Brasilien | Nummer 250 - April 1995

Repression gegen Arme und ihre FürsprecherInnen

Interview mit Volmer do Nascimento und der Staatsanwältin Tania Moreira

Volmer do Nascimento arbeitete jahrelang mit Straßenkindern in Rio de Janeiro und war Koordinator der nationalen Straßenkinderbewegung. Zusammen mit der Staats­anwältin Tania Moreira untersuchte er die Hintergründe zu den Morden an Stra­ßenkindern. Als Auftraggeber der Verbrechen machten sie regionale Geschäftsinha­ber aus, als Mörder zum grö゚ten Teil (Militär-) Polizisten. Trotz klarer Beweise wur­den bisher nur wenige Personen aus Polizei und Verwaltung der Region Rio de Janeiro verurteilt. Dennoch wird die Anklage führende Staatsanwältin Tania Mo­reira seitdem mit Morddrohugen behelligt. Volmer do Nascimento wurde seinerseits wegen “Verleumdung” zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt.

Interview: Hilde Hellbernd / Anton Landgraf

LN: Hat der Militäreinsatz in Rio eigentlich irgendjemanden überrascht?
Volmer do Nascimento: Nein, schon 1993 und 94 hat es eine Art Probelauf gegeben, als die Militärs in einigen Vierteln Rio de Janeiros wie in Tijuca patrouillierten. Und schon im Sommer 1994 konnte man in der Zeitung lesen, was geplant war, so daß die Drogenbosse genü­gend Zeit hatten, die Favelas zu verlassen.
Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?
Volmer: Wir haben unter­sucht, ob die Gewalt abgenom­men hat, und festgestellt, daß seit Beginn der Invasion 46 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Die Militärs selber geben an, daß der Drogenhandel um 50 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig haben die Überfälle auf Banken um 200 Prozent zugenommen und die Zahl der Entführungen hat sich verdreifacht. Die Gewalt hat sich insgesamt nicht verrin­gert, sondern nur verlagert.
Tania: Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse muß man sagen, daß die Militäraktion zu nichts anderem als zu einer weiteren Gefahr für die arme Bevölkerung geführt hat. Wie man sieht, ist der Staat kein bißchen daran in­teressiert, sich wirklich um die öffentliche Sicherheit zu küm­mern.
Wie könnte die öffentliche Si­cherheit denn gewährleistet werden?
T: Um eine öffentliche Si­cherheit in Brasilien wirklich zu garantieren, bedarf es als erstes einer gerechteren Einkommens­verteilung. Man muß berück­sichtigen, daß es in Brasilien nur einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt gibt und der monat­liche Mindestlohn 70 Reais beträgt. Die Tatsache, daß Jugendliche im Drogenhandel täglich den zweifachen Min­destlohn verdienen, gibt eine Er­klärung dafür, warum die Dro­genbanden eine derartige Macht erringen konnten. Dazu kommt eine völlige Unterbezahlung der Polizei mit 170 Reais, was er­klärt, weshalb die Polizei an die­sem Gewaltgeschäft beteiligt ist.
Ein weiterer Schritt müßte die Erneuerung der Zivil- und der Militärpolizei sein. Zudem müßten auch mehr Mittel für be­reits laufende Verfahren und die Aufklärung der Morde zur Ver­fügung gestellt werden. Es kann nicht angehen, daß wie in Duque de Caxias tausende von Mord­fällen von nur 2 Polizeibeamten untersucht werden. In Wirklich­keit handelt es sich bei dieser Intervention um einen Probelauf für eine viel weitergehendere militärische Intervention. Das wahre Motiv ist, daß das Militär in das zivile Leben eingreifen will.
Welche Rolle spielt die jetzige Regierung von Fernando Hen­rique Cardoso hinsichtlich des Militäreinsatzes?
Mit der Wahl Fernando Hen­rique Cardosos war die Hoffnung verbunden, daß sich vieles ver­bessern würde. Die Realität ist aber, daß nicht durch soziale, sondern durch militärische Ak­tionen eingegriffen wurde. Kennzeichend für den neuen Re­gierungsstil ist die Amnestie des Senators Humberto Lucenas, der vom Obersten Gerichtshof we­gen Machtmißbrauch und Kor­ruption verurteilt worden war. Statt wirklich gegen Fälle von Korruption vorzugehen, wurde das gesamte Ministerium für So­ziales aufgelöst. Stattdessen wurde ein neues Sportministe­rium eingerichtet, das wir “Fußballministerium” nennen, mit Pelé als Minister. Die Ge­hälter der ParlamentarierInnen wurden um 100% erhöht, wäh­rend sich der Präsident Cardoso persönlich gegen eine Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 100 Reais ausgesprochen hat.
