Salinas Grandes unter Druck
Kolla kämpfen im Norden Argentiniens gegen Lithiumunternehmen
Verónica Chávez öffnet einen kleinen Stoffbeutel. Sorgsam wählt sie Cocablätter aus und wirft sie aus dem Fenster des Beifahrersitzes. Einmal, zweimal, dreimal, bei voller Fahrt. „Für Pachamama, für Mütterchen Salinas”, murmelt sie dabei leise. Die Cocablätter landen auf der schneeweißen Salzkruste von Salinas Grandes. Weitere schiebt sich Chávez langsam in die rechte Backe, kaut auf ihnen herum und saugt schließlich ihren belebenden Saft.
Es ist August, die Indigenen Gemeinschaften des Andenhochlands feiern den Monat von „Mutter Erde“, der Pachamama. So auch die Kolla hier im Norden von Argentinien, die in unmittelbarer Umgebung des auf 3.450 Metern über dem Meeresspiegel liegenden Salzsees Salinas Grandes leben. Viele von ihnen arbeiten im Tourismus, ein Bereich, der in den vergangenen Jahren stark gewachsen ist. Andere bauen Salz in selbstgeführten Kooperativen ab, unter körperlich herausfordernden Bedingungen. Und sie kämpfen dagegen, dass Bergbauunternehmen mit der Produktion von Lithium in den Salzseen Salinas Grandes und Lagune Guayatayoc beginnen. Ihre Sorge: Das könnte ihnen die Lebensgrundlage entziehen.
Seit mehr als zehn Jahren sind die Gemeinden, die zur Senke Salinas Grandes gehören, organisiert, erzählt Verónica Chávez. Die 50-Jährige ist Vorsitzende des Dorfes Santuario Tres Pozos, das nordwestlich des Salzsees liegt. Sie ist klein gewachsen, ihre langen schwarzen Haare hat sie zu einem Pferdeschwanz gebunden, auf dem Kopf sitzt ein breiter Strohhut. Ihr rundliches Gesicht ist freundlich, auch wenn ihre Augen angriffslustig blinzeln.
Das mag zwar auch der erbarmungslos brennenden Sonne geschuldet sein, die sich auf der Salzkruste spiegelt. Doch die Angriffslust ist bitter nötig, denn in den vergangenen Jahren ist der Druck auf die Gemeinden der Umgebung stark gestiegen. Unter der Salzkruste von Salinas Grandes liegt Lithium. Der Rohstoff gilt als zentral für die sogenannte Energiewende, also die Anstrengungen des Globalen Nordens, fossile Energiequellen durch vermeintlich ökologische und nachhaltige Alternativen zu ersetzen. Insbesondere für den Bau von Elektrobatterien ist das leichteste Metall der Erde unabdingbar – und damit für die Elektromobilität ebenso wie für Smartphones, Laptops oder auch die Rüstungsindustrie.
Seit mehr als zehn Jahren sind die Gemeinden organisiert
Jujuy gehört zusammen mit den argentinischen Provinzen Salta und Catamarca sowie Teilen von Chile und Bolivien zum sogenannten Lithiumdreieck. Es wird geschätzt, dass dort mehr als die Hälfte der weltweiten Vorkommen des Leichtmetalls liegen. Auf Argentinien sollen die drittgrößten entfallen. Bis vor kurzem konnten die insgesamt 38 Gemeinden, die sich zur Senke von Salinas Grandes und der angrenzenden Lagune Guayatayoc zählen, das Eindringen von Lithiumunternehmen verhindern. Seit diesem Jahr ist es damit vorbei.
Am südlichen Rand von Salinas Grandes herrscht reger Betrieb. An einem Camp, das hier erst vor kurzem aus dem Boden gestampft wurde, rollen schwere Lastwagen vorbei. Pickups mit Angestellten einer privaten Sicherheitsfirma drehen ihre Runden. Die Stimmung ist bedrohlich. In der Ferne ist auf dem Salzsee ein Bohrturm zu sehen. Im März begann Lithos Minerales del Norte hier mit ersten Explorationsarbeiten. Dabei wird untersucht, unter welchen Bedingungen Lithium produziert werden kann. Wann es soweit ist, ist noch unklar.
Lithos gehört zur Gruppe Pan American Energy. Die befindet sich wiederum im Besitz der argentinischen Familie Bulgheroni, dem britischen Ölunternehmen BP und dem chinesischen Konzern CNOOC. Den Arbeiten vorausgegangen war eine vorherige Konsultation (Consulta Previa) in der angrenzenden Gemeinde Lipán, bei der eine Mehrheit der Befragten ihr Einverständnis zu den Arbeiten gab.
