Bolivien | Nummer 391 - Januar 2007

Renaissance der Rechten

Ein Jahr nach Evo Morales‘ Wahlsieg lässt die Opposition die Muskeln spielen

In Bolivien nimmt der Widerstand gegen die Politik der linken MAS-Regierung zu. In den Provinzen Santa Cruz, Pando, Beni und Tarija gehen seit Monaten Hunderttausende zu Protestmärschen auf die Straße. Die Forderungen der Demonstrierenden: weitgehende Autonomierechte für die vier Provinzen und größere Mitbestimmungsrechte in der Verfassungsgebenden Versammlung.

Gerhard Dilger

Raúl Prada redet Klartext. „Ich glaube, die Volksversammlung (cabildo) in Santa Cruz ist ein Sieg der Opposition und eine Niederlage für uns“, sagte der profilierte linke Abgeordnete von der Bewegung zum Sozialismus (MAS) am 15. Dezember. Zuvor waren in den Städten Santa Cruz de la Sierra, Tarija, Trinidad und Cobija Tausende Menschen in so genannten cabildos zusammen gekommen, um ihrer Ablehnung gegenüber der derzeitigen Regierungspolitik Ausdruck zu verleihen. Das linke Radionetzwerk Erbol sah in den Massenprotesten sogar eine „Wiederauferstehung der Rechten“. Dabei hatte die Regierung noch gut zwei Wochen vorher einen ihrer größten Erfolge gefeiert: Bei der entscheidenden Senatsabstimmung über das neue Agrarreformgesetz kon­nte sie drei Senatoren der Opposition auf ihre Seite ziehen. „Nun haben wir das legale Instrument, um mit den Großgrundbesitzern in Ostbolivien aufzuräumen“, hatte Morales gejubelt.

Umstrittene Abstimmungsregeln

Doch nun steht die von Morales angestrebte nationale Einheit vor einer Zerreißprobe. Denn während die Regierung beim Tauziehen mit den Energiemultis mehr nachgab, als die Rhetorik von der „Nationalisierung“ der Erdgasindustrie vermuten lässt, verhält sie sich in der Verfassungsgebenden Versammlung stur. Seit den Wahlen im Juli hält die MAS dort die absolute Mehrheit der Sitze. Anfang August trat die Versammlung in der Hauptstadt Sucre erstmals mit dem Ziel zusammen, ein neues Grundgesetz für das Land auszuarbeiten. Bisher hat man sich aber nicht einmal über die Geschäftsordnung verständigen können. Zwar hatten sich Regierung und Opposition im März darauf geeinigt, dass die Artikel der neuen Verfassung einer Zustimmung von mindestens zwei Drittel der 255 ParlamentarierInnen bedürften. Doch bald ruderte Morales zurück und wollte diese Bestimmung nur auf den abschließenden Verfassungstext bezogen wissen. Die einzelnen Artikel sollten nun mit einfacher Mehrheit angenommen werden können – die Zustimmung der Oppositionsparteien wäre demnach nicht mehr erforderlich. Über diesen Passus wird seither gestritten. Dass die Verfassung wie geplant im August 2007 in Kraft treten könnte, wird immer unwahrscheinlicher.
Seitdem die MAS-Mehrheit Mitte November die Position durchgesetzt hatte, die einzelnen Artikel mit einfacher Mehrheit zu verabschieden, ging nichts mehr in Sucre. Zunächst traten die Abgeordneten der Mitte-Rechts-Partei Nationale Einheit (UN) in den Hungerstreik. „Uns droht eine Regierung wie die von Fujimori in Peru“, sagte UN-Chef Samuel Doria Medina, der dreizehn Tage lang auf einem Matratzenlager im Plenarsaal des Parlaments hungerte. „Die MAS will alles alleine entscheiden, aber ohne Gegengewicht gibt es keine Demokratie. Und bei der Schlussabstimmung können sie uns mit dem Druck der Straße ausschließen und so die Zwei-Drittel-Mehrheit bekommen“, so der Unternehmer und ehemalige Präsidentschaftskandidat der MAS. „Morales sagt, die oberste Instanz sei die Verfassungsgebende Versammlung – in Wirklichkeit entscheidet er. Sie reden immer davon, alle einzubeziehen, und doch schließen sie die Hälfte des Landes aus.“
In der MAS selbst herrschen über die Verhandlungstaktik der Führung unterschiedliche Meinungen. Der Mojeño-Indígena Miguel Peña aus der Tieflandprovinz Beni, bestätigt den Vorwurf der Kompromisslosigkeit: „Die Abstimmung per absoluter Mehrheit ist nicht verhandelbar.“ Als MAS-Kandidat in der Verfassungsgebenden Versammlung stellt er im Präsidium mit die Weichen. „Die kleinen Gruppen, die jahrhundertelang die Ausplünderung Boliviens organisiert haben, können nicht akzeptieren, dass sie jetzt ihre Privilegien abgeben müssen“. Vor Jahren wurde der Aktivist im Auftrag von GroßgrundbesitzerInnen verfolgt und aus seiner Heimat vertrieben. „Das Leiden hat uns hart gemacht“, erklärt er heute.
Auch Arminda Herrera sitzt für die MAS im Verfassungsparlament. Sie gehört zu den HinterbänklerInnen der Partei, die sich beim strittigen Votum im November übergangen fühlten: „Einige von uns haben vor Ohnmacht geweint“, erinnert sich die 28-Jährige. Plötzlich habe die Fraktionsspitze einen neuen Text vorgelegt und damit auch Abgeordnete der kleinen linken Gruppen vor den Kopf gestoßen. Zwar glaubt auch sie, dass „die Rechte vor allem blockieren will“, doch sie fragt auch: „Warum soll es nicht möglich sein, vernünftige Vorschläge aus anderen Parteien zu akzeptieren?“

