Nummer 608 - Februar 2025 | Uruguay

RÜCKKEHR NACH VORNE?

Stimmen sozialer Bewegungen zur neuen Linksregierung in Uruguay

Am 1. März 2025 kehrt die linke Frente Amplio (Breite Front) mit dem Wahlerfolg von Yamundú Orsi wieder an die Regierung zurück. 2019 wurden 15 Jahre progressiver Regierungen in Uruguay mit dem Wahlsieg einer Koalition rechter Parteien unterbrochen. Doch soziale Bewegungen stehen der neuen Regierung skeptisch gegenüber. In den 50 Jahren ihrer Geschichte hat sich die Frente Amplio in ihrem Machtstreben immer mehr dem Status quo angepasst. Angehörige der feministischen, Menschenrechts- und Umweltschutzbewegung erzählen von ihrer Perspektive auf die neue Regierungsära.

Von Gustavo Fripp, Montevideo (Übersetzung: Jara Frey-Schaaber)
“Glücklich wird der Tag sein, an dem keine fehlt” Feministische Demonstration in Montevideo am 25. November 2024 (Foto: Santiago Ares)

Es war der bisherige Höhepunkt: Die feministische Großdemonstration zum 8. März brachte 2016 über 300.000 Frauen auf die Straßen von Montevideo. Die Mobilisierung reichte bis in sonst verschlafene Orte im Landesinneren. Seitdem hat die feministische Bewegung zu ungekannter Stärke gefunden.  Eine der Gruppen, die zu Mobilisierungen am 8. März aufrufen, ist die Coordinadora de Feminismos (feministische Koordination). Sie geht zurück auf die Vernetzung feministischer Gruppen, eine davon war Las Decidoras (Die Entscheiderinnen). Las Decidoras wurde Ende der 1990er Jahre von Aktivistinnen aus verschiedenen linken Organisationen gegründet. Mitstreiterin María Delia Cúneo erinnert sich: „Wir haben uns zunächst viel mit Autonomie beschäftigt, denn die parteipolitischen Strukturen waren – auch wenn sie sich zur revolutionären Linken zählten – absolut patriarchal geprägt. Dort wurden Frauen ebenso unterdrückt wie in staatlichen Strukturen, Institutionen oder anderen Parteien.“

Ausgehend von der Lektüre feministischer Texte und den eigenen Erfahrungen als Frauen, hat die Gruppe mit Straßenperformances als „kollektive Anklage“ eine in Uruguay bis dato kaum genutzte Protestform etabliert. „Wir wollten auf Themen, die uns wichtig waren, im öffentlichen Raum aufmerksam machen und Zustände anprangern, aber mit unseren Körpern, nicht nur mit Worten.“

Zur breiteren Vernetzung mit feministischen Gruppen aber kam es erst anlässlich eines Treffens Ende 2015. „Dort kamen alle Feminismen zusammen: Akademikerinnen, aus NGOs, aus Institutionen, andere, die nirgendwo organisiert waren, und wir“, erzählt Cúneo. Auf diesem Treffen nahm, mit dem Aufruf zur Demonstration am 8. März 2016, die neue Stärke der feministischen Bewegung ihren Anfang. Feminizide wurden zu einem zentralen Thema der Koordination: „Jedes Mal, wenn eine Frau von einem Mann ermordet wurde, sind wir zu einer Alerta Feminista auf die Straße gegangen“, so Cúneo. Bis heute seien sie immer bereit, eine Alerta zu organisieren. Zur Demonstration zum 25. November vergangenen Jahres, anlässlich des Internationalen Tages zur Beseitigung von Gewalt an Frauen, rief die Coordinadora unter dem Motto „Von Abya Yala bis Palästina, feministischer Widerstand“ auf.

Zu neuen, progressiven Regierung äußert sich Cúneo zurückhaltend. „Wenn wir in fünf Jahren rechter Hetze etwas gelernt haben, dann, dass wir von der Politik konkrete Lösungen für konkrete Probleme fordern müssen. Beispielsweise treffen Gesetzesnovellen wie die Verschärfung des Strafmaßes für geringfügigen Drogenhandel Frauen im besonderen Ausmaß.“ Denn dies führe dazu, dass Frauen, die inhaftierten Angehörigen kleine Mengen von Drogen zukommen lassen, ihrerseits ins Gefängnis kommen. Das sei auch dramatisch für deren Kinder, die dann in die Obhut des INAU (Instituto del Niño y del Adolescente del Uruguay, Uruguayisches Kinder- und Jugendinstitut) oder irgendeines Angehörigen kämen.

