Kolumbien | Nummer 335 - Mai 2002

Rückkehr in den Krieg

Vor fünf Jahren wurden Tausende BewohnerInnen der kolumbianischen Provinz Chocó vertrieben. Einige kehrten zurück und werden erneut Opfer der Paramilitärs

Rund zwei Millionen KolumbianerInnen irren als interne Flüchtlinge in ihrem Land umher. Nur einige konnten sich organisieren und an einem anderen Ort mit Hilfe internationaler Unterstützung wieder ansiedeln, ohne in die sichereren Millionenstädte fliehen zu müssen. Anders jedoch die schwarze Kommune aus Cacarica. Vor fünf Jahren geflohen, kehrten sie vor zwei Jahren wieder auf ihr Land zurück, ohne dass sich dort politisch etwas grundlegend geändert hätte. In der Tasche ein Landzertifikat und leere Hilfsversprechungen der Regierung, müssen sie sich ihr Land mit den rechten Paramilitärs teilen.

Tommy Ramm

Augusto sucht sich eine bequeme Position zwischen zwei Reissäcken und schiebt seine verschmutzte Mütze in den Nacken. „Bloß nicht die Orientierung verlieren“, sagt er mit leicht gequälter Stimme, nachdem das Schaukeln des knarrenden Holzfrachters, beladen mit Lebensmitteln einer deutschen NRO, immer stärker wird. Es ist sechs Uhr früh an einem Januarmorgen, das erste Licht verrät die ziemlich hohen karibischen Wellen.
Während einige dickleibige Frauen an Bord ein spärliches Frühstück aus Reis und Kartoffeln herrichten und andere Passagiere sich schon vor dem Essen an der Reling übergeben, erzählt der in die Jahre gekommene Kolumbianer die Geschichte seiner Gemeinde am Cacarica-Fluss, die vor fünf Jahren zum Symbol des Konfliktes in ihrer Region wurde. „Am 24. Februar 1997 hörten wir Armee-Hubschrauber über unserem Dorf, dann fielen in der Nähe Bomben,“ beginnt er. „Kurz danach kamen Bewaffnete in unser Dorf und töteten einige Bewohner. Einem schnitten sie den Kopf mit einem Machetenhieb ab und spielten vor den Augen einer Minderjährigen damit Fußball.“
Ihre Peiniger waren paramilitärische Gruppen, die eng mit der Armee zusammenarbeiten und die Leute auch nach der Flucht nicht in Ruhe ließen. „85 Menschen wurden in den letzten Jahren bei uns umgebracht oder sind spurlos verschwunden. Unter dem Vorwurf, Guerilla-Sympathisanten zu sein,“ berichtet Augusto.