„Nie habe ich eine derartige Eskalation erlebt“
Doch das Unternehmen ist keineswegs nur auf dem Teil des Salzsees aktiv, der zu Lipán gehört. Chávez und andere Aktivist*innen beklagen, dass sich die Arbeiten auch auf die angrenzenden Gebiete von Ojo del Salar und Angosto erstrecken. Und auch die Consulta Previa sei unter merkwürdigen Umständen vonstatten gegangen, erzählt Chávez. So sei sie außerordentlich anberaumt worden, weshalb nicht alle Bewohner*innen hätten teilnehmen können. Außerdem seien wichtige Persönlichkeiten von Lipán „gekauft“ worden, darunter auch die frühere Bevollmächtigte der Gemeinde, die nun Abgeordnete sei. „Die anderen Leute hat sie hängen lassen“, zeigt sich die 50-Jährige enttäuscht.
Eigentlich haben alle 38 Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc verabredet, nur gemeinsam Entscheidungen zu möglichen Lithiumprojekten zu treffen. 2015 beschlossen sie das sogenannte Kachi Yupi, ein Protokoll, das konkrete Verfahren für vorherige Konsultationen formuliert. Diese stehen in Übereinstimmung mit der ILO-Konvention 169 der Internationalen Arbeitsorganisation. Sie gibt Indigenen Gemeinschaften das Recht, vorab befragt zu werden, wenn geplante Projekte zur Rohstoffausbeutung ihre Territorien betreffen. Auch Argentinien hat das Übereinkommen ratifiziert.
Besonders die große Menge an Wasser, die für die Produktion von Lithium benötigt werden, macht den Gemeinschaften von Salinas Grandes Sorgen. Befürworter*innen der Lithiumindustrie erklären zwar, dass vor allem Sole, also extrem salzhaltiges Wasser, für die Gewinnung des Leichtmetalls verwendet würden. Chávez geht jedoch davon aus, dass es sich bei rund 20 Prozent der benötigten Mengen um Süßwasser handeln würde. „Wasser bewegt sich. Es fließt unterirdisch und kennt keine Grenzen“, gibt die Aktivistin zu bedenken. Die Befragung einzelner Gemeinden mache also keinen Sinn, da das Wasser der Senke allen der rund 7.000 Bewohner*innen gehöre, die in unmittelbarer Umgebung von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc leben. „Wir wollen das Wasser bewahren und in Ruhe gelassen werden, um weiter so leben zu können, wie es schon unsere Großeltern getan haben“, sagt Chávez energisch.
„Denen, die wirklich hier leben, hören sie nicht zu.“
Doch die Unternehmen, die an den Lithiumvorkommen der Region interessiert sind, finden zuletzt immer häufiger Wege, die Gemeinschaft gegeneinander auszuspielen. Lipán war nur die erste Gemeinde, die offiziell einem Projekt zustimmte. Ebenfalls im vergangenen Jahr unterstützten Sauzalito y Quera und Aguas Calientes den Start von Explorationsarbeiten in der Lagune Guayatayoc – noch haben diese nicht begonnen. Ende Juni dieses Jahres stimmten – so die Angaben von Tecpetrol, einem Erdölunternehmen, das zum italienisch-argentinischen Multi Techint gehört – die Bewohner*innen von Rinconadillas einem Projekt in derselben Lagune zu. Für Chávez ist klar: „Sie spalten uns.“ Ebenso wie in Lipán seien bei der Consulta Previa in Rinconadillas nur einige Familien und nicht die gesamte Gemeinschaft befragt worden. Bei diesen habe es sich, zeigt sich die Aktivistin überzeugt, um die gehandelt, die gar nicht in der Gemeinde, sondern beispielsweise in der Provinzhauptstadt San Salvador de Jujuy lebten. „Denen, die wirklich hier leben, hören sie nicht zu.“
Der Parador Santuario Tres Pozos dient als Eingang für Tourist*innen zum Salzsee. Kommt ein Reisebus an, wird die Stille kurz durchbrochen und die Ankommenden werden begrüßt durch ein riesiges Lama aus Salz, Sitzgelegenheiten aus Salzblöcken, Ständen mit Empanadas und den für die Region typischen Mehlfladen Tortillas. Im Hintergrund ragen in großer Zahl Holzschilder aus der schneeweißen Landschaft, auf denen der Schutz des Wassers gefordert und Lithiumprojekten eine Absage erteilt wird. Die Ablehnung gegen den Lithiumabbau scheint hier Konsens zu sein.
