Linke in Lateinamerika | Nummer 325/326 - Juli/August 2001

Rückendeckung für die Opposition

Kolumbiens linke Perspektiven mit und ohne Guerilla

Die FARC wollen ein soziales Reformprojekt, die ELN strebt eine basisdemokratische Umwälzung der Gesellschaft an. Die Paramilitärs setzen dagegen. Was ist möglich in Kolumbien?

Raul Zelik

Wenn man die kolumbianischen Guerillaorganisationen betrachtet, fällt auf, dass diese die großen Krisen der lateinamerikanischen Guerillas um 1970 und 1990 nicht nur überlebt haben, sondern sogar gestärkt aus ihnen hervor gegangen sind. Für das paradoxe Phänomen gibt es eine einfache Erklärung: Die kolumbianische Linke hatte keine andere Wahl, als bewaffnet zu kämpfen. Der Satz, dass es in Kolumbien ungefährlicher ist, in die Berge zu gehen, als eine Gewerkschaft zu gründen, ist mehr als eine ironische Überspitzung.
Seit mehr als 100 Jahren setzen die Eliten des Landes auf eine konsequente Vernichtungspolitik gegen jeden Ansatz sozialer Opposition. Ob man nun das Massaker an den Plantagenarbeitern der United Fruit 1928 oder die Ermordung des Oppositionsführers Gaitán 1948 und die darauf folgenden Vertreibungen nehmen will – auf Bewegungen von unten wird stets mit Waffengewalt reagiert.
Besonders deutlich zeigt sich die Bereitschaft, bei der Verteidigung der Privilegien bis zum Äußersten zu gehen, am paramilitärischen Projekt. Als 1983/84 im Rahmen eines Waffenstillstands UntergrundkämpferInnen von FARC, EPL und M-19 in die Legalität zurückkehrten und im ganzen Land soziale und politische Oppositionsgruppen entstanden, organisierten das politische und ökonomische Establishment den Terror. Finanziert von Großgrundbesitz, Industrie und Drogen-Mafia und mit der logistischen Unterstützung von Armee und (zumindest zeitweise) auch der US-Geheimdienste geht der Paramilitarismus seitdem unerbittlich gegen alles vor, was links ist oder auch nur sein könnte. 4000 AktivistInnen der Partei Unión Patriótica wurden ermordet, die drei Präsidentschaftskandidaten der Opposition Jaime Pardo, Bernardo Jaramillo und Carlos Pizarro wurden erschossen, fast jeden Tag stirbt in Kolumbien ein Gewerkschafter. Was bleibt der Linken da schon anderes übrig, als die Kriegserklärung anzunehmen?

