Sandinos Erben in der Krise
Ein Jahr Ortega bringt keine Abkehr vom Neoliberalismus
Die Armen an die Macht! Kaum ein Ort in Nicaragua, in dem kein großflächiges Plakat den sandinistischen Präsidenten Daniel Ortega mit diesem oder ähnlichen Slogans zeigt, der Ex-comandante reckt dazu die Faust in revolutionärer Geste empor. An linker Symbolik fehlt es nicht im Lande, das nach Haiti das zweitärmste des amerikanischen Kontinentes ist. Was fehlt, sind andere Dinge: Die Hälfte der Bevölkerung ist arm – auf dem Land sind es sogar 70 Prozent. Fast 15 Prozent aller NicaraguanerInnen leben in extremer Armut und 80 Prozent der Erwachsenen müssen mit weniger als zwei US-Dollar am Tag auskommen. Daran hat sich auch im ersten Jahr nach Ortegas Wahlsieg im November 2006 nichts geändert.
Eine wichtige Basis findet seine Regierung bei den Armen in Stadt und Land, die fest daran glauben, dass sich die Dinge noch zum Besseren wenden werden. Dieses Mal soll das ohne Revolution glücken: Ortega setzt heute auf einen „friedlichen Wandel von innen“. Etwa 38 Prozent der WählerInnen stimmten für diese Option, darunter viele junge Menschen. Sie waren der korrupten neoliberalen Elite überdrüssig, die 16 Jahre lang die Geschicke des Landes gelenkt hatte. Ein knappes Vierteljahrhundert nach seiner letzten Wahl zum Präsidenten und nach vier vergeblichen Versuchen konnte Ortega nun die lang ersehnte Macht zurückgewinnen, auch wenn er dafür Teil desselben Systems werden musste.
„Ortega bricht nicht mit der Politik der Neoliberalen. Im Gegenteil: Er hat sogar Teile der korrupten Kaste ins Boot geholt“, konstatiert bitter Alberto Cortés. Der aus Managua stammende linke Politologe lehrt an der Universität im Nachbarland Costa Rica. Cortés steht dem Movimiento Rescate nahe, der Bewegung zur Rettung des Sandinismus. Diese Strömung um den Ex-Guerillakommandanten Henry Ruiz und die Intellektuelle Monica Baltodano sieht sich in der Tradition des revolutionären Sandinismus und trennte sich vor drei Jahren von der Sandinistischen Front der Nationalen Befreiung FSLN ab. Diese hatte sich zuvor unter Ortegas Führung mit dem erzkonservativen Kardinal Manuel Obando y Bravo und dem ehemaligen Anführer der von der CIA finanzierten Contra-Rebellen Jaime Morales Carazo, dem heutigen Vize-Präsidenten, verbündet. Bei den Wahlen 2006 kandidierten die Rescate-SandinistInnen gemeinsam mit der sozialdemokratischen Bewegung zur Erneuerung des Sandinismus, MRS, die sich 1995 von der FSLN abgespalten hatte – und scheiterten mit 6,4 Prozent kläglich.
Noch unübersichtlicher wird die Lage in Nicaragua dadurch, dass die Abgeordneten von MRS und Movimiento Rescate sich im Parlament mit der bürgerlichen Mehrheit zusammen geschlossen haben, mit Kräften also, die zum Teil offen die gestürzte Somoza-Diktatur zurückwünschen. Dieser Oppositionsblock zählt 52 der insgesamt 92 ParlamentarierInnen und zwingt Daniel Ortega, per Sonderdekret zu regieren. Aber nicht nur alte Gallionsfiguren der SandinistInnen, wie der berühmte Befreiungstheologe und ehemalige Kulturminister Ernesto Cardenal, haben mit Ortega gebrochen. Die Mehrheit der sozialen Bewegungen, Dachverbände der Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, Frauengruppen und Nichtregierungsorganisationen – allesamt klassische Verbündete einer Linksregierung – stehen ihm unversöhnlich gegenüber.
