Film | Nummer 480 - Juni 2014

Reich mir deine Flosse

Der preisgekrönte mexikanische Spielfilm Der Wundersame Katzenfisch besticht durch Lebensnähe und seine behutsame Erzählweise

Eva Bräth

Morgengrauen in der mexikanischen Großstadt Guadalajara. Inmitten der Dunkelheit ihres spärlich eingerichteten Zimmers quält sich Claudia, gespielt von Ximena Ayala, aus dem Bett. Gedankenverloren starrt sie auf ihr Müsli und sortiert die Fruitloops nach Farben. Die violetten drapiert sie auf dem Sofa für die Ameisen, während sie den Rest lustlos isst. So stellt die Tragikomödie Der Wundersame Katzenfisch seine Protagonistin und ihren eintönigen Alltag vor. Die Nahaufnahmen aus der Handkamera der renommierten Kamera­frau Agnes Godard verbinden sich mit einer ungewöhnlichen Geräuschkulisse. Hörbarer Atmen, das monotone Surren von Maschinen und tropfendes Wasser bewirken, dass das Publikum sich unmittelbar in den Mikrokosmos der jungen Frau versetzt fühlt. Bereits diese ersten Bilder aus dem Debüt der mexikanischen Filmemacherin Claudia Sainte-Luce transportieren den Hauptgegenstand des Films auf eindringliche Weise: Im Mittelpunkt steht die Einsamkeit einer jungen Frau.
Erst nach und nach dringt die Außenwelt in das Geschehen ein. Claudia macht sich mit dem Bus auf den Weg zu ihrer Arbeit in einem örtlichen Super­markt, in dem sie wahlweise als Promoterin für Wurstwaren oder Enthaarungswachs arbeitet. Doch auch im grellen Kunstlicht der Warenwelt, die in Kontrast zur Dunkelheit der bewohnten Garage steht, zeigt sich Claudia wortkarg und wenig an Beziehungen zu Mitmenschen interessiert. Ihr Leben, das von der Routine aus Arbeiten, Essen und Schlafen bestimmt wird, kommt durcheinander, als sie wegen einer Blinddarmentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wird. Der Zufall will, dass sie dadurch ihre Isolation überwindet.
Nicht nur Claudia, sondern auch die Zuschauer_innen werden plötzlich mit dem Stimmengewirr und dem chaotischen Herumwuseln konfrontiert, das die Familie der Bettnachbarin verursacht. Die Töne und Bilder folgen nun einer völlig anderen Dynamik als in den vorangegangenen Szenen. Als Claudia neugierig hinter den Vorhang lugt, der die beiden Patientinnen voneinander trennt, lernt sie Martha (Lisa Owen) und deren turbulente Familie kennen. Alle Zurückhaltung von Claudia hilft nichts – nach der Entlassung wird sie von der hilfsbereiten Martha kurzerhand in den gelben VW-Käfer der Familie verfrachtet und zum Essen nach Hause eingeladen. Angesichts des ihr unbekannten Familientrubels mit den vier Kindern, ist Claudia hier sichtlich überfordert. Dennoch wird sie in den Alltag der Familie regelrecht „hineingezogen“ – der mehrfache Versuch, in die eigenen vier Wände zurückzukehren, scheitert.
Während Martha erneut ins Krankenhaus gehen muss, wird Claudia von deren Kindern zur Übernahme von familiären Aufgaben überredet. Ehe sie sich versieht, wohnt sie im Haus der Familie, bringt die beiden jüngeren Geschwister Mariana und Armando zur Schule, ist Ansprechpartnerin für Probleme der beiden erwachsenen Töchter Wendy und Alejandra und Spielgefährtin Armandos. Aus den Augen der immer noch schüchternen, aber zunehmend auftauenden Hauptfigur lernt das Publikum Marthas Familie kennen. Die alleinerziehende Mutter und ihre Patchwork-Familie brechen völlig mit konservativen