Nicaragua | Nummer 361/362 - Juli/August 2004

Revolution und Menschenrechte

Ein Gespräch mit der nicaraguanischen Menschenrechtlerin Vilma Nuñez aus Anlass des 25. Jahrestags der sandinistischen Revolution

Das 1990 gegründete Nicaraguanische Menschenrechtszentrum (CENIDH) hat in Nicaragua und über die Landesgrenzen hinaus wegen seiner kompromisslosen Verteidigung der Menschenrechte einen ausgezeichneten Ruf. Einen großen Anteil daran trägt die Gründerin und langjährige Direktorin, Vilma Nuñez. “La Doctora”, wie die Anwältin in Nicaragua meist genannt wird, ließ sich auch durch Todesdrohungen nicht einschüchtern. Die Lateinamerika Nachrichten sprachen mit Vilma Nuñez über ihre Teilnahme am Kampf gegen die Diktatur des Somoza-Clans, die sandinistische Revolution, ihre Enttäuschung über die FSLN in den letzten Jahren und die Bedeutung der Menschenrechte für ihr politisches Engagement.

Michael Krämer

Frau Nuñez, Sie haben sich dem antisomozistischen Kampf schon sehr früh angeschlossen. Wie kam es dazu?

Ich komme aus Chontales, zu Zeiten Somozas war das eines der rückständigsten Departements Nicaraguas. Mein Vater war eine regionale Führungsperson der Konservativen. Diese standen traditionell in Opposition zur Somoza-Diktatur, und so wurde auch mein Vater immer dann inhaftiert, wenn sich eine größere Oppositionsbewegung zu dem alten Somoza García entwickelte. Wie die Guardia nachts kommt und an unsere Haustür schlägt, um meinen Vater abzuholen, und wie wir in den Tagen danach die Wachen im Gefängnis anflehen, meinen Vater besuchen und ihm etwas zu Essen bringen zu dürfen, das sind frühe Kindheitserinnerungen – ich war erst sieben, acht Jahre alt. Diese Erfahrungen haben in mir schon sehr früh ein Gefühl des Antisomozismus geweckt.

Und dann sind Sie sehr früh politisch aktiv geworden?

Ja, als Jugendliche in der Konservativen Partei. So richtig aktiv wurde ich dann in der Universität. Ich begann 1958 in León Jura zu studieren. Das war das Jahr, in dem die Universitäten die Autonomie der Regierung erkämpft hatten. Es waren Zeiten intensiven Kampfes. Damals wurde ich als einzige Frau Mitglied in einem Komitee für die Freiheit der politischen Gefangenen, die es damals gab. Zwei Professoren und der Student Tomás Borge, wenig später Mitbegründer der FSLN, waren in Haft.

Wann hatten Sie die ersten Kontakte zur FSLN?

An der Universität haben wir uns radikalisiert, aber die ersten Kontakte zur FSLN hatte ich erst später. Zunächst bin ich mit meinem Mann nach Mexiko gegangen, wo ich noch zwei Jahre studiert habe. Als ich nach León zurückkehrte, um dort als Anwältin zu arbeiten, wurde die Opposition zu Somoza viel stärker als früher verfolgt. Ich begann politische Gefangene zu verteidigen – ohne jemals Geld dafür zu nehmen.
1969 nahmen die Indígena-Führer von Subtiavia (Stadtviertel von León; Anm. der Red.) Kontakt mit mir auf. Sie suchten Unterstützung in ihrem Kampf um Land. Ich verteidigte einige von ihnen, die wegen einer Landbesetzung angeklagt waren, bei der auch ein Großgrundbesitzer umgekommen war. Da ging meine Mitarbeit schon über reine anwaltliche Arbeit hinaus. Wir planten gemeinsam die Kampfstrategien, wie wir Druck ausüben und die öffentliche Mobilisierung verstärken könnten.
Für mich war zu diesem Zeitpunkt schon klar, dass ich auf der Seite der Ausgeschlossenen stehe und ihren Kampf unterstützen möchte. Ich wusste damals aber nicht, dass hinter den Mobilisierungen in Subtavia die FSLN stand, die im Untergrund bereits sehr aktiv war. Erst nach diesen Kämpfen der Indígenas von Subtavia offenbarten sich die Leute der FSLN und weihten mich ein. Sie wollten wohl erst einmal prüfen, ob auf mich Verlass war.
So begann ich, direkt mit der FSLN zusammenzuarbeiten und sie, anfangs vor allem ökonomisch, zu unterstützen. Mit der Konservativen Partei brach ich erst Mitte der 70er Jahre, als ihr damaliger Chef einen Pakt mit Somoza schloss. 1975 wurde ich offiziell Mitglied der FSLN, doch blieb ich nach außen hin Mitglied der Konservativen Partei. Dies bot mir einen gewissen Schutz bei meiner politischen Arbeit.