Sie werfen dem Staats- und Parteichef einen autoritären und caudillistischen Führungsstil vor. Als schlimmste Sünde gilt für die meisten aber die Abschaffung des Gesetzes für therapeutischen Schwangerschaftsabbruch, womit sich Nicaragua beim Thema Frauenrechte auf den Stand von vor 100 Jahren zurückkatapultiert hat. Um seine Allianz mit der katholischen Kirche und rechten DissidentInnen wie Jaime Morales Carazo zu besiegeln, hatte die FSLN-Fraktion vor der Präsidentschaftswahl der Einschränkung der Frauenrechte zugestimmt. Diese scheinbar opportunistische Positionierung wurde dann allerdings zur offiziellen Parteilinie. „Bei der Änderung des Gesetzes handelte es sich nicht um ein Kurzzeit-Manöver, bis heute weigert sich die FSLN, etwas daran zu ändern. Für fortschrittliche Frauenpolitik gibt es dort keinen Spielraum mehr. Im ersten Regierungsjahr sind deswegen beide Ministerinnen zurückgetreten“, sagt Martha Juárez, Sprecherin der Feministischen Bewegung Nicaraguas. Persönlich beteiligen sich Ortega – einst selbst des sexuellen Missbrauchs angeklagt – und seine Ehefrau Rosario Murillo zudem an der gerichtlichen Verfolgung von neun Feministinnen, welche die Abtreibung im Fall „Niña Rosa“, einem vergewaltigten neunjährigen Mädchen, unterstützten. „Der Staat tut nichts gegen frauenfeindliche Gewalt. Weder die Regierung, noch die Parlamentsfraktionen von FSLN, Liberalen und Konservativen. 2007 hat sich die Zahl der Frauen, die bei Sexualstraftaten ermordet wurde, verneunfacht. Die Polizei erfasste 62.322 frauenfeindliche Delikte. 54 Frauen wurden ermordet – die Mehrzahl von ihren Partnern – und weitere 82 starben aufgrund von Komplikationen in der Schwangerschaft“, listet Juárez auf. Von ungefähr komme das nicht, denn Ortega sei nicht nur eine strategische Allianz mit der erzkonservativen katholischen Kirche eingegangen, er festige deren Herrschaft nun strukturell.
Einen kleinen Erfolg konnte indes die Bewegung für die Rechte Homosexueller verbuchen: Im Zuge einer Strafrechtsreform der SandinistInnen wird die seit 1992 kriminalisierte gleichgeschlechtliche Sexualität ab März 2008 wieder straffrei gestellt sein.
Heftige Auseinandersetzungen liefern sich indes GegnerInnen und BefürworterInnen der so genannten Komitees der Bürgermacht, CPC, die auf Präsidentengeheiß in allen Gemeinden Nicaraguas als parallele Machstruktur zu den Kommunalverwaltungen eingeführt werden sollen. Mit einem eigenen Haushalt ausgestattet, ist es ihre Aufgabe, sich um kommunale Angelegenheiten zu kümmern, außerdem sollen sie national vernetzt werden. Die ersten dieser Komitees haben bereits im Sommer ihre Arbeit aufgenommen, auch wenn die rechtlichen Auseinandersetzungen über diese von den WählerInnen nicht legitimierten Instanzen anhalten. Nachdem Ortega die Bürgerkomitees als „Elemente der direkten Volksdemokratie“ ins Leben gerufen hatte, stimmte der Mehrheitsblock der 52 im Parlament dagegen, der Präsident kassierte das Votum per Sonderdekret und ließ dies vom FSLN-treuen Verfassungsgericht bestätigen. Die Argumente gegen die Komitees sind unterschiedlich, viele Liberale und Konservative halten sie nicht nur für verfassungswidrig, sie fürchten, den Armen werde zuviel Macht gegeben. Andere KritikerInnen betonen, die Komitees dienten der Festigung der Herrschaft des Ortega-Sandinismus, denn nur linientreue FSLN-Mitglieder könnten dort Positionen übernehmen. Zu allem Überfluss habe First Lady Rosario Murillo die Oberaufsicht. „Die einzige Frau, die im Land etwas zu sagen hat, wurde von niemandem demokratisch gewählt“, bemerkt Feministin Martha Juárez.