Militarisierung des sozialen Konflikts

Insofern hat die häufig gestellte Frage nach der Legitimität des bewaffneten Kampfes in Kolumbien etwas Absurdes. Der Terror der Oberschicht ist – anders als von Paramilitär-Kommandant Castaño behauptet und von den kolumbianischen Medien häufig wiederholt – keine Antwort auf die Guerilla, sondern eine Strategie zur Bekämpfung sozialer Bewegungen. Es geht um die Zerschlagung des Protests und die Vertreibung der Bauernbevölkerung aus ökonomisch interessanten Gebieten. Auf diese Weise wird den ausländischen Investoren der Zugang zu den Rohstoffvorkommen erleichtert, der Arbeitsmarkt flexibilisiert (indem Gewerkschaften ausgeschaltet werden) und für die zügige Privatisierung öffentlicher Einrichtungen gesorgt.
Interessanter als die Debatte, ob die Guerilla nach 37 Jahren noch eine Daseinsberechtigung besitzt, ist deshalb die Frage, ob die Politik, die die Guerilla betreibt, politisch und moralisch in die richtige Richtung weist. Die Liste der Vorwürfe gegen FARC und ELN ist lang und allgemein bekannt: Entführungen, Tötung von Zivilisten, mangelnder Respekt gegenüber indigenen Gemeinden und so weiter. Erst Anfang Juli ließ Human Rights Watch-Sprecher Miguel Vivanco dem FARC-Kommandanten Manuel Marulanda einen Brief zukommen, in dem die Guerilla wegen standrechtlicher Erschießungen und der Rekrutierung von Minderjährigen scharf kritisiert wurde. Zwar hatte der Brief einen seltsamen Beigeschmack – zum einen bejubelte die bürgerliche Presse Kolumbiens zum ersten Mal einen Menschenrechtsbericht, zum anderen bewies Human Rights Watch, dass es einen sehr eingeengten Begriff von Menschenrechten besitzt (Probleme wie Gesundheit, Erziehung und Ernährung tauchen gar nicht erst auf) –, aber er machte dennoch ein grundlegendes Problem des kolumbianischen Konflikts deutlich. Die Militarisierung der Auseinandersetzung hat die sozialen Ursachen unkenntlich gemacht und auch die linken Akteure verändert. Was bis 1990 für jeden Beobachter eindeutig als Kampf zwischen Eliten und Unterschicht zu identifizieren war, scheint heute nur noch eine Auseinandersetzung um die politische Macht zu sein.
Das ist auf der einen Seite Folge des repressiven Klimas, in dem es unmöglich ist, über die Konzepte der Guerilla auch nur zu diskutieren. Auf der anderen Seite hat die Entwicklung aber auch mit der Politik von FARC und ELN zu tun. Ausgehend von der These, dass Oppositionsgruppen in Kolumbien militärische Rückendeckung brauchen, haben die Guerilla-Organisationen seit 1990 den Aufbau von Armeestrukturen vorangetrieben. Wer sich besser bewaffnen will, braucht aber auch mehr Geld, und weil die großen Unternehmen sich heute von britischen und US-amerikanischen Söldnern schützen lassen, sind die Guerilla-Gruppen dazu übergegangen, ihre Entführungsopfer immer häufiger in der städtischen Mittelschicht zu suchen. Jeder Schritt in der Eskalation zieht auf diese Weise eine weitere Verschärfung des Konflikts nach sich. Die Verfolgung von Familienangehörigen der Guerilla durch die Armee hat den Trend verstärkt, Minderjährige in die Guerilla zu integrieren. Auf die skandalöse Ausbeutungspolitik der Öl-Multis reagiert die ELN mit einer Ausweitung ökologisch desaströser Pipeline-Anschläge, und gegen vorrückende Armee-Einheiten werden immer neue Minenfelder gelegt. Die Liste lässt sich endlos fortsetzen.
Dabei ist nicht alles für die Bevölkerung schlecht, was die Guerilla in diesem Zusammenhang macht. Der Einsatz von Landminen hat dazu beigetragen, den Vormarsch der Paramilitärs im Süden Bolívars zu bremsen. Nur dank der Stärke der FARC sind im Juni an die 100 Gefangene aus menschenunwürdigen Haftbedingungen befreit worden (16 bei einem Gefangenenaustausch, die anderen bei einer Befreiungsaktion in Bogotá). Und schließlich hat auch die Occidental Company nicht deswegen weitere Erdöl-Investitionen in Kolumbien auf Eis gelegt, weil die U’wa-Indígenas in Arauca seit 10 Jahren mit Unterstützung von Bauernverbänden und Gewerkschaften gegen die Zerstörung ihres Landes protestieren, sondern weil die ELN seit Anfang des Jahres die Pipeline Caño Limón-Coveñas mehr als 100 Mal gesprengt und damit den Ölexport der Occidental völlig lahm gelegt hat.