Diese Arbeit haben Sie bis zum Sieg der Revolution am 19. Juli 1979 gemacht…

Nein. Im April 1979 wurde mein Haus verraten. Es war ein so genanntes Sicherheitshaus, wo sich regelmäßig FSLN-Kader trafen. Sie fanden dort auch Waffen. Ich wurde wegen „Verschwörung gegen die Verfassung“ verhaftet. Doch anstatt mich vor ein normales Gericht zu stellen, hat mich die Guardia vor ein Militärgericht gestellt, wo ich wegen Waffenschmuggel – was nicht stimmte – zu zehn Jahren Haft verurteilt wurde. Zuerst war ich in León inhaftiert, wo ich fürchterlich gefoltert wurde. Nach 40 Tagen Isolationshaft kam ich nach Managua ins Spezialgefängnis „Modelo“.

Danach arbeiteten Sie am Obersten Gerichtshof.

Ja, bis Ende 1987. Danach war ich bis 1990 Nationale Beauftragte für Menschenrechte und Humanitäre Angelegenheiten und Präsidentin der Nationalen Menschenrechtskommission. Aber die Menschenrechte waren auch schon während meiner Arbeit am Obersten Gerichtshof das wichtigste Thema für mich.

War das auch der Grund, weshalb Sie nach der Abwahl der FSLN 1990 das CENIDH gründeten?

Gemeinsam mit einigen Freunden analysierten wir die Lage nach den Wahlen und kamen zu dem Schluss, dass die neue Regierung all die Errungenschaften der Revolution rückgängig machen würde – also die Gesundheitsversorgung für alle, die kostenlose Bildung und so weiter. So gründeten wir im Mai 1990 das CENIDH.

Welche Rolle spielte die FSLN bei dieser Entscheidung?

In der FSLN-Führung gab es damals kaum Interesse an diesem Thema. Sie meinten lediglich, dass dies eine gute Idee sei, ich erhielt aber überhaupt keine Unterstützung. Das war eine ziemliche Enttäuschung für mich. Und zugleich war es ein großer Glücksfall! Hätte die FSLN uns beispielsweise eines ihrer vielen Häuser zur Verfügung gestellt, wäre das CENIDH nicht wirklich unabhängig gewesen.

Wie kam es dazu, dass Sie in den 90er Jahren eine so wichtige Rolle in der FSLN bekamen?

Bis 1990 spielte ich keine Rolle in der Partei. Ich hatte nie irgendeinen Posten inne. Ich hätte das gar nicht abgelehnt. Mir wurde erst später klar, dass dies auch mit meiner Arbeit am Obersten Gericht zu tun hatte – eine Arbeit, die von der FSLN mit gewissem Misstrauen gesehen wurde. In der Tat hatten wir uns direkt nach dem Triumph der Revolution zum Beispiel gegen die so genannten Sandinistischen Volksgerichte ausgesprochen, für die es keine rechtliche Grundlage gab. Und wir haben einige weitere Gesetze der Revolutionsregierung abgelehnt. Das hat uns den Vorwurf eingebracht, wie „Reaktionär“ bedeutete; angeblich würden wir die Revolution nicht verstehen.
Später dann – durch meine Arbeit als Direktorin des CENIDH – bekam ich eine immer größere Präsenz in der Öffentlichkeit. Wir setzten uns immer wieder für den Erhalt der Errungenschaften der Revolution ein und kritisierten die Präsidentin Doña Violeta für ihre neoliberalen Maßnahmen.
Erst in diesem Moment erinnerte sich die FSLN an mich und lud mich 1991 dazu ein, bei ihrem ersten Parteikongress Vizepräsidentin der Wahlkommission zu sein. Auf einmal war ich für sie nicht mehr Vilma, die Reaktionärin, sondern die Vorsitzende einer Menschenrechtsorganisation, die eine verdammt große Rolle in den politischen und sozialen Auseinandersetzungen dieser Zeit hatte.
Zu meiner Überraschung wurde ich mit den meisten Stimmen überhaupt für die Ethikkommission ernannt und wurde gleichzeitig auch noch in die „Sandinistische Versammlung“ gewählt. Erst zu diesem Zeitpunkt begann meine Mitarbeit in den Strukturen der Partei.

