter Koka anbauen darf. Sie verwiesen darauf, dass bisherige Versuche der Substitution durch Früchte oder Gemüse fehlgeschlagen seien, da in Bolivien der Markt dafür nicht existiere.
Zwar gab die Regierungskommission dieser Forderung nicht nach, aber man bot den Bauern an, in den nächsten 15 Monaten eine Unterstützung für diejenigen zu zahlen, die zu einer landwirtschaftlichen Umstellung bereit sind. Demnach erhält jede Familie pro Hektar und Monat eine Finanzspritze von rund 170 DM.
Zwischen den Verhandlungsgruppen gab es zunächst darüber Konsens, bis die Regierung am 25. November überraschend ankündigte, die Kokabekämpfung sofort wieder aufzunehmen.

„Zum Kotzen“

„Es ist zum Kotzen“, soll der Landwirtschaftsminister Walter Nuñez gesagt haben, als er den Verhandlungstisch verließ. Ob es die Gespräche, die Ankündigung des Präsidenten oder letztendlich dessen Ursache war, ließ er offen. Letztere suchen Beobachter in dem Druck, der aus der US-Botschaft kam. Der Botschaftsvertreter Manuel Rocha warnte Quiroga vor der Nicht-Erfüllung der gesteckten Ziele des Plan Dignidad. Bis zum August nächsten Jahres sollen die restlichen 7000 Hektar Koka vernichtet sein. Unmissverständlich machte der Botschafter darauf aufmerksam, dass mit einer Aussetzung der Bekämpfung der Geldhahn zugedreht werden könnte. Immerhin sind 70 Millionen US-Dollar für Plan Dignidad noch nicht ausgezahlt, für den angeschlagenen bolivianischen Staatshaushalt eine unabkömmliche Summe.
Die in den letzten zwölf Jahren durch den Plan Dignidad ins Land geflossenen Dollar wurden nicht nur zur Bekämpfung des Koka verwendet, sondern auch für infrastrukturelle Maßnahmen. Im Dezember befand sich Präsident Quiroga in den USA, um weitere finanzielle Unterstützung zu erhandeln.
Nur spielt Quiroga eine gefährliche Karte. Während er auf Reisen ist, kann es in seinem Land zu weiteren Auseinandersetzungen kommen, die bisherige Formen übersteigt. Bei weiteren Aktionen ist mit einer geschlosseneren Bewegung im ganzen Land zu rechnen, die bisher als heillos zerstritten galt. Felipe Quispe oder der „Mallku“, der im Hochland die Bauern anführt (LN 320/324), hat Evo Morales Unterstützung für die Aktionen der Kokabauern im Tiefland angeboten. Eine landesweite Blockade ist zukünftig nicht mehr ausgeschlossen. Unlängst drohte Morales gar mit der Schaffung einer eigenen „Nationalen Koka-Armee“, um die Bauern gegen die militärische Kokavernichtung zu schützen. Die Regierung reagierte darauf aber nicht.

Alte Wunden heilen nicht

Quiroga widmete sich nämlich zur gleichen Zeit auf dem Iberoamerikanischen Gipfel einem anderen Thema: seinem Nachbarn Chile. Nachdem man im Süden Boliviens unerhofft große Mengen an flüssigem Erdgas entdeckt hatte, sah man endlich eine Lösung für den chronischen Devisenmangel. Man verlegt eine Pipeline bis an einen Hafen, schifft das Gas in Spezialschiffen nach Mexiko, wo es aufbereitet wird, und verkauft es billig weiter an den kalifornischen Endverbraucher, der bekanntlich an Stromausfällen wegen Energiemangels zu leiden hat.
Nur fehlt der Hafen. Im Geiste fast jeden Bolivianers ist der nördliche chilenische Wüstenstreifen eigentlich bolivianisch, für die Chilenen eben nicht, wie deren Präsident Ricardo Lagos seinem Kollegen Ende November in Lima klar machte. Dort hatte Quiroga versucht, Lagos ein Zugeständnis abzuringen, das den Bolivianern die Nutzung des Hafens Mejillones erlauben soll. Als Quiroga den Bogen zu weit spannte und eine eigene Verwaltung zur Sprache brachte, lehnte Lagos ab. „Zuerst das Gas, dann alles andere.“ Als Quiroga ohne Abkommen nach La Paz flog, hagelte es Kritik. Er habe sich mit der Forderung um eine Verwaltung des Hafens zu weit aus dem Fenster gelehnt, so die Opposition.
Was denen lieber ist, lässt sich schwer sagen. Zu tief sitzt weiterhin die Demütigung nach dem Verlust des Meereszugangs an Chile im Jahre 1879. Auf das Angebot von Lagos, die seit 1978 eingefrorenen diplomatischen Beziehungen wieder zu aktivieren, reagierte die Opposition denn auch erbost. „Wir haben die Beziehungen abgebrochen. Also sind wir es, die entscheiden, ob sie wieder aufgenommen werden“, zürnte der Abgeordnete der “Linken Revolutionären Bewegung” MIR Hugo Carvajal. Immer sei diese Entscheidung mit der Frage des Meereszugangs verbunden gewesen, so Carvajal. Es wäre „ein historischer Fehler“.
Für die Regierung wäre er fünf Milliarden US-Dollar wert, wie Quiroga deutlich macht. Ein Konsortium aus mehreren internationalen Gasfirmen will so viel für die Verlegung einer Pipeline berappen. Aber nach Chile, weil alles andere zu weit und zu teuer wäre.

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