Hungerstreiks und Handgreiflichkeiten

An den Hungerstreiks, die erst vor den Großkundgebungen Mitte Dezember aufgehoben wurden, beteiligten sich vier Wochen lang Tausende von Menschen. Immer wieder hatte Evo Morales, selbst erfahren in zivilem Ungehorsam, die DemonstrantInnen zum Einlenken aufgefordert – vergeblich. Denn in der Sache blieb er hart: „Wir werden niemals aufgeben. Es geht darum, Bolivien zu verändern und die natürlichen Ressourcen zurückzugewinnen“. Die Hungerstreikenden wollten nur „die Privilegien einiger Sektoren im Osten verteidigen“. Rubén Costas, Großgrundbesitzer, Gouverneur des Departments Santa Cruz und Anführer der Autonomiebewegung, entgegnete, Morales fahre eine „Desinformationskampagne. „Wir wollen das Land nicht spalten, wir wollen uns nicht vom Vaterland trennen oder die natürlichen Reichtümer an uns reißen“, rief Costas. Die Volksversammlungen seien „der größte Beweis von Einheit, Integration und Brüderlichkeit in der Geschichte Boliviens.“ Die Reden zugunsten der Einheit des Landes hätten ihn angenehm überrascht, gab Morales zurück.
Die permanente Polarisierung und die Furcht vor bewaffneten Konflikten hatte auch die Armee schon aufgeschreckt. „Wir gehen nicht davon aus, dass es zu einer Teilung des Landes kommen könnte“, so Heereskommandant Freddy Bersatti, „aber durchaus zu Auseinandersetzungen zwischen Bolivianern“. Allein in der Provinz Santa Cruz wurden am 15. Dezember über 60 Menschen verletzt, als MAS-AnhängerInnen einen Protestmarsch aufhalten wollten. Auch in anderen Städten kam es zu Handgreiflichkeiten.
Der rechtsliberale Abgeordnete Ricardo Pol, einer der ersten Streikenden, rechnet nicht mit einer schnellen Lösung: „Wir haben eine komplizierte politische Kultur“, sagt der Anwalt aus Cochabamba. „Sie erkennen uns Weiße nicht wirklich an, dazu muss noch viel Zeit vergehen. Jetzt wollen sie uns erst mal spüren lassen, dass sie die Macht haben“.
Der Erfolg, den die Rechte mit ihren Massenmobilisierungen davon getragen hat, hätte verhindert werden können, wenn die MAS eine Woche zuvor einen Kompromissvorschlag in Sucre angenommen hätte, meint dagegen Raúl Prada von der MAS. Die Opposition profitiere von den Fehlern der MAS, erklärt der Parteilinke, dessen öffentliche Kritik in der parteiinternen Debattenkultur eine große Ausnahme darstellt. „Auf wirtschaftlichem Gebiet hat die Regierung gut agiert und damit erreicht, dass sich die Einkünfte des Landes vervierfachen. Bei der politischen und sozialen Führung ist ihr das nicht gelungen“.

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