Wie lief die Arbeit in der Ethikkommission ab?

Alle, die wir in die Ethikkommission gewählt wurden, nahmen diese Arbeit sehr ernst. Wir wollten die “Piñata” untersuchen, also die Fälle von persönlicher Bereicherung nach der Wahlniederlage 1990. Die Parteiführung wurde misstrauisch und enthielt uns wichtige Informationen vor. Ich muss allerdings auch sagen, dass wir unsere Probleme nicht öffentlich gemacht haben, denn wir wollten ja dem Bild der Revolution nicht schaden. Jedenfalls geriet ich zu dieser Zeit in Widerspruch zur Parteiführung. Es ging um die Zentralisierung der Macht und um die mangelnde Transparenz der Parteiführung.

Was hat Sie dazu bewogen 1995/96 gegen Daniel Ortega um die Kandidatur für die Präsidentschaftswahlen anzutreten?

Bereits seit einigen Jahren hatten die Frauen in der FSLN versucht, sich einen größeren Einfluss zu erstreiten. Da ich im öffentlichen Leben und auch bei den Auseinandersetzungen auf der Straße sehr präsent war, haben sie mich gefragt, ob ich nicht bereit wäre, bei den internen FSLN-Vorwahlen um die Präsidentschaftskandidatur anzutreten. Meine Entscheidung dafür war dann auch eher dem Wunsch geschuldet, die Frauen in ihrem Kampf zu unterstützen, als ein Versuch, Daniel Ortega herauszufordern. Daniel hat es allerdings so aufgenommen.
Die “Frauenversammlung” innerhalb der FSLN hatte mich zur Kandidatur aufgefordert. Die Haltung dieser Frauen war für mich dann allerdings eine große Enttäuschung, weil sie mich, eine nach der anderen, allein ließen – sei es aus Angst, weil sie nicht die Kraft hatten, dem parteiinternen Druck zu widerstehen, oder auch, um sich ihren Anteil an der Macht zu bewahren, weil sie für das Parlament kandidieren wollten. Als ich eines Tages von einer USA-Reise zurückkehrte, während derer Daniel Ortega seine Kandidatur bekannt gegeben hatte, meinten die Frauen der Frauenversammlung, dass wir nun mit der FSLN-Führung verhandeln sollten, um meine Kandidatur gegen eine Kandidatur für ein Abgeordnetenmandat einzutauschen. Da habe ich ihnen deutlich gemacht, dass ich nicht hinter einem Posten her war. Ich hatte meine Kandidatur erklärt, und wollte diese auch aufrechterhalten. Ich hatte allerdings nicht damit gerechnet, wie schlecht es um die interne Demokratie bestellt war. Da war ein gutes Stück Naivität in meinem Vertrauen in die FSLN dabei: Ich hätte einfach nicht für möglich gehalten, dass die Vorwahl so manipuliert würde, wie dies geschehen ist – von Demokratie gab es da keine Spur, alles war vorher entschieden. Ich wusste, dass ich keine Chance hatte zu gewinnen.

Wie haben Sie denn zu dieser Zeit die Rolle von Daniel Ortega beurteilt?

Damals hatte ich noch kein so kritisches Bild von Daniel, wie heute. Natürlich habe ich gesehen, dass er große Teile der Macht besetzt hatte, ich sah ihn aber noch nicht als den Caudillo, der er ist.

