Repression gegen Arme und ihre FürsprecherInnen
Interview mit Volmer do Nascimento und der Staatsanwältin Tania Moreira
LN: Hat der Militäreinsatz in Rio eigentlich irgendjemanden überrascht?
Volmer do Nascimento: Nein, schon 1993 und 94 hat es eine Art Probelauf gegeben, als die Militärs in einigen Vierteln Rio de Janeiros wie in Tijuca patrouillierten. Und schon im Sommer 1994 konnte man in der Zeitung lesen, was geplant war, so daß die Drogenbosse genügend Zeit hatten, die Favelas zu verlassen.
Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?
Volmer: Wir haben untersucht, ob die Gewalt abgenommen hat, und festgestellt, daß seit Beginn der Invasion 46 Kinder und Jugendliche ermordet wurden. Die Militärs selber geben an, daß der Drogenhandel um 50 Prozent zurückgegangen ist. Gleichzeitig haben die Überfälle auf Banken um 200 Prozent zugenommen und die Zahl der Entführungen hat sich verdreifacht. Die Gewalt hat sich insgesamt nicht verringert, sondern nur verlagert.
Tania: Nach einer Kosten-Nutzen-Analyse muß man sagen, daß die Militäraktion zu nichts anderem als zu einer weiteren Gefahr für die arme Bevölkerung geführt hat. Wie man sieht, ist der Staat kein bißchen daran interessiert, sich wirklich um die öffentliche Sicherheit zu kümmern.
Wie könnte die öffentliche Sicherheit denn gewährleistet werden?
T: Um eine öffentliche Sicherheit in Brasilien wirklich zu garantieren, bedarf es als erstes einer gerechteren Einkommensverteilung. Man muß berücksichtigen, daß es in Brasilien nur einen beschränkten Zugang zum Arbeitsmarkt gibt und der monatliche Mindestlohn 70 Reais beträgt. Die Tatsache, daß Jugendliche im Drogenhandel täglich den zweifachen Mindestlohn verdienen, gibt eine Erklärung dafür, warum die Drogenbanden eine derartige Macht erringen konnten. Dazu kommt eine völlige Unterbezahlung der Polizei mit 170 Reais, was erklärt, weshalb die Polizei an diesem Gewaltgeschäft beteiligt ist.
Ein weiterer Schritt müßte die Erneuerung der Zivil- und der Militärpolizei sein. Zudem müßten auch mehr Mittel für bereits laufende Verfahren und die Aufklärung der Morde zur Verfügung gestellt werden. Es kann nicht angehen, daß wie in Duque de Caxias tausende von Mordfällen von nur 2 Polizeibeamten untersucht werden. In Wirklichkeit handelt es sich bei dieser Intervention um einen Probelauf für eine viel weitergehendere militärische Intervention. Das wahre Motiv ist, daß das Militär in das zivile Leben eingreifen will.
Welche Rolle spielt die jetzige Regierung von Fernando Henrique Cardoso hinsichtlich des Militäreinsatzes?
Mit der Wahl Fernando Henrique Cardosos war die Hoffnung verbunden, daß sich vieles verbessern würde. Die Realität ist aber, daß nicht durch soziale, sondern durch militärische Aktionen eingegriffen wurde. Kennzeichend für den neuen Regierungsstil ist die Amnestie des Senators Humberto Lucenas, der vom Obersten Gerichtshof wegen Machtmißbrauch und Korruption verurteilt worden war. Statt wirklich gegen Fälle von Korruption vorzugehen, wurde das gesamte Ministerium für Soziales aufgelöst. Stattdessen wurde ein neues Sportministerium eingerichtet, das wir “Fußballministerium” nennen, mit Pelé als Minister. Die Gehälter der ParlamentarierInnen wurden um 100% erhöht, während sich der Präsident Cardoso persönlich gegen eine Erhöhung des Mindestlohns von 70 auf 100 Reais ausgesprochen hat.
Unterschiedliche Reaktionen bei der Bevölkerung
Wie reagierte die Bevölkerung auf die Militäroperation?