Konzepte von FARC und ELN

Die Militarisierung des Konflikts hat die Ziele der Guerilla also bisweilen unkenntlich gemacht, aber deswegen zu behaupten, FARC und ELN hätten keine politischen Ziele, ist dennoch falsch. Die politischen Projekte der beiden Organisationen sind klar umrissen – auf jeden Fall klarer als das Meiste, was die politischen Parteien Kolumbiens zur Krise des Landes zu sagen haben.
Die Politik der FARC ist auf das vermeintliche Machtzentrum ausgerichtet: den Staat, und verfolgt eine Doppelstrategie. Die Organisation hat die Regierung an den Verhandlungstisch gezwungen und dort ein politisches und soziales Reformprojekt vorgelegt, das man am ehesten als linkssozialdemokratisch bezeichnen kann; gleichzeitig jedoch bereiten sich die FARC auf eine Verschärfung des Kriegs vor und rüsten sich für einen Marsch auf Bogotá.
So unglaublich es klingt – sowohl eine Lösung am Verhandlungstisch als auch ein Sieg der Guerilla sind (genauso wie ihre strategische Niederlage) vorstellbar. Im Juni haben die FARC Präsident Pastrana dazu aufgefordert, mit ihnen eine Regierung der nationalen Einheit zu bilden und die Verfassung so zu modifizieren, dass das ausschließlich die Oberschicht repräsentierende Zweiparteiensystem nach 170 Jahren endlich entsorgt werden kann. Im Gegensatz zur M-19, die sich Anfang der 90er Jahre ohne inhaltliches Konzept ins politische System integrierten, wollen die FARC mit einer Regierungsbeteiligung die Sozial- und Wirtschaftspolitik grundlegend verändern. Die Privatisierungen sollen gestoppt, eine Landreform durchgeführt, die Bodenschätze nationalisiert und die neoliberale Öffnungspolitik zurückgenommen werden. Alles in allem Forderungen, die sich nicht allzu sehr von denen der brasilianischen PT oder der Linken im Cono Sur unterscheiden – nur dass die FARC dank ihrer realen Macht im Land auch in der Lage wären, dieses Programm in einer Regierung umzusetzen.
Erstaunlicherweise hat Pastrana auf den Vorschlag nicht mit Ablehnung, sondern mit der Umbildung seiner Verhandlungskommission reagiert. Die bis dahin aus Politikern aller Parteien und Kirchenleuten zusammengesetzte Kommission wurde aufgelöst und durch eine neue, aus Funktionären der Regierung bestehende Gruppe ersetzt. Es war dieser Schritt, der den sich hartnäckig haltenden Gerüchten von einem Geheimabkommen zwischen Pastrana und den FARC neue Nahrung verschafft hat. Alles andere als verträumt sind auch die Vorstellungen der FARC hinsichtlich einer militärischen Lösung. Bei der einseitigen Freilassung von mehr als 200 Kriegsgefangenen im Caquetá erklärten die FARC-Sprecher, Soldaten und Rebellen würden sich in den Städten wiedertreffen, denn die Guerilla habe nicht länger vor, ihr Leben im Dschungel zu fristen. Die Befreiungsaktion im Gefängnis La Picota, für die 100 Stadtguerilleros Ende Juni ein Viertel im Süden Bogotás besetzten, hat gezeigt, dass das mehr als Aufschneiderei ist. Trotz des Plan Colombia wächst der Einflussbereich der Organisation weiter.
Insofern kann man sagen, dass die Perspektiven der FARC, in den kommenden Jahren Regierungspolitik mitzugestalten, nicht schlechter sind als die der parlamentarischen Linksparteien auf dem Kontinent. Im Unterschied zu diesen hätten die FARC darüber hinaus realistische Chancen, nicht nur Minister zu stellen, sondern auch real Macht im Land auszuüben. Der entscheidende Haken an der FARC-Politik ist deshalb weniger ein Mangel an Realismus als das zu Grunde liegende Konzept von Befreiung. Ganz in der Tradition klassischer Linksparteien scheinen die FARC davon überzeugt, die Gesellschaften von Regierungsämtern aus verändern zu müssen. Eigenständige soziale Bewegungen sind in einem solchen Konzept nur Transmissionsriemen für die Politik von oben. So meinen die FARC, wenn sie von einer „Regierung des Volkes“ sprechen, eine Regierung im Namen der Bevölkerung, nicht aber eine basisdemokratische Umwälzung der Gesellschaft.