„Auch wenn der Ausgangspunkt der Unterdrückung und der Gewalt im System selbst liegt, die Probleme der Frauen sind real“, macht Cúneo deutlich. Es brauche politische Maßnahmen, um die Konsequenzen dieser vom Staat selbst verursachten Probleme zu beheben, wiedergutzumachen oder zu lindern. „Dabei spreche ich von Frauen, die Opfer von Gewalt, sexueller Ausbeutung, und Missbrauch geworden sind, von Kindern und Jugendlichen, die vergewaltigt worden sind und in perversen Institutionen wie dem INAU untergebracht, wo sie wiederum Gewalt und Missbrauch erleiden. Ich spreche von der Notwendigkeit, Zentren zu schaffen, die Frauen mit Suchtproblematik helfen und solchen, die auf der Straße leben.“ All dies sei, so Cúneo, Ergebnis eines patriarchalen Systems, welches sich durch solche Maßnahmen nicht abschaffen lassen würde. „Aber es bleibt notwendig, im Konkreten Lösungen zu verlangen, und gleichzeitig an einem anderen Paradigma zu arbeiten, aus dem Feminismus heraus und aus uns selbst.“ 

“Keine der staatliche Maßnahmen können den Weg zur Emanzipation für die Frauen in Uruguay eröffnen”

Auch ohne größere Hoffnungen in die neue Regierung zu setzen, sieht Cúneo die Möglichkeit, wenigstens diese politischen Maßnahmen einzufordern. Wenn auch in dem Bewusstsein „dass keine dieser staatlichen Maßnahmen den Weg zur Emanzipation für die Frauen in Uruguay eröffnen kann.“ Diese könne nur durch „den eigenen Kampf“ erreicht werden.

Einen Schlussstrich unter das Thema der Verschwundenen und der Menschenrechtsverletzungen der bis dato letzten zivil-militärischen Diktatur ziehen: Das war Ziel der Kommission für den Frieden, die Präsident Jorge Batlle von der liberalen Partido Colorado (Bunte Partei) im Jahr 2000 einberief. In Reaktion darauf gründete eine Gruppe ehemaliger politischer Gefangener, Angehöriger und Aktivist*innen das Plenaria Memoria y Justicia (Plenum für Erinnerung und Gerechtigkeit). „Wir waren der Überzeugung, dass dieses Thema nicht abgeschlossen ist, es keinen Schlussstrich gibt“, sagt Nieves Cancela, die seitdem dort aktiv ist.

Das Plenum organisiert Escraches (Mobilisierungen vor den Häusern von Verbrechern der Militärdiktatur, Anm. d. Aut.) und versucht, die Erinnerung wachzuhalten: „Wir brauchen eine aktive Erinnerung, die wir für unsere aktuellen Kämpfe nutzen können, ohne die Forderung nach Gerechtigkeit aufzugeben.“ Ein Problem sei, dass die Repression in ein Gestern und Heute eingeteilt werde. Dabei handele es sich um die gleiche Straflosigkeit, die sich heutzutage nur in einer anderen Form als in der Diktatur ausdrückte. In den Gefängnissen foltere der Staat weiter und es gäbe weiterhin Personen, überwiegend junge Frauen, die verschwänden. Manche tauchten wieder auf, von anderen höre man nie wieder. „Das sind die Opfer von Menschenhandel und Sexkauf.“

Dass der Kampf um die Erinnerung von großer Aktualität bleibt, zeigen erschütternde Aussagen von Lucía Topolansky, Ex-Vizepräsidentin und Frau von Ex-Präsident José Pepe Mujica: Sie versicherte Ende 2024, dass sie Aktivisten kenne, die vor der Justiz gelogen hätten, damit Ex-Militärs in Prozessen um Menschenrechtsverbrechen verurteilt werden. Diese Aussage wurde von Mujica bestätigt. Auf Seiten von Menschenrechtsorganisationen stießen die Äußerungen auf großes Unverständnis und Ablehnung.