Das größte Interesse an einer Militärinvasion hatten die Reichen und die Mittelschicht. Sie stehen mit der Bewegung “Viva Rio” in Verbindung, die letztes Jahr gegründet wurde, um gegen die Gewalt in Rio de Janeiro etwas zu unternehmen.
Von den FavelabewohnerInnen haben viele zunächst applaudiert, da sie sich erhofften, daß die Hausdurchsuchungen durch die Polizei und die Feuergefechte zwischen den sogenannten Banden aufhören würden. Auch die OAB (die Anwaltsorganisation “Ordem das Avogados do Brasil”) hat sich am Anfang hinter die Invasion gestellt.
Heute teilt sich die Bevölkerung in diejenigen, die die Invasion von außen beobachten und ihr von den Medien beeinflußt positiv gegenüberstehen und in die FavelabewohnerInnen, die sie ob der am eigenen Leib erfahrenen Auswirkungen ablehnen.
Ist ein Ende der Intervention abzusehen?
Wir beobachten, daß die Intervention ständig verlängert wird. Zunächst wurde gesagt, daß die Invasion auf den 31. Januar begrenzt sei. Obwohl schon seit Beginn des Jahres eindeutig ist, daß die Militäroperation gescheitert ist, hieß es dann, daß die Touristen wegen des anstehenden Karnevals mehr Schutz bräuchten. Und so stand die Armee weiterhin auf den Straßen, um die AusländerInnen zu schützen. Wir rechnen weiterhin damit, daß es noch vereinzelte Einsätze geben wird.
Dabei ist die Armee völlig unfähig, eine Strategie gegen die Kriminalität zu entwickeln. Sie kann nur auf die Bevölkerung einschlagen und steigert damit noch einmal die Gewalttätigkeit in den ärmsten Stadtteilen. Es traf wieder einmal nur diejenigen, die mit der ganze Sache nichts zu tun haben und vorwiegend die schwarze Bevölkerung.
Uns ist wenig Kritik an der Militärinvasion bekannt. Welche Reaktionen hat es seitens der zivilen Gesellschaft, der NGOs und den Menschenrechtsgruppen gegeben?
Tania: Bisher haben sich nur die NGOs, die direkt mit Marginalisierten arbeiten vehement gegen die Invasion ausgesprochen. Wenn man Veröffentlichungen wie Brasil-Nunca mais liest, könnte man meinen, die Gewalt beschränkt sich nur auf die Phase der Militärdiktatur und endet 1986 mit der Amnestie. Das entspricht nicht den Tatsachen, denn die Gewalt, die sich gegen Arme und Schwarze richtet, wird nicht berücksichtigt. Ein solches Buch müßte heute neu geschrieben werden.
Volmer: Nur die Organisationen der FavelabewohnerInnen, die FAMERJ (Federaçao das Associaçaoes de Moradores do Rio de Janeiro) und FAFERJ (Federaçao das Faveladas do Rio de Janeiro) haben von Anfang an die Militärintervention kritisiert. Aber diese Gruppen, die Ende der 70er, Anfang der 80er Jahre unter starkem Einfluß von Politikern entstanden, befinden sich momentan genauso wie andere Bürgerbewegungen in einer Krise. Die Kräfte, die heute Aufwind haben, sind ganz andere Gruppen wie Viva Rio, die von ISER, IBASE und Betinho getragen werden. Nichts gegen solche Versuche wie die Kampagne gegen Hunger, aber letztlich benutzen sie nur die linke Rhetorik. In Wirklichkeit stehen aber andere Kräfte dahinter, sie werden von der Regierung korrumpiert, bekommen Geld und トmter. Was wir heute brauchen sind neue Kräfte.
Duque Caxias – Vorort der Gewalt
Volmer du hast seit 1986 mit Straßenkindern in Duque de Caxias gearbeitet und zusammen mit Tania 1991 ein Dossier vorgelegt, in dem dokumentiert ist, wer für die Morde an den Straßenkindern verantwortlich ist. Wie ist derzeit die Situation in diesem Vorort, der als der gewalttätigste von Rio de Janeiro gilt?.