Kampf um die Rückkehr

Über 2500 Menschen mussten vor fünf Jahren den Cacarica-Fluss verlassen und in die stinkende, vom Bananenhandel lebende Küstenstadt Turbo flüchten. Nur etwas mehr als 1.000 BewohnerInnen sind vor zwei Jahren etappenweise wieder zurückgekehrt. Viele blieben in Turbo, um dort zu leben, zu arbeiten oder mit etwas Glück zu studieren. Während sich jedoch in den meisten Fällen Dorfgemeinschaften auf alle Zeiten auflösen, konnten die meisten Cacarica-BewohnerInnen ihren Zusammenhalt bewahren. Sie suchten nicht einen Platz in irgendeinem Elendsviertel der kolumbianischen Städte, sondern kämpften für die Rückkehr auf ihr Land. „Es hat Jahre gedauert, bis uns der Staat formell Hilfe dafür zugesagt hatte. Uns war klar, dass wir inmitten des Konfliktes zurückkehren und uns somit neuer Gefahren aussetzen werden,“ so Augusto. Bürokratischen Hindernissen und weiteren Drohungen boten die BewohnerInnen die Stirn und erlangten letztendlich vom Staat ein Zertifikat über mehr als 100.000 Hektar ihres Heimatlandes. Ausgehandelte finanzielle und technische Hilfe blieben bis heute jedoch weitgehend aus.
Nachdem sich der Holzkahn endlich gemächlich den breiten Atrato-Strom hinauf bewegt, können die Leute an Bord ausruhen. Zwölf Stunden Flussfahrt, umgeben von Palmen und Tropenwäldern, stehen ihnen bevor. Die Ruhe macht es unbegreiflich, dass sich in dieser grünen Ewigkeit solche Tragödien abspielen können. „Wirtschaftliche Gründe“, erklärt der Steuermann des Schiffes, eine glimmende Zigarette im zerfurchten Gesicht. „Auf Backbordseite bemüht sich eine Papierfirma um eine Lizenz zur Rodung des Waldes, um Papier daraus machen zu können.“ Er fahre seit Jahren den Fluss entlang, manchmal nehme er auch Aufträge von Holzfirmen an, um die Schnittware in den Hafen zu transportieren, erklärt er. In den letzten Jahren wurden Tausende Hektar feinster Edelhölzer abgeholzt, die meist direkt nach Nordamerika exportiert werden. „Das meiste Holz wurde illegal geschnitten, aber das schert hier niemanden“, schließt er und widmet sich seinem Steuerrad.
Neben umfangreichen Abholzungen gibt es in der Region weitere Großprojekte. Seit Jahren liegen bei den kolumbianischen Behörden Pläne für einen innerozeanischen Kanal in den Schubladen, der den Pazifik mit der Karibik verbinden soll, um dem Panamakanal Konkurrenz zu machen. Einige Pläne sollen so weit gegangen sein, die hinderlichen Berge mit Mini-Atomsprengköpfen aus dem Weg zu räumen. Ein weiteres Projekt ist die Verbindung der Panamericana-Straße, die von Alaska bis Chile reicht und nur hier wegen der natürlichen Gegebenheiten unterbrochen ist. Weiter oben am Fluss steht ein in Morast versunkener Pfeiler, der Puente America heißt, „Brücke Amerika“. Weiter ist man bisher nicht gekommen.

Heftige Gefechte

Die Realisierung von nur einem dieser Pläne würde dem einzigartigen Artenreichtum der Region ein Ende setzen, die eine der höchsten Biodiversitäten der Welt besitzt. Die BewohnerInnen von Cacarica führen seit Jahren einen opferreichen Kampf gegen diese Vorhaben. Denn wie auch in anderen Landesteilen, die unter dem Bürgerkrieg leiden, geht es hier um militärische Vorherrschaft in einem wirtschaftlich attraktiven Gebiet, das große zukünftige Gewinne verspricht. Am unteren AtratoFluss herrschen die Paramilitärs, während weiter oben die FARC-Guerilla aktiv ist.
Im September letzten Jahres wurden 18 tote Paramilitärs an den kleinen Hafen der Ortschaft Riosucio angespült. Die Kadaver schwammen einen Tag aufgedunsen im Wasser, die BewohnerInnen haben routiniert weggeschaut, da man damit nichts zu tun haben wollte. Erst ein staatliches Ärzteteam mit Booten holte die Leichen aus dem Wasser. In regelmäßigen Abständen kommt es zu heftigen Gefechten im Chocó, bei denen nur selten jemand wirklich weiß, wie viele Tote es gibt.
Unter Taschenlampenlicht erreicht der Frachter in der Nacht sein Ziel. Ein Dutzend Einbäume, besetzt mit Familienangehörigen, wartet bereits seit Stunden auf die Passagiere und die Lebensmittel an Bord. Alles beginnt sich nach stundenlanger Trägheit erleichtert zu bewegen. Säcke mit Materialien, Gepäcktaschen und Kisten wechseln in Windeseile die Boote. Die Menschen umarmen sich, lachen und surren schließlich mit Außenbordmotor bestückten Einbäumen in die Dunkelheit davon.
Früh am nächsten Morgen treffen sich die Mitglieder des Planungskomitees des Dorfes Esperanza de Dios („Gottes Hoffnung“), um die Verteilung der Lebensmittel, die durch eine internationale NRO bereitgestellt wurden, vorzubereiten. Einige bekommen 100 Prozent, das heißt sechs Liter Öl, zwei Kilo Seife, ein Sack Reis und drei Kilo Zuckerrohrblock. Andere dagegen nur die Hälfte, manche auch überhaupt nichts. „Wir beurteilen bei der Entscheidung das Engagement der Leute bei der Gemeindearbeit“, erklärt Pascal das System. Er gehört zum Komitee und bereitet die Listen der Empfängernamen vor. „Es ist wichtig, dass die Leute nicht vergessen, dass ein starker Zusammenhalt lebenswichtig für uns ist. Viele helfen nicht auf den Feldern, um den Reis- und Maisvorrat für die Gemeinde in Notfällen anzulegen. Und umsonst gibt es nichts.“
Um seine Begründung zu unterstreichen, erwähnt er einen Vorfall vom November letzten Jahres. „Die gleichen Paramilitärs, die uns vor fünf Jahren vertrieben haben, verbrannten 40 Tonnen unserer Reisernte. Wir standen wieder vor dem Problem, nicht genügend zu essen zu haben. Deswegen ist diese Lebensmittellieferung so wichtig für uns.“ An der ausweglosen Situation der Menschen hat sich nicht viel geändert. Was sie hier hält, ist der unbezwingbare Wille, dem anhaltenden Konflikt und den Bedrohungen zu trotzen und weiter hier zu leben.
Aber eben nicht alle. Einige der jüngeren BewohnerInnen, die damals geflohen sind, arbeiten mit den gut zahlenden Paramilitärs zusammen oder haben sich in ihre Reihen eingegliedert. So soll vor einem Jahr bei einem Auftauchen der Paras ein ehemaliges Gemeindemitglied dabei gewesen sein. Ausdruck einer ausweglosen Situation in einem Krieg, der finanziell verlockend ist und Bewaffneten mehr Sicherheit bietet als ZivilistInnen.
Ein ehemaliger Präsident der Gemeinde wurde im September letzten Jahres aus der Gemeinde rausgeworfen, nachdem er Geschäfte mit der Holzfirma El Darién gemacht haben soll. Diese bieten pro gefälltem Baum auf dem Gemeindeland etwas mehr als umgerechnet einen Euro. Im internationalen Handel liegt der Wert eines ausgewachsenen Tropenbaums rund tausend Mal höher. Zwar lehnten die BewohnerInnen das Angebot ab, doch die Firma holzt unter dem Schutz der Paras trotzdem weiter in großen Umfang ab.