„Es gibt aberhunderte Aussagen von Genossen, die gefoltert worden sind, es gibt hunderte Verschwundene und Ermordete“ sagt Cancela, und dennoch werde Zweifel gesät. „Sowohl Topolansky als auch Mujica haben gesagt, dass sie keine alten Menschen im Gefängnis sehen wollen. Damit meinen sie Militärs und Zivilisten, die wegen Verbrechen in der Diktatur inhaftiert sind.“ Der Fall hat eine zwielichtige Vorgeschichte: Ex-General Guido Manini Ríos, Parteivorsitzender der rechtspopulistischen Partei Cabildo Abierto, hatte Pepe Mujica auf seinem berühmten Hof besucht. Dort schlug er Mujica vor, dass ältere, gefangene Ex-Militärs freigelassen werden. Einen Monat nach dem Besuch wurden dann die Äußerungen von Topolansky öffentlich bekannt.

Wenige Erwartungen an die neue Regierung

Nieves hat wenige Erwartungen an die neue Regierung, die am 1. März antritt. Auch in früheren Regierungsbeteiligungen der Frente Amplio hätte es Repression und keine Fortschritte auf der Suche nach Wahrheit, Erinnerung und Gerechtigkeit gegeben. Nieves kritisiert, dass es keine klare Äußerung zum Genozid in Gaza gegeben habe. „Es wird sicherlich Unterschiede geben zur Regierung Lacalle, aber ob das einen bedeutsamen Fortschritt beim Thema Menschenrechte bedeutet, bleibt abzuwarten“, schließt sie.

Seit einigen Jahren erhält das Thema der Erinnerung wieder mehr Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist der große Marsch der Stille, der von Müttern und Angehörigen von Verschwundenen Gefangenen veranstaltet wurde. Jedes Jahr am 20. Mai versammeln sich zu dieser Gelegenheit über 30.000 Personen in Montevideo, darunter immer mehr jüngere Menschen. Auch in Orten im Landesinneren gibt es ähnliche Gedenkveranstaltungen.

Auch die Umweltbewegung ist zuletzt stark gewachsen. Ihr Kampf dreht sich vor allem um Trinkwasser, die wichtigste natürliche Ressource Uruguays. Die ist bedroht: Nach einer langen Dürre im Jahr 2023 fielen die Trinkwasserreservoirs, die die Metropolregionen von Montevideo, Canelones und San José versorgen, fast vollständig trocken. Dort lebt mehr als die Hälfte der Einwohnenden des Landes. Die Regierung mischte daraufhin das Trinkwasser mit dem des Río de la Plata, obwohl das dort entnommene Wasser ungenießbar und für den menschlichen Verbrauch nicht geeignet ist. Wer es sich leisten konnte, stieg auf abgefülltes Wasser um. 

Auch eine der wichtigsten Wasserquellen des Landes, der Río Santa Lucía, ist bedroht durch das Agrobusiness und Agrargifte, die für Monokulturen, von beispielsweise gentechnisch verändertem Soja oder der Forstwirtschaft, genutzt werden. „Dadurch kommt es zu Verschmutzung mit Blaualgen, wie momentan an der Küste, aber auch in wichtigen Stauseen zur Trinkwasserbereitung“, sagt Marcos Umpiérrez, Dozent der Kunstfakultät und Mitglied der Asamblea por el Agua del Río Santa Lucía (Versammlung für das Wasser des Río Santa Lucía). Sie haben bereits verschiedene Demonstrationen zur Verteidigung das Wassers organisiert. Das regionale Modell eines Agrobusiness, welches auf großen Monokulturen von Soja und Forstwirtschaft basiert, setze auf die Ausbeutung von Gemeingütern wie Wasser und Territorien.  Dies führe weiterhin, so Umpiérrez, zu einer Verklappung giftiger Agrochemikalien in die Wasserläufe und ruhende Gewässer und in der Folge zur giftigen Blaualgenblüte.