Volmer: Man sollte zuerst kurz die Vorgeschichte erzählen. Duque Caxias wurde nach dem Militärputsch 1964 wegen seiner Erdölraffinerien als strategischer Ort betrachtet. Sie galt als Stadt der höchsten Sicherheitsstufe. Eine Tradition der Gewalt läßt sich bis in die dreißiger Jahre zurückverfolgen. Ab den fünfziger Jahren verwandelte sich Duque de Caxias in ein Ghetto, daß vor allem von Nordestinos bewohnt wurde. Heute stammen von den über 660.000 EinwohnerInnen mehr als 60 Prozent aus dem Nordosten. Geprägt ist die Stadt von einer klein- und mittelständischen Industriestruktur und einem hohen Anteil an marginalisierter Bevölkerung. Insgesamt gibt es 72 Favelas und eine hohe Kriminalitätsrate. Dies war das Motiv für die Gründung der Todesschwadrone. Die Gewalt stieg dann vor allem mit dem organisierten Verbrechen der Todesschwadrone in den 60er und 70er Jahren an. Nach der Statistik gibt es in Duque de Caxias genausoviele Morde wie in Rio.
Tania: Das liegt daran, daß ein großer Teil der Morde in Duque de Caxias nicht in der Stadt selbst verübt wurden. Die meisten Opfer hatten nie in Duque de Caxias gewohnt – aber ihre Leichen wurden dort aufgefunden. Das heißt, sie wurden in Rio umgebracht und nach Duque de Caxias transportiert, um die Nachforschungen zu behindern. Diese Situation hat sich allerdings geändert. Heute sind wir zunehmend mit unserer eigenen Kriminalität konfrontiert. In der Zwischenzeit gibt es hier eine gro゚e Anzahl von Personen, die systematisch töten, ohne strafrechtlich verfolgt zu werden.
Welches sind die Hauptprobleme bei der Strafverfolgung?
Tania: Gegen die Todesschwadronen konnte man früher leichter vorgehen. Die Killer waren in die Gesellschaft integriert, sie hatten eine Wohnung, eine Arbeit und einen Personalausweis. Auch wenn die Beweisführung immer schwierig war, konnte man sie verhältnismäßig einfach festnehmen. Mit den Drogenhändlern ist es anders. Sie stehen außerhalb der Gesellschaft, haben keine Arbeit und keine Wohnung. Selbst von Drogenhändlern, die vielfache Morde begangen haben, sind nicht einmal die Namen bekannt.
Das Ergebnis ist, daß die Unsicherheit in der Stadt in einem solchen Ausmaß zugenommen hat, daß sich eine parallele Struktur der Sicherheit, der privaten Sicherheitsdienste etabliert hat. Es sind sehr große Unternehmen – und alle sind in den Händen von Offizieren der Militärpolizei.
Seit wann gibt es die Verflechtung privater Sicherheitsdienste mit der Polizei?
Tania: Die ganze Entwicklung begann vor einigen Jahre. Die Polizisten verdienen sehr wenig – in der Regel reicht es nicht, um die Familie zu ernähren. Und um ihre Löhne zu erhöhen, begannen sie nebenher in privaten Sicherheitsfirmen zu arbeiten. Heute hat fast jeder Polizist einen zweiten Job – der Nebenjob ist die Haupteinnahmequelle und die reguläre Arbeit eine Nebenbeschäftigung. Ich habe zum Beispiel ein Büro im zweitgrößten Polizeirevier von Duque de Caxias. Dieses Revier hat zwei Beamte. Sie müssen nicht nur die Morde, sondern alle Verbrechen bearbeiten, darunter 2346 Mordfälle. Sie haben keine Zeit und keine Möglichkeit, um ausreichend Nachforschungen anzustellen und haben zudem noch einen Nebenjob. Die ganze Struktur der normalen Polizeiarbeit ist zerfallen, denn die Polizisten sind davon abhängig, in den privaten Sicherheitsdiensten zu arbeiten. Heute funktionieren eigentlich nur noch die privaten Sicherheitsdienste.