Am 30. November wurden die CPCs offiziell ins Leben gerufen. Auf einer Veranstaltung in der Hauptstadt Managua betonte Ortega, die Komitees stünden allen offen. „Niemand fragt, welcher Partei oder Religion du angehörst. Man fragt dich nur, ob du dein Christentum leben möchtest und deinen Nachbarn lieben willst wie dich selbst“, sagte der Staatschef. Anwesende Komiteemitglieder aus vielen Regionen des Landes bestätigten diese Aussage. Zum Beispiel meinte ein Basisaktivist aus Managua dazu: „Ich bin kein Sandinist, arbeite aber in einem CPC mit. Die Komitees helfen, Menschen verschiedener Ideologien zusammen zu bringen“.
Weiteres Herzstück der Regierung Ortega ist das Programm Hambre Zero („Null Hunger“), das sich an Vorbildern in Brasilien, El Salvador und Mexiko orientiert. In den fünf Jahren der Legislativperiode sollen bis zu 150 Millionen US-Dollar ausgegeben werden, um 75.000 Familien aus der Armut zu führen. Im Rahmen des Hambre-Zero-Programms bietet die Regierung nicht nur Babynahrung und Schulspeisungen, sondern will armen Familien die nötigen Instrumente an die Hand geben, um eine unabhängige Existenz auf die Beine zu stellen: Kühe, Säue, Viehfutter, Zaundraht und Bauwerkzeuge. Dabei achte man darauf, Tiere und Sachgüter besonders an Frauen auszuhändigen, da diese umsichtiger seien, wenn es um den Aufbau von Familieneigentum gehe. „Der Ansatz ist sehr gut. Aber Ortega verweigert die Zusammenarbeit mit Nichtregierungsorganisationen, die helfen könnten, den Prozess beratend zu begleiten. Und ohne den begleitenden Beratungsprozess ist das Programm sehr wahrscheinlich zum Scheitern verurteilt“, sagt dazu Martha Juárez.
Auf internationaler Ebene hat die Regierung Ortega bisher keine eigenen Akzente gesetzt. Zu widersprüchlich sind dafür seine Positionen, wie der Politologe Alberto Cortés bemerkt: „Der Präsident fährt im Windschatten von Hugo Chávez, aber er formuliert kein eigenes Projekt, so wie es Evo Morales in Bolivien oder Rafael Correa in Ecuador tun. Es reicht nicht, den US-Imperialismus zu geißeln, zuhause aber das CAFTA-Freihandelsabkommen brav umzusetzen.“ Ortega hat nämlich zwar den Beitritt Nicaraguas zu ALBA, der von Chávez initiierten Bolivarischen Alternative der Amerikas, erklärt. Aber gleichzeitig ist das Land CAFTA-Staat, also Mitglied in dem von George W. Bush ins Leben gerufenen neoliberalen Freihandelsabkommen zwischen den USA, Mittelamerika und der Dominikanischen Republik. Im Parlament hatte die FSLN-Fraktion zwar gegen CAFTA gestimmt, sonst aber keine Schritte gegen einen Beitritt unternommen. KritikerInnen meinen, diese „passive Unterstützung“ habe der Bewegung gegen CAFTA in Nicaragua den Wind aus den Segeln genommen und dessen Ratifizierung überhaupt erst möglich gemacht. Wie in vielen Bereichen zeigen die FSLN und Ortega auch hier, dass sie ehemalige Grundhaltungen aufgeweicht haben, um sich so die Duldung ihrere ehemaligen KonkurrentInnen zu erkaufen.
Es gibt eine Kampagne gegen das totale Abtreibungsverbot sowie die Anklage der neun Feministinnen in Nicaragua. Mehr Informationen und Vordrucke unter: www.yodecidomivida.org