Hinzu kommt der Trend zum grünen Wasserstoff, in Europa und vor allem in Deutschland. Um Wasserstoff zu erzeugen, werden die wasserführenden Schichten angezapft, um möglichst reines Wasser zu entnehmen. „Grün“ wird der Wasserstoff vor allem genannt, da zu seiner Produktion erneuerbare Energien vorgesehen sind. Deshalb ist auch die Errichtung großer Felder mit Solarzellen geplant. Der Wasserstoff soll schließlich Methanol erzeugen und als Treibstoff nach Europa exportiert werden. „Das Problem daran ist“, erklärt Umpiérrez, „dass sie Süßwasser aus unseren Territorien verwenden, weil es für sie viel günstiger ist. Wahrscheinlich wird ihnen für das Wasser nichts berechnet, wie etwa UPM, die für das Wasser zur Zellstoffproduktion nichts bezahlen müssen.“ Das finnische Zellstoffunternehmen, war für mehrere Leckagen von toxischen Produkten verantwortlich. So gelangten etwa tausend Kubikmeter Natriumhydroxid in einen Zufluss des Río Negro.

Auch das sogenannte Proyecto Neptuno (Neptun-Projekt) versetzt die Umweltbewegungen in Alarmbereitschaft. „Sie wollen bei Arazatí im Departamento San José Wasser aus dem Río de la Plata entnehmen, um es in die Metropolregion Montevideo zu leiten“ berichtet Umpiérrez. Er betont, dass der Río de la Plata nicht nur einer der verschmutztesten Flüsse der Welt ist, sondern dass das Projekt auch unglaublich teuer ist. „Es heißt, dass es 300 Millionen Dollar kostet, aber im Endeffekt wird die uruguayische Bevölkerung bis zu 900 Millionen Doller zahlen müssen.“ Er bezeichnet das Projekt zudem als verfassungswidrig: Es verstoße gegen Artikel 47 der Verfassung, der besagt, dass die Trinkwasserversorgung Angelegenheit des Staates und der Zivilgesellschaft ist.

Zudem wird vor Buenos Aires ein Abwassersystem gebaut, welches die Abwässer der argentinischen Hauptstadtregion praktisch direkt in Richtung Arazatí leitet. „Das Wasser wird also von extrem schlechter Qualität sein. Außerdem lassen sich so nur 25 Prozent des Wassers gewinnen, das nötig ist, um die Metropolregion zu versorgen“, warnt Marcos. Die OSE (Obras Sanitarias del Estado, öffentliche Firma, die das Monopol der Trinkwassererzeugung hat, d. Red.) sei völlig unterfinanziert und verliere zudem über die Hälfte des von ihnen produzierten Trinkwassers. Und dennoch: „Die Entscheidung fällt zugunsten dieses Projekts, anstatt die strukturellen Probleme der Trinkwasserversorgung zu lösen. Dafür wären etwa 400 Millionen Dollar nötig.“

Angesichts des Regierungswechsels hofft Marcos, dass der Artikel 47 der Verfassung respektiert wird. Doch weder in den Jahren der Regierung der Frente Amplio noch unter der rechten Koalitionsregierung wurde anerkannt, dass Wasser ein fundamentales Menschenrecht ist und der Umgang mit diesen Gemeingütern in Abstimmung mit der Zivilgesellschaft reguliert werden soll. „Wir hoffen, dass die neue Regierung der Frente Amplio die Verfassung respektiert und den Kollektiven und der Wissenschaft zuhört. Sie sollen das Wasser verteidigen, aber wir wissen, dass dies nicht geschehen wird.“ Danach sieht es jedoch nicht aus: Bei Redaktionsschluss wurde bekannt, dass die noch bis 1. März amtierende Regierung von Luis Lacalle Pou den Vertag zum Bau des Proyecto Neptuno unterschreiben hat.


Hola!

Wenn Dir gefällt, was du hier liest, dann unterstütze unsere ehrenamtliche Redaktion doch mit einem Abo! Das gibt's schon ab 29,50 Euro im Jahr. Oder lass uns eine Spende da! Egal ob einmalig 5 Euro oder eine monatliche Dauerspende – alles hilft, die LN weiter zu erhalten, Gracias ❤️

Ähnliche Themen

Newsletter abonnieren