Was unternimmt der Staat gegen diese Verflechtung?
Tania: Nichts. Im Gegenteil. Bisher war diese Nebenbeschäftigung illegal, die Kommunalregierung Batista hat diese Arbeit nun legalisiert. Dies bedeutet die Institutionalisierung der privaten Sicherheitsdienste und der Todesschwadrone. Dazu muß man wissen, daß die wichtigsten Berater von Nilo Batista die Besitzer der größten Sicherheitsdienste sind. Die Regierung löst das Problem also nicht, indem sie die Löhne der Polizisten erhöht und die Ausstattung verbessert, sondern indem sie die privaten Tätigkeiten legalisiert.
Du hast dich sehr stark dafür eingesetzt, daß viele Mitglieder der Todesschwadrone in Duque de Caxias verhaftet wurden. Wie ist deine gegenwärtige Situation?
Tania: Als ich vor fünf Jahren in Duque de Caxias als Staatsanwältin anfing, traf ich die drei größten Killer der Stadt. Sie arbeiteten in dem gleichen Gebäude wie ich – es waren Hilfskräfte der Richter. Sie hatten Waffen und genossen Immunität. Meine erste Arbeit war, sie aus dem Gerichtsgebäude zu werfen. Sie hielten sich dann davor auf, so daß ich es nicht mehr verlassen konnte. Ich machte dies in der Presse und im Fernsehen bekannt und veröffentlichte ihre Gesichter. Nachdem ich Anklage gegen sie erhoben hatte, begannen die Todesdrohungen gegen mich. Es gab enormen Druck, damit ich aus der Stadt verschwände. Um eine Vorstellung davon zu haben: Selbst der Senator von Duque de Caxias ist mit dem Verbrechen verbunden. Ich bewege mich seit Jahren nur noch zwischen dem Gerichtsgebäude und meiner Wohnung, ich habe praktisch kein Privatleben mehr. Nach vier Jahren, in denen ich diesem Druck widerstanden habe, bat ich beim Governeur um einen persönlichen Schutz. Ich machte Druck über amnesty international und andere Organisationen. Danach wurde ich unter den Schutz der Bundespolizei gestellt – in der gleichen Zeit wie Volmer. Als Brizola Gouverneur wurde, verschlechterte sich die Situation immens. Die Bundespolizei wurde abgezogen. Stattdessen sitze ich heute in einem alten klapprigen Auto mit zwei Polizisten, die so schlecht bewaffnet sind, daß sie sich kaum gegen Angriffe verteidigen können. In der Woche vor Karneval veriet ein Gefangener einer anderen Staatsanwältin einen Plan, mich umzubringen. Als ich Brasilien verließ, bat ich den Gouverneur per Brief, die zwei Polizisten abzuziehen, da ich nicht das Leben anderer Personen gefährden möchte. Es gibt noch immer keine Nachricht, was passieren wird.
Volmer, du hast Duque de Caxias seit zwei Jahren verlassen und hast ein Projekt für Kinder und Jugendliche in Natividade, 400 km von Rio entfernt, aufgebaut. Wie ist der aktuelle Stand in deinem Verfahren?
Volmer: Seit dem letzten Jahr bin ich in letzter Instanz zu vier Jahren und neun Monaten Gefängnis verurteilt. Da ich öffentlicher Angestellter bin, könnte ich tagsüber arbeiten, müßte allerdings im Gefängnis übernachten. Ich habe keinerlei Kenntnis darüber, wann ich diese Strafe antreten soll. Die einzige Möglichkeit, nicht diese absurde Gefängnisstrafe anzutreten, besteht jetzt noch darin, daß der Präsident des Landes eine Neuaufnahme des Verfahrens anordnet. In einem öffentlichen Brief habe ich ihn darum gebeten, diese ungerechte Verurteilung aufzuheben.