Unterschiedliche Reaktio­nen bei der Bevölkerung
Wie reagierte die Bevölkerung auf die Militäroperation?
Das größte Interesse an einer Militärinvasion hatten die Rei­chen und die Mittelschicht. Sie stehen mit der Bewegung “Viva Rio” in Verbindung, die letztes Jahr gegründet wurde, um gegen die Gewalt in Rio de Janeiro et­was zu unternehmen.
Von den FavelabewohnerIn­nen haben viele zunächst ap­plaudiert, da sie sich erhofften, daß die Hausdurchsuchungen durch die Polizei und die Feuer­gefechte zwischen den soge­nannten Banden aufhören wür­den. Auch die OAB (die An­waltsorganisation “Ordem das Avogados do Brasil”) hat sich am Anfang hinter die Invasion gestellt.
Heute teilt sich die Bevölke­rung in diejenigen, die die Inva­sion von außen beobachten und ihr von den Medien beeinflußt positiv gegenüberstehen und in die FavelabewohnerInnen, die sie ob der am eigenen Leib er­fahrenen Auswirkungen ableh­nen.
Ist ein Ende der Intervention abzusehen?
Wir beobachten, daß die In­tervention ständig verlängert wird. Zunächst wurde gesagt, daß die Invasion auf den 31. Ja­nuar begrenzt sei. Obwohl schon seit Beginn des Jahres eindeutig ist, daß die Militäroperation ge­scheitert ist, hieß es dann, daß die Touristen wegen des anste­henden Karnevals mehr Schutz bräuchten. Und so stand die Ar­mee weiterhin auf den Straßen, um die AusländerInnen zu schüt­zen. Wir rechnen weiterhin da­mit, daß es noch vereinzelte Ein­sätze geben wird.
Dabei ist die Armee völlig un­fähig, eine Strategie gegen die Kriminalität zu entwickeln. Sie kann nur auf die Bevölkerung einschlagen und steigert damit noch einmal die Gewalttätigkeit in den ärmsten Stadtteilen. Es traf wieder einmal nur diejeni­gen, die mit der ganze Sache nichts zu tun haben und vorwie­gend die schwarze Bevölkerung.
Uns ist wenig Kritik an der Militärinvasion bekannt. Wel­che Reaktionen hat es seitens der zi­vilen Gesellschaft, der NGOs und den Menschen­rechts­gruppen gegeben?
Tania: Bisher haben sich nur die NGOs, die direkt mit Marginali­sierten arbeiten vehe­ment gegen die Invasion ausgesprochen. Wenn man Ver­öffentlichungen wie Brasil-Nunca mais liest, könnte man meinen, die Gewalt beschränkt sich nur auf die Phase der Militärdiktatur und endet 1986 mit der Amnestie. Das ent­spricht nicht den Tatsachen, denn die Gewalt, die sich gegen Arme und Schwarze richtet, wird nicht berücksichtigt. Ein solches Buch müßte heute neu geschrieben werden.
Volmer: Nur die Organi­sationen der Favela­be­woh­nerInnen, die FAMERJ (Fede­raçao das Asso­ciaçaoes de Moradores do Rio de Janeiro) und FAFERJ (Fede­raçao das Faveladas do Rio de Janeiro) haben von Anfang an die Militärintervention kritisiert. Aber diese Gruppen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre unter starkem Einfluß von Politi­kern entstanden, befinden sich momentan genauso wie andere Bürgerbewegungen in einer Krise. Die Kräfte, die heute Aufwind haben, sind ganz an­dere Gruppen wie Viva Rio, die von ISER, IBASE und Betinho getragen werden. Nichts gegen solche Versuche wie die Kampa­gne gegen Hunger, aber letztlich benutzen sie nur die linke Rheto­rik. In Wirklichkeit stehen aber andere Kräfte dahinter, sie wer­den von der Regierung korrum­piert, bekommen Geld und トm­ter. Was wir heute brauchen sind neue Kräfte.
