Brasilien | Nummer 587 - Mai 2023

Rolle vorwärts

Die ersten 100 Tage sind vorbei: Was hat die Regierung Lula bisher erreicht?

Am 10. April war die Regierung des brasilianischen Präsidenten Lula da Silva genau 100 Tage im Amt. Soziale Bewegungen und Expert*innen bewerten die Zusammensetzung des Kabinetts sowie die bisherigen Maßnahmen und Dekrete positiv. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Datafolha im April sehen 38 Prozent der befragten Brasilianer*innen ab 16 Jahren die Regierung Lula positiv; das ist geringfügig mehr als 2019 nach den ersten 100 Tagen der Regierung Bolsonaro (32 Prozent). Gleichzeitig sorgten die Äußerungen Lulas zum Krieg in der Ukraine für internationale Kritik.

Von Claudia Fix & Julia Ganter

Neues Vertrauen Mit Lula richtet sich die Regierung wieder an die indigene Bevölkerung (Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil)

Mit großer Erleichterung und vorsichtiger Euphorie hatte die brasilianische Zivilgesellschaft die Wahl von Lula da Silva zum Präsidenten begrüßt. Die Einführung in seine dritte Amtszeit am 1. Januar wurde zu einem großen Fest der Demokratie, bei der Vertreter*innen sozialer Bewegungen Lula mit der Präsidentenschärpe symbolisch die Macht übergaben. Die Hoffnung auf einen Politikwechsel war groß. Nur sieben Tage später gab es dann ein jähes Erwachen. Hunderte Anhänger*innen des abgewählten Präsidenten Jair Bolsonaro verwüsteten die Gebäude der wichtigsten Institutionen des Landes. Deutlicher hätten es die politischen Gegner*innen des neuen Präsidenten und seiner Partei nicht machen können: Es ist noch nicht vorbei. Der bolsonarismo besteht über die Amtszeit von Jair Bolsonaro hinaus und ist in Polizei und Militär tief verwurzelt. Inzwischen hat jedoch die Regierung Lula die ersten 100 Tage nicht nur überstanden, sondern auch verschiedene erfolgreiche Programme aus der Zeit der Regierungen der Arbeiterpartei (PT) von 2003 bis 2016 neu aufgelegt und einige Sofortmaßnahmen ergriffen.

„In nur sechs Jahren Regierungszeit erreichte die brasilianische Rechte einen gesellschaftlichen Rückschritt von 30 Jahren in allen Bereichen der öffentlichen Politik“, bilanzierte Graça Xavier von der Bewegung für menschenwürdiges Wohnen (UNMP) im Interview mit LN. Ähnlich lautet die Analyse vieler sozialer Bewegungen in Brasilien, die sich auf die in der Verfassung garantierten Menschenrechte beziehen. Doch wie viel neoliberaler Rollback lässt sich in den nächsten vier Jahren mit dem „konservativsten Kongress aller Zeiten“ rückgängig machen? Wie schnell wirken Sozialprogramme, um extreme Armut und Hunger erneut zu beenden, die besonders in den letzten vier Jahren rasant zugenommen haben? Und woher sollen angesichts eines strikten Ausgabendeckels die finanziellen Mittel dafür kommen?

Die Ausgangslage für die Regierung ist mehr als schwierig. Nach 100 Tagen lässt sich allerdings festhalten, dass überraschend viele Veränderungen bereits in die Wege geleitet wurden. G1, das Nachrichtenportal des Medienkonzerns O Globo, attestierte Lula sogar, dass er ein Drittel seiner Wahlversprechen bereits eingelöst habe. Die G1-Redaktion, die diese Form von Auswertung bereits seit 2014 durchführt, stellte fest, Lula habe 13 der 36 Wahlversprechen vollständig erfüllt und weitere vier teilweise. Alle anderen seien entweder bereits initiiert worden oder könnten noch nicht evaluiert werden.