Die klare Haltung ist Resultat des langen Kampfes der Indigenen Gemeinschaften. Chávez erzählt: „Im Jahr 2010 tauchten die ersten Unternehmen auf.” Sie und andere hätten damals zunächst in einer Enzyklopädie nachgeschlagen, was es mit dem Lithium auf sich habe. Als sie sich gegen den Bergbau aussprachen, sei versucht worden, sie zu kaufen. „Aber ich habe ihnen gesagt, dass ich die Interessen der zukünftigen Generationen niemals mit Füßen treten werde.“ Heute sei die absolute Mehrheit gegen Lithiumprojekte.
Alicia Chalebe vertritt die Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc seit ihren ersten Aktionen gegen die Lithiumunternehmen als Anwältin. Neben Straßenblockaden und Demonstrationen setzen sie auch auf rechtliche Schritte, um ihre Interessen durchzusetzen. Eine Klage vor dem Obersten Gerichtshof Argentiniens wurde 2012 abgewiesen und an die Gerichte der Provinzen verwiesen. Daraufhin brachten die Gemeinschaften ihren Fall vor den Interamerikanischen Gerichtshof.
Besonders in den vergangenen Jahren sei „der Druck durch die Bergbauunternehmen enorm gestiegen“, gibt Chalebe zu bedenken. Einen „Wendepunkt“ sieht sie dabei auch in der Änderung der Verfassung der Provinz Jujuy, die Ende Juni 2023 vom damaligen Gouverneur Gerardo Morales durchgesetzt wurde. Sie schränkt das Demonstrationsrecht drastisch ein, indem Straßenblockaden verboten werden und erleichtert die Vertreibung von Gemeinschaften in Gebieten, in denen es Lithium und andere Rohstoffe gibt. Von beiden Neuerungen sind besonders Indigene betroffen. Proteste gegen die Verfassungsänderung, bei denen gerade auch die Indigenen Gemeinschaften eine zentrale Rolle spielten, ließ die Regionalregierung brutal niederschlagen. Unter dem Namen Tercer Malón de la Paz marschierten Indigene Vertreter*innen in die über 1.500 Kilometer entfernte Hauptstadt Buenos Aires.
„Nie in den rund 35 Jahren, die ich meinen Beruf ausübe, habe ich eine derartige Eskalation erlebt“, zeigt sich Chalabe noch heute erschüttert über den Umgang der Provinzregierung mit den Protestierenden. Davon sei das Zeichen ausgegangen: „Wir setzen auf Konfrontation.“ Das könne sich in Zukunft durchaus noch als Problem für die Regierung herausstellen, glaubt die Anwältin. Denn: Lithiumunternehmen investieren lieber in Regionen, in denen es keine Konflikte gibt. „Sie sind nicht dumm. Niemand will sich Probleme kaufen.“
Der Druck dürfte durch neue Gesetze noch zunehmen
In Argentinien gehören die im Untergrund liegenden Rohstoffe seit 1994 den Provinzen und nicht dem Nationalstaat. Trotzdem hat auch die neue argentinische Regierung, die vom Ultralibertären Javier Milei angeführt wird, durchaus Folgen für die Indigenen Gemeinschaften von Jujuy. Milei, der auf eine verstärkte Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch ausländische Investoren setzt, brachte im Juni das Gesetzespaket Ley Bases durch das Parlament – der erste Erfolg seit seinem Amtsantritt am 10. Dezember 2023. Teil dessen ist das „Anreizsystem für Großinvestitionen“ (RIGI), mit dem ausländisches Kapital durch erhebliche Steuervorteile, laxe Auflagen für den Umweltschutz und andere Privilegien dazu gebracht werden sollen, in Argentinien zu investieren.
Ziel sei es, so Luis Lucero, Bergbauminister der argentinischen Regierung, im August gegenüber Reuters, Lithium zum „meistexportierten Mineral des Landes“ zu machen. Bereits im vergangenen Jahr steigerte Argentinien die Produktion um 45 Prozent. Obwohl der Weltmarktpreis für Lithium zurückging, wurden Exporte im Wert von fast 850 Millionen US-Dollar getätigt. Für 2024 wird geschätzt, dass rund 70.000 Tonnen produziert werden können, was eine Steigerung von 40 Prozent gegenüber 2023 bedeuten würde.
Der Druck auf die Gemeinden von Salinas Grandes und der Lagune Guayatayoc dürfte also noch zunehmen. Ans Aufgeben denkt Verónica Chávez trotzdem nicht. „Ich habe vor nichts Angst, weil ich für eine gute Sache streite“, sagt sie kämpferisch. Und sie habe weiter die Hoffnung, dass es eine Lösung gebe. „Dabei werde ich von meinen Vorfahren, den Apus, unserer Mutter Erde und der Mutter Salinas unterstützt. Sie geben mir Kraft.“ Ihre Augen blinzeln angriffslustig, während sie sich neue Cocablätter in die Backe schiebt.
Frederic Schnatterer ist freier Journalist und war gerade für drei Monate in Argentinien.