Duque Caxias – Vorort der Gewalt
Volmer du hast seit 1986 mit Straßenkindern in Duque de Caxias gearbeitet und zusammen mit Tania 1991 ein Dossier vorgelegt, in dem do­kumentiert ist, wer für die Morde an den Straßenkindern verantwortlich ist. Wie ist der­zeit die Situation in diesem Vor­ort, der als der gewalttätigste von Rio de Janeiro gilt?.
Volmer: Man sollte zuerst kurz die Vorgeschichte erzählen. Duque Caxias wurde nach dem Militär­putsch 1964 wegen seiner Erdöl­raffinerien als strategischer Ort betrachtet. Sie galt als Stadt der höchsten Sicherheitsstufe. Eine Tradition der Gewalt läßt sich bis in die dreißiger Jahre zurück­verfolgen. Ab den fünf­ziger Jah­ren verwandelte sich Duque de Caxias in ein Ghetto, daß vor allem von Nordestinos bewohnt wurde. Heute stammen von den über 660.000 Ein­wohnerInnen mehr als 60 Prozent aus dem Nordosten. Geprägt ist die Stadt von einer klein- und mittelstän­dischen Industriestruktur und einem hohen Anteil an marginalisierter Bevölkerung. Insgesamt gibt es 72 Favelas und eine hohe Krimi­nalitätsrate. Dies war das Motiv für die Gründung der Todes­schwadrone. Die Gewalt stieg dann vor allem mit dem organi­sierten Verbrechen der Todes­schwadrone in den 60er und 70er Jahren an. Nach der Statistik gibt es in Duque de Caxias genauso­viele Morde wie in Rio.
Tania: Das liegt daran, daß ein großer Teil der Morde in Duque de Caxias nicht in der Stadt selbst verübt wurden. Die mei­sten Opfer hatten nie in Duque de Caxias gewohnt – aber ihre Leichen wurden dort auf­gefun­den. Das heißt, sie wurden in Rio umgebracht und nach Duque de Caxias transportiert, um die Nachforschungen zu be­hindern. Diese Situation hat sich aller­dings geändert. Heute sind wir zunehmend mit unserer eigenen Kriminalität konfron­tiert. In der Zwischenzeit gibt es hier eine gro゚e Anzahl von Personen, die systematisch töten, ohne straf­rechtlich verfolgt zu werden.
Welches sind die Hauptpro­bleme bei der Strafverfolgung?
Tania: Gegen die Todes­schwadro­nen konnte man früher leichter vorgehen. Die Killer waren in die Gesellschaft integriert, sie hatten eine Wohnung, eine Ar­beit und einen Personalausweis. Auch wenn die Beweisführung immer schwierig war, konnte man sie verhält­nismäßig einfach festnehmen. Mit den Drogen­händlern ist es anders. Sie stehen außerhalb der Gesellschaft, ha­ben keine Arbeit und keine Wohnung. Selbst von Drogen­händlern, die vielfache Morde begangen haben, sind nicht ein­mal die Namen bekannt.
Das Ergebnis ist, daß die Un­sicherheit in der Stadt in einem solchen Ausmaß zugenommen hat, daß sich eine parallele Struktur der Sicherheit, der pri­vaten Sicherheitsdienste etabliert hat. Es sind sehr große Unter­nehmen – und alle sind in den Händen von Offizieren der Militärpolizei.
Seit wann gibt es die Ver­flechtung privater Sicherheits­dienste mit der Polizei?
Tania: Die ganze Ent­wicklung be­gann vor einigen Jahre. Die Poli­zisten verdienen sehr wenig – in der Regel reicht es nicht, um die Familie zu ernähren. Und um ihre Löhne zu erhöhen, begannen sie nebenher in privaten Sicher­heitsfirmen zu arbeiten. Heute hat fast jeder Po­lizist einen zweiten Job – der Ne­benjob ist die Haupteinnah­mequelle und die reguläre Arbeit eine Nebenbeschäftigung. Ich habe zum Beispiel ein Büro im zweitgrößten Polizeirevier von Duque de Caxias. Dieses Revier hat zwei Beamte. Sie müssen nicht nur die Morde, sondern alle Verbrechen bearbeiten, darunter 2346 Mordfälle. Sie haben keine Zeit und keine Möglichkeit, um ausreichend Nachforschungen anzustellen und haben zudem noch einen Nebenjob. Die ganze Struk­tur der normalen Polizeiar­beit ist zerfallen, denn die Polizi­sten sind davon abhängig, in den pri­vaten Sicherheitsdiensten zu ar­beiten. Heute funktionieren ei­gentlich nur noch die privaten Sicherheitsdienste.