Prioritär war nach dem Amtsantritt, wie von Lula bereits am Wahlabend angekündigt, die Bekämpfung des Hungers unter dem Arbeitstitel Brasil sem Fome (Brasilien ohne Hunger). Neben anderen Maßnahmen wurde das von 2003 bis 2021 bestehende Sozialprogramm Bolsa Família neu aufgelegt und von 400 auf 600 Reais (rund 110 Euro) plus 150 Reais für jedes Kind unter sechs Jahren aufgestockt. Die Unterstützung erhalten Familien mit einem Monatseinkommen von bis zu 218 Reais pro Person (rund 40 Euro). Möglich wurde dies durch eine „provisorische Maßnahme“ des Präsidenten, die erst nachträglich vom Kongress bestätigt werden muss.

Mit der Wiedereinführung der Bolsa Família sind gleichzeitig auch ökonomische Hoffnungen verbunden. „Studien zeigen, dass sich das Sozialprogramm für den Staat lohnt, weil das Geld für Grundbedürfnisse ausgegeben und so unmittelbar wieder der lokalen Wirtschaft zugeführt wird. Am Ende führt das zu zusätzlichen Steuereinnahmen. Nicht umsonst war das Wirtschaftswachstum im Nordosten Brasiliens während der ersten beiden Amtszeiten Lulas am größten“, erklärt Bruno de Conti, assoziierter Professor am Institut für Wirtschaft der Universität Campinas (UNICAMP) im Interview mit LN.

Als ebenso wichtig wie die Transferleistungen wird von der Zivilgesellschaft die Wiedereinbeziehung partizipativer Mechanismen in die Regierungspolitik bewertet. So sagte Elisabetta Recine vom Nationalen Rat für Lebensmittel- und Ernährungssicherheit (Consea) bei einer öffentlichen Veranstaltung des FDCL: „Partizipation ist der Schlüssel für den Erfolg der sozialen Prozesse und der Demokratie. Sozialprogramme wie Fome Zero (Null Hunger, Anm. der Red.) reichen allein nicht, es muss darum gehen, die Resilienz der Bevölkerung zu stärken. Fome Zero war ein Samenkorn, das Anfang der 2000er Jahre aufgegangen ist. Heute ist die Anzahl der aktuellen Herausforderungen, wie beispielsweise die des Klimakollapses, gestiegen.“

Der seit 1993 bestehende Ernährungsrat Consea wurde von Präsident Bolsonaro an seinem ersten Amtstag im Januar 2019 abgeschafft und jetzt von Präsident Lula Ende Februar wieder eingeführt. Er ist einer von vielen Beispielen für die Wiederauflage von Foren für die Partizipation der Zivilgesellschaft. So nahm Graça Xavier von der UNMP am 8. März in Brasília an einer Versammlung von 40 Organisationen aus Frauen- und Stadtteilbewegungen teil, die 20 konkrete Vorschläge für die zukünftige Regierungspolitik formulierte. Diese, vor allem zu Lohngleichheit, Wohnen und Selbstverwaltung von kollektivem Landbesitz, wurden anschließend dem Präsidenten und den zuständigen Minister*innen übergeben.

Graça Xavier stellt fest: „Wir werden uns sechs Monate Zeit nehmen, um Vorschläge zu erarbeiten. Aber wir werden die Regierung auch in die Pflicht nehmen. Wir haben Lulas Wahl unterstützt, aber falls er seine Versprechen nicht einhält, gehen wir wieder auf die Straße, dann werden wir zum Internationalen Habitat-Tag Anfang Oktober einen großen Marsch auf Brasília organisieren.“