Familienvorstellungen – stammen die Kinder doch von drei unterschiedlichen Vätern, die während der gesamten Handlung nicht in Erscheinung treten. Aufgrund der auffälligen Abwesenheit männlicher Darsteller wird der Film als Statement für Frauenpower und Solidarität unter Frauen gehandelt. Von ihrem zweiten Ehemann wurde Martha mit HIV infiziert. Da sie unter regelmäßigen Schwächeanfällen leidet, ist sie auf die Unterstützung und den Zusammenhalt der Kinder angewiesen: Die Älteren bringen die Jüngeren zur Schule, Nesthäkchen Armando kümmert sich um die Wäsche. Reibungslos und konflikt­frei funk­tioniert das natürlich nicht. Indem die Regisseurin den Charakteren einen gesunden Egoismus und eigene Interessen zugesteht, anstatt sie als aufopferungsvoll und vom Schicksal gezeichnet in Szene zu setzen, verhindert sie, in eine melodramatische oder rührselige Erzählweise zu verfallen. So wird am Krankenbett darum gestritten, ob Alejandra oder Wendy in der Nacht bei der Mutter bleibt, wer auf Armando aufpassen und aufs Ausgehen verzichten muss. Die Krankheit steht aber nicht im Mittelpunkt der Handlung. Die Geschichte bleibt die von Claudia, die überraschend eine Familie findet, und durch den paradox anmutenden Optimismus Marthas Lebensfreude gewinnt. Die Namensgleichheit von Autorin und Protagonistin ist dabei kein Zufall – die Handlung ist dem Privatleben von Claudia von Sainte-Luce entlehnt.
Mit der Zeit wird immer deutlicher, dass die Familie auf Claudia angewiesen ist. Sie ist nicht nur Ansprechpartnerin für übliche Probleme von Teenagern und jungen Erwachsenen. Angedeutet werden auch psychische Probleme von Wendy, die sich selbst verletzt und Armando, der Bettnässer ist. Je nachdem, was gefordert ist, nimmt Claudia die Rolle der Mutter, Schwester, Freundin oder Adoptivtochter ein. Eine besondere Zuneigung empfindet sie für Armando, den sie mit dem Kauf eines Fisches für sein Aquarium mit der Aufschrift „los insólitos peces gato“ (die wundersamen Katzenfische) große Freude bereitet. Laut Regisseurin hat dieses Requisit sie dazu bewogen, vom ursprünglich geplanten Filmtitel „Die Begegnung“ abzurücken. Der jetzige Titel inspiriere sich aus einem gleichnamigen Aufsatz über Welse (auf spanisch pez gato) und deren Lebensart in Gruppen.
Die Probleme der einzelnen Charaktere werden dabei nur angerissen. Ebenso werden die Hintergründe für Claudias Einsamkeit nicht detailliert offengelegt. Im Gesamtarrangement des Films wirkt dies aber nicht oberflächlich oder lückenhaft. Vielmehr folgt es der Logik, erst einmal unvoreingenommen an die Dinge heranzugehen, ohne dabei feste Interpretationsmuster vorzugeben und ins Dramatische abzugleiten.
Bei der gemeinsamen Reise an den Strand, eingequetscht in den kleinen gelben Käfer, kommt es einmal mehr auf den Zusammenhalt untereinander an. Familie, so lehrt der Film, ist nichts, was durch Verwandtschaft, sondern durch Zuneigung und gegenseitige Unterstützung entsteht. Obgleich weder die Hauptaussage noch das Sujet besonders originell sind, besticht der Film durch die lebensnahe und behutsame Erzählweise und die Stärke, inmitten einer tragischen Situation Momente der Komik und des Glücks herauszufiltern.

Der Wundersame Katzenfisch// Claudia Sainte-Luce /Drehbuch und Regie//Mexiko 2013// 89 min// ab 10. Juli

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