Anders gelagert ist der Fall bei der ELN. Die kleinere Guerilla vertritt seit Anfang der 80er Jahre das Konzept des Poder Popular, der „Volksmacht“, das darauf abzielt, die bestehenden Machtstrukturen durch räteähnliche Selbstorganisierung der Bevölkerung auszuhöhlen und zu ersetzen. Das Projekt ist nicht so radikal wie das der mexikanischen Zapatisten, die eine Abschaffung der Macht propagieren: Unter Poder Popular versteht die ELN eine Kombination von linker Regierungsmacht und Basisdemokratie. Doch auch mit dieser Einschränkung geht das Konzept weit über das hinaus, was zentralamerikanische Gruppen im gleichen Zeitraum vertreten haben.
Das Problem an der Sache ist allerdings, dass der Paramilitarismus für derartige Projekte, mit denen die ELN in den 80er Jahren beachtenswerte Erfolge erzielt hat, keinen Spielraum mehr lässt. Selbstorganisierung und die Ausübung direkter Demokratie sind in einem Land, in dem das bloße politische Interesse schon verfolgt wird, lebensgefährlich. Das ist der Grund, warum die ELN Mitte der 90er Jahre den Vorschlag der „Nationalkonvention“ entwickelt hat: eine Versammlung von VertreterInnen aller gesellschaftlichen Gruppen, die über die Krise Kolumbiens und mögliche Friedenslösungen debattieren soll. Erstaunlicherweise konnte die ELN für diesen zunächst utopisch klingenden Vorschlag breite Unterstützung im Land mobilisieren. 1998 verpflichteten sich alle wichtigen gesellschaftlichen Gruppen zur Durchführung der Konvention. Gescheitert ist die Umsetzung bisher daran, dass Pastrana das Ende 2000 unterzeichnete Abkommen, wonach für die Nationalkonvention ein Gebiet westlich von Barrancabermeja unter Kontrolle der ELN und einer internationalen Überwachungskommission gestellt werden soll, bis heute nicht umgesetzt hat. Die Ultra-Rechte in Regierung, Armee und Industrie sowie das fehlende Interesse Pastranas an einem – vergleichsweise demokratischen – Verhandlungsmodell haben das Projekt gestoppt.
An dem Fall zeigt sich die Crux der kolumbianischen Verhältnisse. Sicher ist ein Friedens- und Reformprozess unter Mitwirkung der Bevölkerungsmehrheit sympathischer als bilaterale Verhandlungen zwischen Guerilla und Regierung. Und sicher ist auch, dass die ELN selbstkritischer mit Militarismus und Autoritarismus umgeht als die FARC. Doch was nützen gute Konzepte, wenn man sie nicht durchsetzen kann? Die Regierung Pastrana hört den FARC zu, weil diese der Armee seit 1996 immer wieder schwere Niederlagen zugefügt haben. Und das wiederum war den FARC möglich, weil sie (im Gegensatz zur ELN) den Koka-Handel besteuern, deshalb besser ausgerüstet sind und in ihren eigenen Reihen strenge militärische Disziplin eingeführt haben. Die ELN ist hingegen in den vergangenen 10 Jahren von einem (für eine Guerilla) ausgesprochen un-autoritären Stil geprägt gewesen, sie hat die politische Arbeit mit den Gemeinden höher als Militäroperationen bewertet und sich dem Koka-Geschäft verweigert. Das sind nicht die einzigen Gründe für ihre vergleichsweise geringe militärische Schlagkraft, aber doch drei sehr wichtige. Wer politisch in Kolumbien ernst genommen werden will, muss nicht nur Konzepte, sondern vor allem reale Macht vorweisen können. Es klingt bitter und ist für die Idee einer emanzipierten Gesellschaft nicht gerade verheißungsvoll – aber in Kolumbien lautet die Frage nicht so sehr, ob der Guerillakampf noch eine politische Perspektive besitzt, sondern eher, ob die Linke ohne Guerilla eine Perspektive hätte.


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