Die Landlosenbewegung MST hat bereits zu Beginn dieses Jahres entschiedenen Druck auf die Regierung Lula ausgeübt. Am 27. Februar besetzte der MST mit 1.700 Familien drei große Landstücke im Bundesstaat Bahia mit Eukalyptusplantagen in Monokultur sowie ein viertes, das seit 15 Jahren nicht mehr landwirtschaftlich genutzt wurde. Der MST forderte gleichzeitig die sofortige Enteignung von Großgrundbesitz, um eine Agrarreform durchzuführen, sowie die sofortige Besetzung der Leitung des INCRA, des Nationalen Instituts für Besiedlung und Landreform. Ende April erklärte João Paulo Rodrigues von der nationalen Direktion des MST im Interview mit der Zeitung Folha de São Paulo: „Das ist unsere Regierung, wir haben dabei geholfen, sie aufzubauen. Aber der MST besitzt Autonomie in Bezug auf die PT und die Regierung.“ Bis zum 3. Mai folgten weitere Landbesetzungen in verschiedenen Bundesstaaten. Die für die Beseitigung der sozialen Ungleichheit so wichtige Landreform kam während der PT-Regierungen von 2003-2016 nur schleppend voran.

Im Bereich der Wirtschaftspolitik ist die Regierung Lula vor allem damit beschäftigt, die Scherben der Vorgängerregierungen zusammenzukehren. Bereits unter Präsident Michel Temer hatte Brasiliens Parlament 2016 beschlossen, die Staatsausgaben für die nächsten 20 Jahre einzufrieren – offiziell, um das hohe Haushaltsdefizit zu reduzieren. Bruno de Conti bewertet diese Maßnahme als problematisch: „Der brasilianische Staat ist weit davon entfernt, die Bedürfnisse der Bevölkerung mit den aktuellen Ausgaben bedienen zu können. Zusätzlich sinken bei einer stetig wachsenden Bevölkerung Jahr für Jahr die Staatsausgaben pro Kopf.“ Der neue Wirtschaftsminister Fernando Haddad (PT) hat dem Kongress im April vorgeschlagen, die Anhebung der Staatsausgaben abhängig von den Einnahmen und nicht nur als Inflationsanpassung zu ermöglichen, aber die Begrenzung der Ausgaben beizubehalten. Gespannt erwartet hatte der Wirtschaftswissenschaftler de Conti in diesem Zusammenhang auch, wie die Regierung mit der Anpassung des Mindestlohns umgeht. „Die auch zukünftig fortgeführte Ausgabenbegrenzung erschwert eine Anpassung an Inflation und BIP, wie das unter früheren PT-Regierungen geregelt wurde“, so de Conti. Am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, kündigte Lula jedoch im Kongress einen Gesetzesentwurf an, der genau diese Maßnahmen enthält.

Beim jährlichen indigenen Protestcamp Terra Livre Ministerin Sônia Guajajara und Präsident Lula (Foto: Marcelo Camargo/Agência Brasil)

Die Unabhängigkeit der Zentralbank ist ein weiteres schwieriges Erbe der Vorgängerregierung, an dem sich die Regierung Lula in den ersten Monaten abgearbeitet hat. Der aktuelle Zentralbankchef Robert Campos de Neto wurde von Bolsonaro vorgeschlagen. Ein 2022 unter dessen Regierung erlassenes Gesetz verhindert die Absetzung des Zentralbankchefs vor Ablauf seiner Amtszeit 2024 durch den Präsidenten, was in den letzten Monaten zu einer öffentlich ausgetragenen Auseinandersetzung zwischen Regierung und Zentralbank führte. Während die Regierung Lula eine eher progressive Geldpolitik anstrebt, führt die Zentralbank ihren konservativen Kurs fort, unbeirrt von der Tatsache, dass Brasiliens Zinssatz einer der höchsten weltweit ist.

Auch außenpolitisch gibt es Konflikte. Lulas Äußerungen bei einer Pressekonferenz nach dem Antrittsbesuch des deutschen Bundeskanzlers Olaf Scholz führten zu Kritik und Unverständnis. Lula verurteilte Russland währenddessen zwar dafür, dass es die territoriale Integrität der Ukraine verletze, äußerte aber die Ansicht, dass weder Russland noch die Ukraine den Krieg beenden wollten und verweigerte Scholz die Unterstützung Brasiliens bei der Lieferung von Munition für die Flugabwehrpanzer Gepard. „Durch Lulas polemische Äußerungen und aufgrund der Tatsache, dass er den russischen Außenminister Lawrow in Brasilien empfangen hat, wird Brasiliens Position im Westen fälschlicherweise als Unterstützung Russlands interpretiert. Vielmehr ist es aber Brasiliens außenpolitische Tradition, sich militärisch nur an Einsätzen, die ein Mandat des Sicherheitsrats der Vereinten Nation haben, zu beteiligen und Sanktionen wegen ihrer Auswirkungen auf die Zivilbevölkerung nicht mitzutragen“, erklärt die Außenpolitikexpertin Marianna Albuquerque, die am Institut für Internationale Beziehungen und Verteidigung an der Staatlichen Universität Rio de Janeiro (UFRJ) forscht und unterrichtet, im Interview mit LN.