Paramilitärs korrumpieren die Menschen im Chocó

„Wir wissen, dass die Paramilitärs weiter auf unserem Gemeindeland sind, sie haben sogar ihr Camp auf unserem Gebiet“, erläutert Pascal. „Sie sagten uns bei ihrem letzten Besuch, dass wir großflächig afrikanische Ölpalmen und Koka anbauen sollen. Nur so lasse sich viel Geld verdienen, nicht mit dieser Gemeindearbeit.“
Um sich vor Übergriffen zu schützen, planen die Menschen mit Hilfe der Unterstützerorganisation „Gerechtigkeit und Frieden“ die Einzäunung der zwei Gemeindeweiler mit Stacheldraht und Flutlicht. Leben in einem Gefängnis. Ein Frühwarnsystem soll den BewohnerInnen bei einem Auftauchen der Bewaffneten ermöglichen, zivilen Widerstand zu organisieren. Wie genau dieser aussieht, wissen die Menschen hier zwar nicht, aber von hier vertreiben wird sie niemand mehr, wie das Komitee einstimmig äußert.
Trotzdem – und obwohl Mitglieder der Internationalen Friedensbrigaden und amnesty international anwesend waren – betraten Anfang Februar Paramilitärs die Cacaricagemeinde, verschleppten einen Bewohner und töteten einen weiteren.
Es ist ein Kampf zwischen David und Goliath, der ohne internationale Unterstützung wohl noch schlechter für die BewohnerInnen des Cacarica-Flusses aussehen würde. Gewonnen hat bisher noch niemand, aber es ist unübersehbar, dass ein Überleben sowohl politisch als auch organisatorisch für die Menschen schwierig ist. Denn es fehlt an allem.
Die Kinder zeigen Krankheitssymptome, die heilbar wären. Kinderlähmung gehört zum gravierendsten Problem, die Sterblichkeitsrate bei Neugeborenen liegt bei fünf Prozent. Zudem ist die Ernährung schlecht. Die Hühner sind kürzlich fast alle an Pest eingegangen, eine Schweinezucht scheint fehlzuschlagen, weil man die Tiere nicht ernähren kann. Und für Kühe fehlt der Gemeinde der Mut, obwohl man so die Unterernährung der Kinder mit Milchrationen lindern könnte. „Das lockt die Paramilitärs an, welche die Kühe für sich schlachten würden”, meint Pascal.

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