Obwohl Ihnen in diesem Vorwahlprozess enorm mitgespielt wurde, sind Sie in der FSLN geblieben, und haben erst nach den Anschuldigungen von Zoilamérica Narvaez gegen ihren Stiefvater Daniel Ortega einen Schlussstrich gezogen…

Ja, aber bis dahin hatte sich schon einiges verändert. In der Sandinistischen Versammlung setzte ich mich für mehr interne Demokratie ein und führte so die Opposition gegen Daniel Ortega an, was er mir sehr übel nahm. Ich war immer noch der Überzeugung, dass es möglich wäre, die FSLN von innen her zu ändern.
Doch dann kamen die Missbrauchsvorwürfe von Zoilamérica gegen Daniel Ortega. Ich wäre auch weiterhin in der FSLN geblieben, um dafür zu kämpfen, dass Zoilamérica gehört wird. Doch in diesem Moment wurde ich kaltgestellt und aus den Strukturen der FSLN gedrängt. Bis heute erhalte ich keine Einladungen zu Parteiveranstaltungen mehr.
Ich bin nie aus der FSLN ausgetreten. Aber der Fall Zoilamérica war für mich der Grund, mit den Parteistrukturen zu brechen.

Hat dieser Bruch auch eine Kontinuität mit den 80er Jahren, den Jahren der Revolution, beendet?

Jeder hat die Revolution auf seine eigene Art erlebt und jeder hatte andere Erwartungen an sie. Ich selbst empfinde keine große Distanz zu dieser Zeit. Wenn es heute einen tief greifenden Wechsel innerhalb der FSLN-Führung gäbe, um an unseren Zielen aus den Zeiten der Revolution anzuknüpfen, würde ich sofort wieder in der Partei aktiv werden.

Welche Erfahrungen aus den Zeiten der Revolution haben bis heute für Sie noch Bedeutung?

Da gibt es eine ganze Menge: der bedingungslose Einsatz der Menschen, die Mystik der Leute, die Hoffnungen, das Gefühl, etwas ganz Neues aufzubauen. Ich würde diese Revolution erneut machen. Natürlich wären die Bedingungen heute ganz andere, und auch ich selbst wäre eine andere. Ich wäre nicht mehr so schüchtern, mich in die Strukturen der Partei einzubringen.

Wie schätzen Sie rückblickend den Umgang der sandinistischen Revolution mit dem Thema Menschenrechte ein? Hat es Ihrer Meinung nach Fehler in diesem Bereich gegeben?

Es gab nicht nur Fehler, sondern auch Missbrauch und Auswüchse. Als die Revolution gemacht wurde, hatten ihre Protagonisten kein Konzept der Menschenrechte. Deren Bedeutung wuchs in Nicaragua erst mit der Zeit, auch weil von außen Druck ausgeübt wurde. Die Anklagen, dass in Nicaragua die politischen und bürgerlichen Menschenrechte verletzt wurden, waren schließlich auch ein Mittel, um die Revolution anzugreifen.
Die revolutionäre Führung war sich zugleich nicht bewusst darüber, dass die Veränderungen im Bereich der Gesundheitsversorgung, der Bildung, der ökonomischen Umverteilung auch eine Revolution in menschenrechtlicher Hinsicht bedeutete. Dies ist meines Erachtens eines der grundlegenden Probleme, das alle sozialistischen Revolutionen hatten und das heute auch für Kuba gilt. Aufgrund ihrer Verletzungen der politischen Menschenrechte verzichten sie darauf, die Fahne der Menschenrechte, die sie im wirtschaftlichen und sozialen Bereich umsetzen, hochzuhalten.

Aber bedeutet dies auch, dass die sandinistische Regierung und die FSLN eine offensivere Politik des Menschenrechtsschutzes hätte einschlagen sollen?

Das glaube ich schon. Es darf aber nicht der Kontext außer Acht gelassen werden, in dem diese Menschenrechtsverletzungen stattgefunden haben. Der Krieg, der uns von außen aufgezwungen wurde, hat dazu geführt, dass der Ausnahmezustand auf ewige Zeiten aufrechterhalten wurde. Ohne diesen Aggressionskrieg hätten wir all diese Menschenrechtsverletzungen nicht gehabt.

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