Bereits vor seiner Amtseinführung hatte Lula im November auf der Klimakonferenz COP27 in Ägypten die Rückkehr Brasiliens auf die Weltbühne angekündigt. Fünf der ersten 100 Tage verbrachte er in Argentinien, Uruguay und den USA. Kurz danach reiste Lula nach China, in die Vereinigten Arabischen Emirate sowie nach Spanien und Portugal. Fünf weitere Reisen sind in diesem Jahr geplant, unter anderem zum Treffen der G7-Staaten in Japan, zum G20-Gipfel in Indien und zum BRICS-Treffen in Südafrika. Mit diesen Prioritäten grenzt sich die Regierung Lula stark von der Vorgängerregierung unter Bolsonaro ab. Dieser schätzte – wie sein Vorbild Donald Trump – multilaterale Foren nicht und ignorierte viele internationale Vereinbarungen.

„Die größte außenpolitische Erwartung gegenüber der Regierung Lula ist die Rückkehr zu einer aktiven internationalen Rolle, bei der Brasilien gemäß seinen außenpolitischen Traditionen als Brücke zwischen Industrie- und Entwicklungsländern und vertrauenswürdiger Vermittler für die friedliche Lösung von Konflikten auftritt“, so die Politikwissenschaftlerin Albuquerque. „Lula hat vor allem versprochen, seinen Fokus auf Südamerikas Integration zu legen. Mit Brasiliens Rückkehr in das UNASUR-Bündnis und in die Gemeinschaft Lateinamerikanischer und Karibischer Staaten CELAC ist seine Regierung hier auch auf einem guten Weg.“

Brasiliens Wirtschaftsmodell und -wachstum in Einklang mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen und der Förderung der familiären Landwirtschaft zu bringen, wird einer der schwie-*rigsten Balanceakte für die Regierung Lula werden. Die Agrarlobby ist weiterhin mächtig – auch im Kongress – und bisher ist unklar, ob sich Lula tatsächlich mit ihr anlegen wird. In Bezug auf die Begrenzung der Erderwärmung bewertet Albuquerque Brasiliens Rolle in den ersten 100 Tagen kritisch: „Mit Blick auf die internationale Klimapolitik, die Lula ebenfalls als Priorität bezeichnet hat, ist bisher wenig passiert“.

Innenpolitisch gibt es jedoch auch hier erste positive Signale. Mit Sônia Guajajara leitet eine international anerkannte indigene Führungs-*persönlichkeit das neu gegründete Ministerium für Indigene Völker. Die Leitung der Indigenenbehörde FUNAI wurde der indigenen Rechtsanwältin und Kongressabgeordneten Joênia Wapixana übertragen. Helena Palmquist von der Beobachtungsstelle für die Menschenrechte indigener Völker (OPI) sagte dazu in einer öffentlichen Veranstaltung mit dem FDCL: „Wir dürfen nie vergessen, dass die indigene Bevölkerung nur fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmacht, aber 80 Prozent der Biodiversität beschützt.“ Mit Sônia Guajajara und Joênia Wapixana lägen die Lebensumstände der Indigenen erstmals in ihrer eigenen Hand, das werde einen Unterschied machen. Auch in Bezug auf die alarmierende Abholzung in den letzten Jahren ist sie positiv gestimmt:„Die Abholzung wird zurückgehen, da bin ich wirklich zuversichtlich. Eines der wenigen Dinge, bei denen ich sehr hoffnungsvoll bin.“

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