Was unternimmt der Staat gegen diese Verflechtung?
Tania: Nichts. Im Gegenteil. Bisher war diese Neben­beschäftigung illegal, die Kom­munalregierung Batista hat diese Arbeit nun le­galisiert. Dies bedeutet die In­stitutionalisierung der privaten Sicherheitsdienste und der To­desschwadrone. Dazu muß man wissen, daß die wichtigsten Be­rater von Nilo Batista die Besit­zer der größten Sicherheitsdienste sind. Die Re­gierung löst das Problem also nicht, indem sie die Löhne der Polizisten erhöht und die Aus­stattung verbessert, sondern in­dem sie die privaten Tätigkeiten legalisiert.
Du hast dich sehr stark dafür eingesetzt, daß viele Mitglieder der Todesschwadrone in Duque de Caxias verhaftet wurden. Wie ist deine gegenwärtige Si­tuation?
Tania: Als ich vor fünf Jahren in Duque de Caxias als Staatsan­wältin anfing, traf ich die drei größten Killer der Stadt. Sie ar­beiteten in dem gleichen Ge­bäude wie ich – es waren Hilfs­kräfte der Richter. Sie hatten Waffen und genossen Immunität. Meine erste Arbeit war, sie aus dem Gerichts­gebäude zu werfen. Sie hielten sich dann davor auf, so daß ich es nicht mehr verlassen konnte. Ich machte dies in der Presse und im Fernsehen bekannt und veröf­fentlichte ihre Gesichter. Nach­dem ich Anklage gegen sie erho­ben hatte, begannen die Todes­drohungen gegen mich. Es gab enormen Druck, damit ich aus der Stadt verschwände. Um eine Vorstellung davon zu ha­ben: Selbst der Senator von Du­que de Caxias ist mit dem Ver­brechen verbunden. Ich bewege mich seit Jahren nur noch zwi­schen dem Gerichtsgebäude und meiner Wohnung, ich habe praktisch kein Privatleben mehr. Nach vier Jahren, in denen ich diesem Druck widerstanden habe, bat ich beim Governeur um einen persönlichen Schutz. Ich machte Druck über amnesty in­ternational und andere Organisa­tionen. Danach wurde ich unter den Schutz der Bundespolizei gestellt – in der gleichen Zeit wie Volmer. Als Brizola Gouverneur wurde, verschlechterte sich die Situation immens. Die Bundes­polizei wurde abgezogen. Statt­dessen sitze ich heute in einem alten klapprigen Auto mit zwei Polizisten, die so schlecht be­waffnet sind, daß sie sich kaum gegen Angriffe verteidigen kön­nen. In der Woche vor Karneval veriet ein Gefangener einer ande­ren Staatsanwältin einen Plan, mich umzubringen. Als ich Bra­silien verließ, bat ich den Gouverneur per Brief, die zwei Polizisten abzu­ziehen, da ich nicht das Leben anderer Per­sonen gefährden möchte. Es gibt noch immer keine Nach­richt, was passieren wird.
Volmer, du hast Duque de Caxias seit zwei Jahren verlas­sen und hast ein Projekt für Kinder und Jugendliche in Na­tividade, 400 km von Rio ent­fernt, aufgebaut. Wie ist der aktuelle Stand in deinem Ver­fahren?
Volmer: Seit dem letzten Jahr bin ich in letzter Instanz zu vier Jah­ren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Da ich öffentlicher Angestellter bin, könnte ich tagsüber arbeiten, müßte allerdings im Gefängnis übernachten. Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, wann ich diese Strafe antreten soll. Die einzige Möglichkeit, nicht diese absurde Gefängnisstrafe anzu­treten, be­steht jetzt noch darin, daß der Präsident des Landes eine Neuaufnahme des Verfah­rens anordnet. In einem öffentli­chen Brief habe ich ihn darum gebeten, diese ungerechte Ver­urteilung aufzuheben.

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